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Botond Roska vom FMI fokussiert seine Forschung auf degenerative Augenkrankheiten.

Publiziert am 01/06/2020

Als Kind fuhr Christina Fasser Ski, aber beim Tennis tat sie sich schwer. Auch im Dunkeln hatte sie Mühe, Dinge zu finden. «Ich dachte einfach, ich sei ungeschickt», sagt sie. «Ich bin nicht so gut wie die anderen.»

Dann kam die Nachricht. Im Alter von 13 Jahren wurde bei Fasser Retinitis pigmentosa diagnostiziert, eine degenerative Augenerkrankung, welche die Zellen der Netzhaut (Retina) schädigt. Für Fasser erklärte die Erkrankung vieles. Sie war nicht ungeschickt. Vielmehr war sie nachtblind, und für Ballsportarten fehlte es ihr am dreidimensionalen Sehen. «Wer mit einem eingeschränkten Gesichtsfeld geboren wird, hat keine Ahnung, was es bedeutet, einwandfrei zu sehen», sagt sie.

Gegen Fassers Retinitis pigmentosa gibt es keine wirksamen Therapien; dies gilt auch für andere vererbte Netzhauterkrankungen, bei denen die lichtempfindlichen Stäbchen und Zapfen der Netzhaut absterben, darunter die Lebersche kongenitale Amaurose und das Usher-Syndrom – ob-wohl klinische Studien im Gang sind. Gemäss Untersuchungen des Institut de la Vision in Paris leiden weltweit etwa zwei Millionen Menschen an diesen Erkrankungen und den lebenslimitierenden Behinderungen, die sie begleiten.

Eine Art Hacker des Sehvermögens

Dennoch gibt die Forschung Anlass zu neuer Hoffnung, insbesondere jene von Botond Roska, einem Neurobiologen am FMI in Basel, das mit den NIBR und der Universität Basel affiliiert ist.

Nach Abschluss des Medizinstudiums Mitte der neunziger Jahre beschlich Roska ein ungutes Gefühl. Als Arzt musste er seinen Patienten mitunter Therapien anbieten, die er nicht erklären konnte. «Das war nicht das, was ich wollte», sagt er. «Ich wollte verstehen.»

Deshalb setzte Roska seine Ausbildung fort. Vor dem Medizinstudium hatte er Mathematik studiert, und das Auge bot eine Möglichkeit, die beiden Gebiete zu verbinden. An der University of California in Berkeley machte er sich an die Erforschung der Netzhaut. «Botond stellt ganz unvoreingenommen Fragen. Obwohl er das Gebiet meisterhaft beherrscht, will er dieses Wissen zugunsten der Patienten weiter verbessern», sagt der Augenarzt José-Alain Sahel, Direktor des Institut de la Vision und langjähriger Forscherkollege Roskas.

Roska stellte fest, dass die Netzhaut – ein lichtempfindliches Gewebe, welches das Auge auskleidet – ein erstaunlich komplexer biologischer Computer ist. Deshalb ist er zu einer Art Hacker des Sehvermögens geworden und rekonstruiert die Netzhaut mit Methoden der Neurowissenschaft und der Genetik, um zu verstehen, wie sie funktioniert und wie erkrankungsbedingte Schäden behoben werden könnten.

Umlegen des Schalters

2005 begann er am FMI in seinem eigenen Labor zu arbeiten. FMI-Wissenschaftler konzentrieren sich auf die Grundlagenforschung, die nach Roskas Überzeugung für den Fortschritt unentbehrlich ist. «Man muss die verschiedenen Zelltypen und Berechnungen genau analysieren», sagt Roska. «Dieses Verständnis bietet Einblicke in mögliche Therapien.»

Die durchsichtige und nur einen halben Millimeter dicke Netzhaut enthält zehn Zellschichten, die einen komplexen Signalprozessor bilden. Dieser biologische Computer ist mit über 100 Millionen photorezeptorischer Stäbchen- und Zapfenzellen beschichtet, deren äussere Enden lichtempfindlich sind und die das Sehen ermöglichen. Schädigungen dieser Enden durch Erbkrankheiten wie Retinitis pigmentosa führen zur Erblindung.

Es hat sich jedoch gezeigt, dass ein molekularer Schalter das Wachstum dieser lichtempfindlichen äusseren Segmente der Zapfenzellen steuert. Botond Roska beschrieb die Entdeckung dieses Schalters – zwei kleine Moleküle, Mikro-RNAs, die Gene stumm schalten – 2014 in der Fachzeit-schrift «Neuron». Laut Roska haben die Mikro-RNAs selbst ein Therapiepotenzial, «aber zunächst geht es um etwas Einfacheres – ihre Verwendung zur Untersuchung von Krankheitsmechanismen».

Roskas Labor modelliert Erblindungskrankheiten mithilfe von Mäusen, obwohl sich die Netzhäute von Mäusen und Menschen deutlich unterscheiden. Mäusenetzhäuten fehlt beispielsweise die Fovea, eine winzige Region der menschlichen Netzhaut mit hoher Zapfendichte, die ein hochauflösendes Farbsehen ermöglicht. Auch einige genetische Erkrankungen, die beim Menschen zur Erblindung führen, verlaufen bei Mäusen anders.

«Wir brauchen menschliche Modelle», sagt Roska deshalb. Die erste menschliche Netzhaut aus der Petrischale, die 2014 in Japan aus menschlichen Stammzellen gezüchtet wurde, war ein entscheidender Fortschritt. Aber diese im Labor gezüchteten Netzhäute waren lichtunempfindlich. Deshalb fügte Roska seinen neu entdeckten Mikro-RNA-Schalter einer wachsenden In-vitro-Netzhaut bei. Die Zapfenzellen begannen sich zu verändern. Ihre äusseren Segmente begannen zu wachsen und zu funktionieren, und die Zellen reagierten auf Licht mit erhöhter Aktivität.

«Für uns war das erfreulich», sagt Roska. «Jetzt können wir in der Petrischale ein Krankheitsmodell für zahlreiche genetische Netzhauterkrankungen beim Menschen entwickeln.»

Ein lebendes Modell zum Lernen

Zuletzt widmete sich Roska der Entwicklung von In-vitro-Netzhautmodellen aus den Zellen von Patienten. Zusammen mit Mitarbeitenden in der Schweiz entnimmt Roska zunächst eine Hautprobe eines Menschen mit einer Genmutation, die mit einer Erkrankung wie Retinitis pigmentosa assoziiert ist. Mit den richtigen biochemischen Signalen werden diese Zellen in sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) zurückverwandelt, die zu den Bausteinen der In-vitro-Modellnetzhäute werden.

Weitere Signale, darunter Roskas Mikro-RNAs, veranlassen die iPS-Zellen, sich in verschiedene Typen von Netzhautzellen zu verwandeln und sich von selbst zu einer lebenden, lichtempfindlichen Modellnetzhaut zu entwickeln.

«Diese laborgezüchteten Netzhäute sind offenkundig keine Augen, aber sie enthalten manche Rudimente eines Auges, sodass wir viel aus ihnen lernen können», sagt Tewis Bouwmeester, Head Developmental and Molecular Pathways, NIBR, der zusammen mit Roska neue Modelle für Erblindungskrankheiten entwickelt. Das Projekt unterstützt die NIBR-Forschung an molekularen Signalwegen, welche die Organentwicklung steuern – und deren Fehlzündungen Krankheiten verursachen –, um neue Therapiemöglichkeiten zu finden, in diesem Fall für erbliche Ursachen von Erblindung.

Roska hofft, dass diese Krankheitsmodelle der In-vitro-Netzhaut demnächst Symptome aufweisen. «Die Behandlung ergibt sich, sobald wir die Erkrankung in vitro klar erkennen können und lernen, wie sie behandelt wird», sagt er.

Enge Zusammenarbeit zwischen FMI und NIBR

Dieses doppelte Bestreben zu verstehen und zu heilen, ist typisch für die Arbeit von Roska. «Er widmet sich voll und ganz der grundlegenden Entdeckung, versucht aber auch, dieses Wissen in die Behandlung von Erblindungskrankheiten einfliessen zu lassen», sagt Bouwmeester.

Bouwmeester arbeitet zusammen mit Roska an einer einfacheren Methode, um Erblindungskrankheiten in Stäbchen und Zapfen zu modellieren, die ohne die restliche Netzhaut gezüchtet werden. Weil die Laborzüchtung einer Netzhaut zeitraubend ist, wollen sie Zellkulturmodelle entwickeln, die sich schnell und effizient in grossen Mengen herstellen lassen.

Im Erfolgsfall könnten diese Zellmodelle daraufhin analysiert werden, welche Therapien krankheitsbedingte Schäden am besten beheben, und anschliessend aussichtsreiche Prüfmedikamente an einem realistischeren In-vitro-Netzhautmodell getestet werden.

Blick in die Zukunft

Roskas Fortschritte geben Fasser neue Hoffnung. «Seine Arbeit eröffnet ganz neue Wege zur Wiederherstellung des Sehvermögens», sagt sie.

Inzwischen völlig erblindet, ist Fasser auf moderne Technik angewiesen. Sie nutzt Text-to-speech-Programme zum Lesen, Lichtdetektoren, um ihr Zuhause für Besucher zu erhellen, und Farbsensoren, um Kleider auszuwählen und die Wäsche zu sortieren. Aber als Präsidentin der Interessengruppe Retina International seit über 20 Jahren hat sie höhere Ziele. «Heilung zu finden», sagt sie.

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