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In den vergangenen zehn Jahren ist es zu einer Art Ritual geworden. Jeden zweiten Samstagnachmittag steigt Shinsuke Muto in Tokio in den Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, um drei Tage lang für Patientenbesuche in die Küstenstadt Ishinomaki zu reisen. Dort wartet ein Auto voller lebenswichtiger Medikamente auf ihn, mit dem er sich auf den Weg zu Hausbesuchen bei seinen Patienten macht. Ohne Dr. Muto und die Unterstützung seiner Klinik in der Präfektur Miyagi, die 2011 von einem verheerenden Tsunami heimgesucht wurde, hätten viele Menschen nur beschränkten Zugang zur medizinischen Versorgung.
Da ist beispielsweise Michiko Oshima, eine 82-jährige Patientin mit einer langen Vorgeschichte an Herzerkrankungen. «Bei ihrer Versorgung geht es mir nicht nur um die rein medizinische Behandlung, die sie braucht», führt Muto aus. «Ich geniesse auch den Kontakt mit ihr», fügt er hinzu, was übrigens auch für seine anderen Patientinnen und Patienten gilt.
Während er sich über Frau Oshima beugt, um ihren Puls zu messen, gehen die beiden miteinander um wie enge Freunde oder Familienmitglieder. Man spürt das enge Verhältnis zwischen Arzt und Patientin und den Trost, den Muto spendet, indem er einfach da ist und sich erkundigt, wie es ihr geht.
Dieser Umgang mit den Patienten ist fester Bestandteil der Arbeit von Dr. Muto. Doch es geht um mehr als nur die regelmässigen ärztlichen Untersuchungen. Denn es kommen auch die neuesten digitalen Technologien zum Einsatz, die es Muto und Pharmaunternehmen wie Novartis ermöglichen, die bestmögliche Patientenversorgung zu gewährleisten.

Ein Kindheitstraum
Für Muto, Gründer des Kliniknetzwerks Tetsuyu Institute Medical Corporation mit neun Zentren in ganz Japan und Verwaltungsratspräsident von Integrity Healthcare, einem führenden Telemedizin-Unternehmen im Land, spiegeln die Patientenbesuche sein Ideal einer empathischen Medizin wider. Darüber hinaus – und für den zufälligen Beobachter nicht sichtbar – sind die persönlichen Kontakte auch ein Zeichen für seinen Ehrgeiz, das japanische Gesundheitssystem zu verändern, indem er die klassische häusliche Pflege mit digitaler Technologie verbindet. Es ist etwas, wovon er schon lange träumt.
«Bereits im Alter von sechs Jahren war mir klar, dass ich Arzt werden wollte», erzählt mir Muto bei unserem ersten Gespräch im August 2023. «Inspiriert hat mich vor allem Hideyo Noguchi, ein japanischer Arzt, der ein Pionier war und die Welt bereiste, um Krankheiten zu verstehen und Heilmittel zu finden.»
Nach Beendigung der Schulzeit beschloss Muto, Kardiologe zu werden. Als er zu praktizieren begann, verflog sein Enthusiasmus allerdings schnell, weil er feststellen musste, dass es im Berufsalltag eines Arztes oft darum ging, Organe zu behandeln, statt dass er sich wie sein Vorbild Noguchi ganzheitlich um die Patienten kümmern konnte.
«Ich wollte mehr tun und fühlte immer noch die Inspiration aus meiner Jugend, Leben zu retten», sagt Muto. «Doch anfangs fand ich kaum Gelegenheit, das zu tun, was ich wirklich wollte, da das Gesundheitssystem die Ärzte zwang, sich weniger auf die persönliche Betreuung zu konzentrieren.» Während Muto sich bemühte, seinen Platz zu finden, schlug ihm ein Kollege vor, bei der Unternehmensberatung McKinsey einzusteigen, wo er mehr Einfluss auf das Gesundheitswesen nehmen könne. Dort genoss er anfänglich die Zeit als um die Welt reisender Berater, vermisste aber bald seine eigentliche Berufung.
«Zu McKinsey trieb mich der Wunsch, von einer höheren Warte aus beurteilen zu können, wie man Veränderungen vor Ort bewirken kann», erläutert Muto seine Motivation, nicht mehr als Arzt zu praktizieren. «Obwohl ich das Reisen als Berater sehr genoss, fehlte mir aber dann doch der Kontakt zu den Patienten.»
So kam er auf die Idee, sich selbstständig zu machen und ein Kliniknetzwerk zu gründen. Es sollte ihm ermöglichen, die Gesundheitsversorgung auf struktureller Ebene zu verbessern, den engen Kontakt zu den Patienten zu behalten und sein ursprüngliches Ziel, Patientenleben zu retten, zu verfolgen.
Arzt in einem digitalen Land
Aber auch das war ihm nicht genug. 2009 brachte Muto seine Fähigkeiten und Erfahrungen bei McKinsey zur Gründung von Integrity Healthcare ein, das sich mittlerweile zu Japans führendem Telemedizin-Unternehmen entwickelt hat und medizinische Einrichtungen im ganzen Land beliefert. Integrity Healthcare hat unter anderem die App YaDoc entwickelt, die eine schnelle Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten beispielsweise über Video ermöglicht. Darüber hinaus bietet die App Lösungen für ein effizientes Monitoring und für die Erfassung von Patientendaten.
Mutos Weg führte zur Entwicklung innovativer digitaler Lösungen wie der YaDoc-App, die die traditionelle häusliche Pflege mit moderner Technologie verbindet und so das Patientenerlebnis verbessert.
«Unser System ermöglicht es uns, Patientendaten aus der Ferne zu erfassen und den Ärzten zur Verfügung zu stellen, damit sie sich ein möglichst genaues und aktuelles Bild des Patienten machen können», erläutert Muto. «Dank dieser tollen Funktion können die Ärzte sofort mit ihren Patienten interagieren.» Das schnelle Wachstum von Integrity Healthcare, das heute Dienstleistungen für mehr als 4000 medizinische Einrichtungen erbringt, spiegelt nicht nur die wachsenden Bedürfnisse der Patienten wider, sondern auch Japans tiefes Interesse an digitalen Technologien im Allgemeinen.
Dieses Interesse geht auch auf ein Ereignis vor mehr als einem Jahrhundert zurück, als in Japan der erste Roboter gebaut wurde, und zwar als Antwort auf das dystopische Theaterstück R.U.R. von Karl Čapek aus dem Jahr 1926. In diesem Stück üben androide Sklaven den Aufstand gegen ihre Schöpfer und vernichten schliesslich die Menschheit.
Im Gegensatz dazu ist der japanische Roboter namens Gakutensoku, was so viel wie «von den Naturgesetzen lernen» bedeutet, eine hilfreiche Kreatur, die seine Schöpfer unterstützt und ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt. Der Roboter, der 1928 der japanischen Öffentlichkeit vorgestellt wurde, übte auf das Publikum eine grosse Faszination aus. Seitdem nimmt man in Japan neue Technologien mit einer Begeisterung auf, wie man sie nirgendwo sonst kennt. Seien es die Tamagotchis, die vor zehn Jahren einen Hype auslösten, oder Roboter in Restaurants und Pflegeheimen, die in ganz Japan immer häufiger zum Einsatz kommen.


Vor diesem kulturellen Hintergrund haben laut Muto selbst ältere Patienten in Japan so gut wie kein Problem damit, sich mit neuen Technologien vertraut zu machen – schon gar nicht mit Apps aus dem Gesundheitsbereich, die sie dabei unterstützen, mit Ärzten in Kontakt zu treten und die nötige Hilfe zu erhalten. «Die Menschen sind sehr offen für die Nutzung unserer Dienste», ergänzt er. «Es ist eine sehr effiziente Art, mit Patienten zu arbeiten. So können wir unsere Betreuung zu Hause fortsetzen, die gerade bei der Versorgung älterer Patienten so wichtig ist», erklärt Muto.
Kardiologische Behandlung
Während Muto seinen Kindheitstraum weiterhin verfolgt und sein Netzwerk mit Kliniken und App-Nutzern ausbaut, ist er auch immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, seine Aktivitäten auszuweiten, und ist bereit, wann immer möglich neue praktische Ansätze zur Verbesserung der Patientenversorgung zu entwickeln.
Zu seinen vielen Aktivitätsfeldern zählt die Kardiologie. Nachdem die japanische Regierung 2018 eine landesweite Kampagne zur Verbesserung der Herzgesundheit im Land gestartet hatte, begann Muto, an neuen Lösungen zur Verbesserung des Monitorings zu arbeiten. Unter anderem entwickelte das Telemedizin-Unternehmen Integrity Healthcare von Muto einen klinischen Pfad zur sekundären Kardio-Prävention sowie ein digitales System, mit dem Ärzte den Cholesterinspiegel der Patienten erfassen und so die für sie bestmögliche medizinische Behandlung entwickeln können.
Dank dieser Massnahmen können die Patienten nun die Daten einsehen und den Cholesterinspiegel und andere Symptome überwachen. Beim Erreichen von Schwellenwerten erhalten sie den Rat, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte wiederum können die Testergebnisse einsehen und Empfehlungen für die einzelnen Patienten abgeben.
«Hier haben wir eine äusserst nützliche Methode entwickelt, mit der Ärzte ihre Patienten sowohl aus der Ferne als auch zu Hause behandeln können», so Muto. «Es ist ein System, das eine Win-win-win-Situation für die Patienten, die Ärzte und das Gesundheitssystem schafft.» Getestet wird es derzeit in Nagasaki. Die Chancen stehen gut, dass das Datensystem nach Abschluss der Testphase auch in anderen Landesteilen eingeführt und später in ganz Japan genutzt wird.
Ausbau der Partnerschaften
Muto ist von den ersten Erfolgen von Integrity Healthcare in Nagasaki begeistert. Gleichzeitig ist er sich bewusst, dass eine Transformation des Gesundheitssystems nur mit Partnerschaften möglich ist, und zwar auf den Gebieten Medizin, Technologie und Politik. «Partner sind für ein solch grosses Vorhaben von entscheidender Bedeutung, da das Gesundheitssystem auf sehr viele Ebenen verteilt ist», so Muto. «Nur wenn wir alle Beteiligten an den Verhandlungstisch bringen können, lässt sich eine dauerhafte Wirkung erzielen.»
Einer der Partner, mit denen Muto zusammenarbeitet, ist Novartis, die auf eine lange Tradition im kardiovaskulären Bereich zurückblicken kann und eine Reihe von Arzneimitteln entwickelt hat, die zur Verbesserung der Herzgesundheit beitragen.
Dr. Muto hat die Vision einer Gesundheitslandschaft, in der Mitgefühl und digitale Präzision nahtlos miteinander verschmelzen, um. Das verspräche eine bessere und vernetztere Zukunft für das Gesundheitswesen in Japan.
Die ersten Herzmedikamente des Unternehmens stammen aus den 1930er-Jahren, als Sandoz, ein Vorgängerunternehmen von Novartis, mit Naturprodukten arbeitete und die Wirkstoffe aus Pflanzen wie dem Fingerhut extrahierte, um daraus Herzmedikamente zu entwickeln.
Seitdem hat Novartis eine Reihe von Medikamenten entwickelt, die zur Behandlung von Herzinsuffizienz und Bluthochdruck sowie zur Behandlung hoher Cholesterinwerte beitragen, einem der Hauptgründe für Herzinfarkt und Schlaganfall.
Vertrauen ist unerlässlich
Die Partnerschaft mit Mutos Integrity Healthcare begann vor einigen Jahren, als Novartis selbst nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Herzgesundheit in Japan suchte und die japanischen Behörden bei ihren Bemühungen unterstützte, die Belastungen für das Gesundheitssystem in diesem Bereich zu verringern. «Novartis ist schon lange im Bereich der Herzgesundheit tätig», so Mei Haruya, der bei Novartis Japan die Partnerschaftsbemühungen im Kardiologiebereich leitet. «Doch angesichts der hohen Belastungen für das Gesundheitssystem sind wir ständig auf der Suche nach neuen Wegen, um die Situation vor Ort zu verbessern.»
Neben «Listening-Touren», die durchgeführt werden, um die Bedürfnisse von medizinischen Fachkräften und Patienten besser zu verstehen, hat sich das Unternehmen auch mit politischen Entscheidungsträgern und Regulierungsbehörden in Verbindung gesetzt, um die aktuellen Rahmenbedingungen und die Möglichkeiten zur Überwindung bestehender Hindernisse zu erörtern. Unter anderem war das Team kürzlich an einem G7-Event in Japan aktiv und nahm am World Heart Summit teil. Dort konnte Novartis einige ihrer Ideen erläutern und aufzeigen, wie das Unternehmen die Sekundärprävention durch zeitnahen Zugang zu lebensrettenden Medikamenten verbessern möchte.
«Natürlich ist das ein sehr komplexer und schwieriger Weg, aber einer, der sich lohnt», betont Haruya. «Wir sind bereit, diese Anstrengung zu unternehmen, denn es handelt sich um eine Investition in die Gesundheitsfürsorge, die letztlich dazu beitragen wird, dass die Menschen ein gesünderes und längeres Leben führen können.»
Die Zusammenarbeit mit Dr. Muto ist ein wichtiger Aspekt der Bemühungen des Unternehmens in Japan. «Dr. Muto hat enorme Fortschritte in der Telemedizin erzielt und kann den Patienten sowohl aus der Ferne als auch zu Hause die geeignete medizinische und persönliche Betreuung zukommen lassen. Für uns ist es ein grosser Gewinn, ihn in seinen Bemühungen zu unterstützen.» Doch der Weg dorthin wird nicht leicht sein. «Wir brauchen einen langen Atem, und eine der wichtigsten Zutaten ist gegenseitiges Vertrauen», sagt Haruya. «Angesichts unserer langjährigen Zusammenarbeit bin ich zuversichtlich, dass wir viel bewirken können.»
Das Beste aus zwei Welten
Muto ist sich bewusst, dass digitale Lösungen unverzichtbar sind, wenn es darum geht, Skaleneffekte zu erzielen und Millionen von Patienten in Japan zu helfen. Er ist auch fest davon überzeugt, dass Empathie und persönliche Unterstützung entscheidende Faktoren zum langfristigen Stärken der Gesundheitssysteme sind.

«Es ist intensiv und sieht vielleicht zunächst nicht effizient aus», erklärt Muto. «Doch die Behandlung zu Hause – insbesondere älterer Menschen in einer schnell alternden Gesellschaft wie Japan – und die Unterstützung durch effiziente digitale Dienstleistungen sind der richtige Weg.»
Während seines Aufenthalts in Ishinomaki besucht Muto einen Patienten nach dem anderen und wirkt durch jeden Kontakt in seiner Meinung gestärkt, denn er spürt instinktiv, dass seine Anwesenheit einen sichtbar positiven Effekt auf seine Patienten hat. Dies gilt auch für die 50-jährige Mitsue Kinoshita, die vor Kurzem eine Hirnblutung erlitt und Schwierigkeiten hat, ihre linke Hand zu bewegen. Sie nimmt jetzt dreimal täglich Schmerzmittel, um ihren Zustand zu lindern.
Während sie Muto schildert, sie habe derzeit keine Schmerzattacken, rät er ihr, die Tabletten nur dann einzunehmen, wenn wieder Schmerzen auftreten, um ihre Leber nicht zu belasten. Da die Sommerhitze immer noch wie eine Glocke über der Stadt hängt, rät Muto ihr, im Haus zu bleiben und viel zu trinken, um einen Hitzschlag zu vermeiden.
Muto nimmt sich auch Zeit für ein Schwätzchen mit seinen Patienten. Als er bei der 96-jährigen Kahoru Imamiya eintrifft, nimmt sie zum ersten Mal seit Ausbruch der Coronapandemie ihre Gesichtsmaske ab, und Muto scherzt, wie jung sie aussehe.
«Behandlung zu Hause – insbesondere älterer Menschen in einer schnell alternden Gesellschaft wie Japan – und die Unterstützung durch effiziente digitale Dienstleistungen sind der richtige Weg.» (Shinsuke Muto)
Imamiya lacht und erzählt ihm von der Tagesbetreuung, die sie jetzt zweimal wöchentlich aufsucht. Auf die Frage, was sie dort den ganzen Tag lang mache, sagt sie ihm, sie singe. Beide lachen herzlich. Bevor er sich von ihr verabschiedet und mit dem Auto zum nächsten Patienten fährt, teilt Muto Imamiya mit, er komme in zwei Wochen zu einer weiteren Untersuchung wieder, sie solle ihre Medikamente weiterhin regelmässig einnehmen.
«Meine Besuche sind wichtig, um die Patienten im Auge zu behalten, doch ein anderer bedeutsamer Aspekt ist die emotionale Nähe zu ihnen», erläutert Muto. «Manchmal möchten Patienten nicht nur über medizinische Themen sprechen, sondern einfach eine menschliche Verbindung spüren.» In einem idealen Gesundheitssystem, wie Shinsuke Muto es sich vorstellt, gehen menschliche Beziehungen und digitale Präzision Hand in Hand.