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Eine Reise nach Indien, Afrika und China

Der Einsatz von Naturstoffen für medizinische Zwecke hat im Westen eine lange Tradition. Aber auch in Asien und Afrika existiert eine reiche und vielfältige medizinische Kultur auf der Basis von Medikamenten, die aus Pflanzen, Mineralien und Metallen gewonnen werden. Um diesem globalen Phänomen Rechnung zu tragen, dessen Wurzeln Jahrtausende zurückreichen, haben wir Experten aus Indien, Afrika und China zu den Praktiken in ihren Heimatländern befragt. Wir danken Ashwini Mathur und Vinay Mahajan von Novartis in Indien für ihren aufschlussreichen Artikel zum Thema Ayurveda. Unser Dank geht auch an Fidelis Cho-Ngwa, Manfo T. Pascal, Jonathan A. Metuge und Moses Samje von der Universität Buea in Kamerun, die uns einen hervorragenden Überblick zur aktuellen Forschung an Naturstoffen in Kamerun geliefert haben. Schliesslich danken wir Yang Ye vom Shanghai Institute of Materia Medica für seine eleganten Ausführungen zur traditionellen chinesischen Medizin.

Text von Goran Mijuk, Fotos von Jan Räber

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Dieser Artikel wurde ursprünglich im April 2014 publiziert.

Die Herkunft der ayurvedischen Heilkunde ist unklar. Der konzeptionelle Rahmen entstand jedoch zwischen 2500 und 500 v. Chr. in Indien. Der Begriff «Ayurveda» setzt sich aus den Wörtern «ayus» (Leben) und «veda» (Wissen) zusammen; Ayurveda ist demnach die alte indische Wissenschaft des Lebens, der Gesundheit und der Langlebigkeit.

Ayurveda betrachtet den Menschen ganzheitlich. Gesundheit ist gleichbedeutend mit einem ausgewogenen Stoffwechsel, der einen gesunden Allgemeinzustand ermöglicht. Krankheit wird als Störung des Stoffwechsels definiert, die durch äussere Einflüsse oder innere Ursachen im Körper oder Geist entstehen kann. Die ayurvedische Behandlung zielt auf den Patienten als organisches Ganzes ab und besteht aus einer Kombination von Ernährung, Medikamenten sowie verschiedenen körperlichen und geistigen Aktivitäten, die vom einzelnen Menschen abhängen. Ayurveda hat eine lange und gut dokumentierte Geschichte, die hauptsächlich in Sanskrit überliefert ist und verschiedene Aspekte von Krankheit, Therapie und Pharmazie umfasst.

Ayurvedische Arzneien sind oft komplexe Mischungen, die aus pflanzlichen und tierischen Stoffen, Mineralien und Metallen hergestellt werden. Pflanzen spielen im ayurvedischen Arzneibuch eine dominierende Rolle.

Die 900 v. Chr. verfasste Abhandlung «Charaka Samhita» ist erstmals ausschliesslich ayurvedischen Konzepten und Praktiken gewidmet; der Schwerpunkt liegt auf den Therapeutika. Sie nennt 341 Pflanzen und pflanzliche Stoffe für medizinische Zwecke. Ein weiterer bedeutender Text ist die «Sushruta Samhita» (600 v. Chr.), die sich mit der Chirurgie befasst. Sie beschreibt 395 Arzneipflanzen, 57 Medikamente tierischer Herkunft sowie 64 Mineralien und Metalle als Therapeutika. Eine bekannte Autorität der ayurvedischen Heilkunde war Vagbhata, der im 7. Jahrhundert n. Chr. praktizierte. Seine Arbeit «Ashtanga Hridaya» über die Prinzipien und Praxis der Medizin gilt als Meisterwerk.

Aufgrund ihrer thematischen Breite und Detailkenntnis waren ayurvedische Texte auch in den Nachbarländern vielbeachtet, wie ihre Übersetzung ins Griechische (300 v. Chr.), Tibetische und Chinesische (300 n. Chr.), Persische und Arabische (700 n. Chr.) sowie in mehrere andere asiatische Sprachen beweist.

Rund 1250 indische Arzneipflanzen werden zur Formulierung von Therapeutika verwendet. Einen umfassenden Überblick über die frühe Forschung bis in die Neuzeit um 1930 bietet RN Chopra in seinem Werk «Indigenous Drugs of India».

Zu den bekanntesten Pflanzen gehört Rauwolfia serpentina. Die Wurzeln dieser Pflanze werden in der ayurvedischen Heilkunde zur Behandlung von Bluthochdruck, Schlaflosigkeit und Wahnsinn verwendet. Bedeutende pharmakologische, klinische und chemische Untersuchungen an der Pflanze wurden in Indien durchgeführt. Dies weckte das Interesse von CIBA, wo es 1952 gelang, das sedierend wirkende Alkaloid Reserpin zu isolieren. Auch der Balsambaum hat die moderne Medizin geprägt. Bei Verletzungen scheidet die Pflanze ein gelbliches Gummiharz aus, das rasch zu Tropfen verklumpt und einen balsamartigen Duft verströmt, der jenem der Myrrhe ähnlich ist. Dieses Gummiharz – in der Ayurveda-Heilkunde etwa zur Behandlung von Entzündungen eingesetzt – wurde in den Siebzigerjahren mit modernen Methoden getestet, die schliesslich zur Isolierung und Charakterisierung von zwei antihyperlipoproteinämischen Substanzen führte.

Ayurveda und ähnliche Systeme sind für die Entwicklung von Arzneien, funktionellen Lebensmitteln und Kosmetika wertvoll. Dieses Potenzial muss jedoch anhand moderner wissenschaftlicher Parameter kritisch beurteilt werden. Unter diesem Aspekt lässt sich ohne Übertreibung behaupten, dass das 21. Jahrhundert im Gesundheitswesen zur Ära des Pluralismus wird. Überall auf der Welt steht die Bevölkerung vor neuen Gesundheitsproblemen, die sich nicht durch einen einzigen Ansatz lösen lassen. Deshalb sollte die Suche nach ergänzenden Gesundheitslösungen unterstützt werden. Ayurveda ist in seiner 2000-jährigen Geschichte zu einer evidenzbasierten Gesundheitswissenschaft gereift und kann daher wesentlich zur Entwicklung ergänzender Gesundheitslösungen beitragen.

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Prunus africana.

Afrika verfügt dank reichlich Sonnenschein und mancherorts hoher Feuchtigkeit über eine besondere Vielfalt und Fülle an Lebewesen. So ist beispielsweise die Kap-Region ein weltweit bedeutendes Zentrum der Pflanzendiversität, während die Demokratische Republik Kongo und Tansania eine aussergewöhnlich reiche Vogelwelt aufweisen.

Obwohl die Vielfalt seiner Fauna noch genauer erforscht werden muss und daher wohl deutlich unterschätzt wird, ist bekannt, dass rund ein Viertel der weltweit 4700 Säugetierarten in Afrika vorkommen, davon allein 1000 in Subsahara-Afrika; mehr als 2000 Vogelarten – gut ein Fünftel der weltweit rund 10 000 Arten – stammen Schätzungen zufolge aus Afrika.

Einige Autoren behaupten – richtiger- oder fälschlicherweise –, Afrikas Blumenvielfalt sei geringer als jene anderer tropischer Regionen. Diese Folgerung basiert möglicherweise auf ungenauen Untersuchungen. Entgegen dieser verbreiteten Meinung liegen 5 von 20 weltweiten Zentren der Pflanzendiversität in Afrika, einschliesslich Kamerun-Guinea, der Kap-Region und Madagaskar. Die mikrobielle Diversität lässt sich nur schwer beziffern, doch zahlreiche Arten kommen nur in Afrika vor. Das feuchttropische Klima ist für Mikroorganismen besonders günstig.

Afrikas reiche Biodiversität liefert unter anderem Nahrungsmittel, Baumaterial und Medikamente für zahlreiche Leiden, insbesondere Tropenkrankheiten wie Trypanosomiasis (Schlafkrankheit), Malaria und Onchozerkose, auch Flussblindheit genannt. Die Inhaltsstoffe werden aber auch zur Behandlung nicht übertragbarer Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck genutzt, die infolge veränderter Lebensgewohnheiten auf dem Kontinent zunehmen.

Afrikas Urbevölkerung deckt ihre medizinischen Grundbedürfnisse durch die traditionelle Medizin ab, da Arzneipflanzen vielerorts leicht zugänglich und preiswert und in ländlichen Gebieten oft die einzige Therapiemöglichkeit sind. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzen in Entwicklungsländern über 80 Prozent der Bevölkerung auf die traditionelle Medizin. Die Herausforderungen für die Anwendung und Entwicklung von Medikamenten aus afrikanischen Pflanzen liegen in mangelhafter Standardisierung und fehlender Qualitätskontrollen. Das Risiko nicht dokumentierter, langfristiger Nebenwirkungen, mikrobieller Verunreinigungen infolge falscher Handhabung, Fehldiagnosen und willkürlicher Dosierung verschärft diese Herausforderungen. Auch die Gewinnung von Medikamenten aus unverarbeiteten Pflanzen – ein Prozess, der Ausbildung und Erfahrung erfordert – ist in Afrika eher selten. Bekannte Beispiele für afrikanische Arzneipflanzen sind die afromontane Baumart Prunus africana, Aloe vera, Morinda lucida und Pausinystalia yohimbe (Yohimbe). Afrikas Arzneipflanzen bieten eine grosse Chance für die moderne Pharmaindustrie, um neue Lead-Moleküle zu identifizieren. Mehr als 75 Prozent der in unserem Labor zur Behandlung von Onchozerkose in vitro getesteten Pflanzenextrakte ergaben eine gute bis hervorragende Aktivität.

Bisher konnten nur eine Handvoll afrikanischer Arzneipflanzen auf ihre angeblichen pharmakologischen Wirkungen untersucht und nur ganz wenige reine Wirkstoffe isoliert werden, was den bescheidenen technischen und industriellen Entwicklungsstand widerspiegelt.

Da rund 40 Prozent aller modernen Medikamente aus Naturstoffen oder deren Derivaten gewonnen werden, sollte die Entwicklung einer Pharmastrategie für die Nutzung von Afrikas Arzneipflanzen, Fauna und Mikroorganismen, namentlich zur Heilung vernachlässigter endemischer Tropenkrankheiten, in der Forschung und Entwicklung Vorrang haben.

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Artemisia annua.

Die chinesische Medizin spielt im Gesundheitssystem des Landes seit Jahrtausenden eine bedeutende Rolle. Sie verfügt über eigene theoretische Grundlagen und überlieferte Praktiken. Ihr umfassendes System ist durch den Einsatz grosser Mengen an pflanzlichem Material gekennzeichnet.

Die Theorie der traditionellen chinesischen Medizin ordnet jeder Pflanze typische Eigenschaften für die physiologischen und pathologischen Reaktionen des menschlichen Körpers sowie für die Diagnose und Heilung von Krankheiten zu. Zu diesen Haupteigenschaften gehören vier Naturen, fünf Geschmacksrichtungen, aufsteigend-absteigend-schwebend-sinkend, Kanal-Tropismus, Toxizität, Kompatibilität und Kontraindikationen.

Die vier Naturen, auch bekannt als vier Temperatureigenschaften, sind kalt (han), heiss (re), warm (wen) und kühl (liang). Die fünf Geschmacksrichtungen beziehen sich auf die Geschmackseigenschaften von Kräutern: sauer (suan), süss (gan), bitter (ku), würzig (xin) und salzig (xian). Aufsteigend-absteigend-schwebend-sinkend ist für die vier Wirkungstendenzen von Belang, wenn die traditionelle chinesische Medizin mit dem menschlichen Körper reagiert. Auf der Basis dieser Eigenschaften verbindet der Kanal-Tropismus die therapeutischen Wirkungen der traditionellen chinesischen Medizin mit den einzelnen Körperteilen. Überdies lässt sich an der Toxizität die Bias-Eigenschaft der traditionellen chinesischen Medizin ablesen. Bei der Kompatibilität geht es um die Frage, wie zwei oder mehr Kräuter aufgrund des körperlichen Zustands eines Patienten und der Kräutereigenschaften genutzt werden. Kontraindikationen beschreiben, welche Kräuter nicht zusammen eingesetzt werden dürfen.

Aufgrund jahrtausendelanger Praxiserfahrung nimmt die traditionelle Kräutermedizin im chinesischen Gesundheitssystem eine wichtige Stellung ein. Kräuter werden in zahlreichen Büchern und offiziellen Dokumenten beschrieben. Beispielsweise listet die «Materia Medica» (本草纲目), ein bekanntes Werk der Arzneimittellehre, 1892 Arzneistoffe auf, darunter 1095 Kräuter. Gestützt auf dieses kumulierte Wissen können chinesische Wissenschaftler in Arzneimittelbüchern nach Kräutern suchen, die Moleküle mit spezifischen Wirkstoffen enthalten. Die Auswahl der Pflanzen erfolgt gezielter als bei der zufälligen Sammlung und Selektion. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass biologisch aktive Kleinmoleküle gefunden werden.

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Rauwolfia.

Die Entdeckung von Artemisinin (Qinghaosu), das aus der Pflanze Artemisia annua als wirksames Malariatherapeutikum gewonnen wird, hat weltweit Millionen Leben gerettet. Nach der Untersuchung von über 2000 chinesischen Heilkräutern berichtet Professor Youyou Tu, Gewinner des Lasker-Preises 2011, in der Zeitschrift «Nature Medicine», dass das Heilkraut Qinghao besonders häufig in der Malariabehandlung zum Einsatz kommt. Der frische Saft von Qinghao zur Linderung der Malariasymptome wird bereits von Ge Hong (281–341 n. Chr.) erwähnt. In seinem «Handbook of Prescriptions for Emergencies» schreibt er: «Eine Handvoll Qinghao in zwei Liter Wasser eintauchen, den Saft auspressen und alles trinken.»

Ein weiteres Beispiel ist das Depsid-Salz aus Salvia miltiorrhiza, einem traditionellen Heilkraut, auch Danshen genannt. Danshen fördert den Kreislauf, wirkt gegen Blutstase und wird zur Behandlung von koronarer Herzkrankheit eingesetzt. Depsid-Salz ist eine Mischung aus Magnesium-Lithospermat B und seinen fünf Analogwirkstoffen. Im Mai 2005 erhielten diese Mischung und ihre Injektion von der chinesischen Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde die Neuzulassung. Gemäss Lijiang Xuan, leitender Wissenschaftler des Programms am Shanghai Institute of Materia Medica der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, besitzt Depsid-Salz nicht nur feste chemische Verbindungen, sondern zeigt bei koronarer Herzkrankheit eine nachweislich heilende Wirkung, wie eine Studie an 460 Patienten gezeigt hat, und weist einen eindeutigen Wirkungsmechanismus auf.

Diese zwei Beispiele zeigen erfolgreiche Medikamente, die aus traditionellen Arzneien entwickelt wurden. Im Gegensatz zu vielen anderen phytochemischen Entdeckungen in der Medikamentenentwicklung ist der Weg von traditionellen Arzneien zu neuen Medikamenten kurz und direkt. Professor Zhibi Hu, Mitglied der Chinesischen Akademie für Ingenieurwissenschaften, erklärte gegenüber der Zeitschrift «Nature Bio-technology»: «Dieser Erfolg zeigt, dass Chinas biopharmazeutische Industrie innovative Medikamente entwickeln kann, indem sie die chemischen Inhaltsstoffe traditioneller chinesischer Arzneien untersucht, deren Wirkung seit Langem bekannt ist. Verglichen mit der Neuentwicklung von Präparaten könnte sich dieser Ansatz als schneller und billiger erweisen.»

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