Altes Arzneimittel, neue Tricks
Schnellvorlauf zur klinischen Verwendung
Revolutionierende Medikamentenentdeckung
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Wissenschaft
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Ein neues Kapitel in der Medikamentenforschung

Von Zeit zu Zeit gibt es in der Arzneimittelforschung Sprünge, die völlig neue Wege für die Behandlung von Krankheiten eröffnen. So hat Novartis kürzlich einen Wirkstoffkandidaten entwickelt, der die Funktion zellulärer Entsorgungssysteme nutzt. Er gehört zu den ersten seiner Art, die in der Klinik erprobt werden. Erlaubt haben dies die wissenschaftlichen Möglichkeiten des Fachgebiets der chemischen Biologie.

Text von K.E.D. Coan, Fotos von Andy Kwok

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Die Synthese einer Verbindung ist nur ein erster Schritt. Neu entstandene Verbindungen müssen mit einer breiten Palette leistungsfähiger Instrumente wie der NMR-Bildgebung untersucht werden.

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Publiziert am 05/12/2022

In der Geschichte der Medizin gibt es nur selten Medikamente, die auf einem völlig neuen Wirkmechanismus aufbauen. Aber genau diese Möglichkeit eröffnete sich vor einigen Jahren, als bei einem alten Arzneimittel eine zufällige Entdeckung gemacht wurde.

Seitdem liefern sich Forscher auf der ganzen Welt einen Wettlauf um die Entwicklung neuer Medikamente, die diesen neuen Mechanismus für sich nutzen – ein Rennen, das ein Wissenschaftlerteam von Novartis möglicherweise für sich entscheiden wird.

Die Wirkungsweise dieses kleinmolekularen Wirkstoffs besteht darin, dass es ein Krebs auslösendes Protein in das Entsorgungssystem der Zelle schickt, wo es dann zerstört wird. Diese Strategie, der sogenannte gezielte Proteinabbau, wurde bereits Ende der 1990er-Jahre vorgeschlagen und bei Novartis beschleunigt, als Jay Bradner 2016 zum Unternehmen stiess.

Das Verfahren könnte eine Forschungsrevolution auslösen, weil es die Möglichkeit bietet, jedes krankheitsauslösende Protein gezielt zu eliminieren. Eine Vielzahl solcher Proteine liess sich bislang nicht bekämpfen. Darüber hinaus bietet das Verfahren einen Weg, die Arzneimittelforschung von Grund auf neu zu konzipieren.

Die Chemie nutzen, um die Biologie zu verstehen

«Das Versprechen der chemischen Biologie besteht darin, dass wir uns nicht scheuen, das vermeintlich Unmögliche anzugehen», sagt Ulrich Schopfer, Leiter von Chemical Biology and Therapeutics bei NIBR in Basel. «Wir erforschen die molekularen Details der Biologie und der menschlichen Erkrankungen, um neue Ziele und Arzneimittelkandidaten zu entdecken.»

Im Rahmen der chemischen Biologie arbeitet eine ganze Reihe spezialisierter Wissenschaftler zusammen, um Testmoleküle zu entwickeln, die ihnen neue Erkenntnisse und eine bessere Kontrolle über Proteinaktivitäten liefern.

Strukturbiologen nutzen Methoden wie Röntgenkristallographie und Kryo-Elektronenmikroskopie, um die Form dieser Proteine zu enthüllen. Medizinchemiker entwerfen ihrerseits eine Vielzahl von Molekülen mit unterschied­lichem Bindungsverhalten, bis sie die beste Passform finden – und möglicherweise den Ausgangspunkt für die Arzneimitteloptimierung.

Während sich viele Bemühungen in der Arzneimittelentwicklung auf Moleküle konzentrieren, die Proteine abschalten, indem sie wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch passen und so die Bindungstaschen der Proteine blockieren, erfordert die relativ neue Strategie des gezielten Proteinabbaus einen noch anspruchsvolleren Ansatz.

Statt an ein Protein müssen die kleinen chemischen Moleküle an zwei Proteine binden: an das krankheitsauslösende Protein, das die Forscher abbauen wollen, und an das Protein, das den Abbauprozess in Gang setzt.

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Von Rohbausteinen zu potenziellen Arzneimitteln: Die Wissenschaftler der Abteilung Chemische Biologie führen die sorgfältige chemische Arbeit durch, die es zur Entwicklung von Verbindungen mit therapeutischem Potenzial braucht.

Al­tes Arz­nei­mit­tel, neue Tricks

2010 führte ein japanisches Team ein Experiment durch, um den Mechanismus von Thalidomid zu verstehen – einem Medikament, das seit den 1950er-Jahren in unterschiedlichen Indikationen verwendet wurde, auch bei Krebs.

Die Forscher fanden heraus, dass Thalidomid und seine Derivate Brücken bauen, welche bestimmte krebserregende Proteine mit Proteinkomplexen verbinden, die sie dann weiter zur Zellentsorgungsmaschinerie schicken.

Das war an sich schon ein spannendes Ergebnis, aber noch überraschender war die Tatsache, dass Thalidomid Brücken mit sogenannten Transkriptionsfaktoren baut.

Die Transkriptionsfaktoren spielen eine Schlüsselrolle bei Krankheiten, insbesondere bei Krebserkrankungen. Jeder Mensch verfügt über 1600 verschiedene Transkriptionsfaktoren. Aber diese Proteine waren bislang für die herkömmliche Arzneimittelforschung weitgehend unbedeutend: Sie sprechen sehr schwer an, weil sie über keine Bindungstaschen verfügen. Im Fachjargon wurden diese Proteine oft als «undruggable» beschrieben.

2014 fügten sich weitere Puzzleteile zusammen, als Nico Thomä, Senior Group Leader am Friedrich-Miescher-Institut in Basel, zeigen konnte, wie Thalidomid es bewerkstelligt, den Abbauprozess in Gang zu setzen.

Im Anschluss an diese Entdeckung schlugen 2015 zwei Novartis-Wissenschaftler in Cambridge, der Chemiker Rohan Beckwith und der Biologe Jonathan Solomon, den Start eines Projekts vor, um die Erkenntnisse rund um Thalidomid weiter zu erforschen.

«Das Projekt war wie die Verkörperung der chemischen Biologie», beschreibt Jonathan Solomon den technischen Umfang des Projekts. «Wir haben mit einem kleinen Molekül zwei Proteine zusammengebracht, in der Hoffnung, dass dies eine biologische Veränderung – in diesem Fall den Proteinabbau – bewirken wird.»

Bald nachdem Beckwith und Solomon ihre Arbeit aufgenommen hatten, suchten sie nach zusätzlichen Proteinen – und damit nach Krankheiten –, die sie mit dieser neuen Strategie als Ziel verwenden konnten. Dies führte zum Transkriptionsfaktor-Zielmolekül Helios, auf das auch die Immuno-Onkologie-Gruppe von NIBR aufmerksam geworden war.

Als Beckwith und Solomon ihre Ideen mit der Immuno-Onkologie-Gruppe austauschten, erkannten beide Teams sofort, dass ihre Zusammenarbeit eine interessante Chance darstellen könnte, einen neuen Ansatz der Wirkstoffentdeckung auf ein Ziel mit dem Potenzial anzuwenden, Patienten mit unterschiedlichsten Krebserkrankungen zu helfen.

«Das Interesse der Immuno-Onkologie-Gruppe war sehr gross und brachte das Programm so richtig voran», sagt Eva d’Hennezel, die als Senior Principal Scientist in Immuno-Onkologie an dem Projekt teilnahm.

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Schnell­vor­lauf zur kli­ni­schen Ver­wen­dung

Mit Unterstützung der Immuno-Onkologie-Gruppe und von Global Discovery Chemistry wurde das Projekt im Sommer 2016 offiziell gestartet.

«Es war eine wirklich aufregende Zeit, denn mit jedem Experiment lernten wir im Grunde einen neuen erstaunlichen Sachverhalt über diese Proteinabbaumoleküle. Es war eine Zeit der rasanten Erforschung und des rasanten Wachstums», erinnert sich Jonathan Solomon.

Im Frühjahr 2017 identifizierte das Team die ersten potenten Moleküle, von denen eines zum möglichen klinischen Kandidaten wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Projekt vollständig von der Gruppe für chemische Biologie auf die Immuno-Onkologie-Gruppe und Global Discovery Chemistry übertragen, welche die Arbeit an der Weiterentwicklung von Kandidaten zur klinischen Anwendung und die Entwicklung alternativer Proteinabbaumoleküle übernahmen.

Dank der engen Zusammenarbeit und Ausrichtung über alle Funktionen hinweg konnte der Wirkstoffkandidat in etwa zwei Jahren in die Klinik gebracht werden – eine Rekordzeit in Sachen Arzneimittelentdeckung.

«Es ist ganz erstaunlich, wie gut die Bündelung des multidisziplinären Know-hows aller am Projekt beteiligten Linienfunktionen und die Entwicklung eines Wirkstoffkandidaten mit den entsprechenden Wirksamkeits- und Sicherheitseigenschaften gelungen sind», sagt Simone Bonazzi, einer der leitenden Chemiker des Teams. «Es fühlte sich an, als wären wir die Speerspitze, die das gesamte NIBR-Team umfasste, und alle standen hinter uns.»

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Der biologische Effekt jedes Wirkstoffkandidaten muss genauestens untersucht werden. Daraus resultierende Erkenntnisse bilden eine wichtige Rückkopplungsschleife für die kontinuierliche Verbesserung der experimentellen Medikamente.

Re­vo­lu­tio­nie­ren­de Me­di­ka­men­ten­ent­de­ckung

In der Zwischenzeit zeigte das neue Molekül eine hohe Effizienz in präklinischen Modellen. Einer der Faktoren für die erfolgreiche Entdeckung des selektiven Helios-Degraders und für dessen Effizienz war der Fokus auf die Suche nach einem biologischen Schlüsselschritt im Prozess.

«Weltweit wurde explosionsartig ähnliche Forschung betrieben, doch wir haben erkannt, dass andere oft nur den letzten Prozessschritt betrachten – den Abbau des Proteins», so Simone Bonazzi. «Bei NIBR verfolgten wir einen anderen Ansatz und beobachteten auch die vorausgehenden Schritte des Prozesses, was uns ermöglichte, einige vielversprechende Ausgangspunkte für die Molekül-Optimierung zu identifizieren.»

Während die laufende klinische Studie darauf abzielt, erste Erkenntnisse über den potenziellen Nutzen für Patienten und Patientinnen mit fortgeschrittenen soliden Tumoren zu sammeln, sind die Forscher überzeugt, dass der gezielte Proteinabbau eine grosse Zukunft hat und die jüngsten Bemühungen, eine umfassende Plattform zu schaffen, die Grundlage für viele neue gezielte Proteinabbauprogramme innerhalb von NIBR bilden werden.

«Der gezielte Proteinabbau hat die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit kleiner Moleküle verändert», sagt Bill Forrester, globaler Co-Leiter der Targeted Protein Degradation Initiative. «Die aus dem Helios-Projekt gezogenen Lehren haben zu substanziellen Strategieverschiebungen und zu einem völlig neuen Verständnis davon geführt, wie die chemische Biologie die Wirkstoffforschung durch neue Stossrichtungen hin zu kritischen Zielen revolutionieren kann, die bis vor Kurzem noch als unerreichbar galten.»

Für Ulrich Schopfer ist die Erfolgsgeschichte mit Helios auch ein weiterer Validierungspunkt für die chemische Biologie.

«Das Konzept der chemischen Biologie entstand aus der Erkenntnis, dass die Chemie ein nützliches Instrument sein könnte, um die Biologie zu verstehen», erklärt Schopfer. «Sie hat sich in den letzten drei Jahrzehnten als enorm leistungsfähig erwiesen. Sie hat Forschern die Möglichkeit gegeben, die Biologie auf molekularer und sogar auf atomarer Ebene zu verstehen – ein grundlegender Ausgangspunkt für die Wirkstoffentdeckung. Die chemische Biologie spielt weiterhin eine eminente Rolle bei der Wirkstoffentdeckung und hat das Potenzial, die Geschichte der Wirkstoffentwicklung neu zu schreiben.»

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