Mit dem Umzug des Wahlbaslers Alexander Clavel aus seinem Kleinbasler Firmendomizil ins Klybeckquartier beginnt der Aufstieg der chemischen Industrie in Basel. Das Erfolgsrezept für sein Start-up hatte er allerdings abgekupfert, was für die Zeit nicht ungewöhnlich war.
Text von Michael Mildner, lllustration von Capucine Matti
Die Farbe des Erfolgs: Ciba PF7 Fuchsin Musterbuch II, L. Peyer, 1863.
Es war ein eisiger, wolkenverhangener Tag im Winter des Jahres 1859. Der Wind pfiff über die eng beieinanderliegenden Dächer des «minderen Basel», wie die Kleinbasler Seite des Rheins damals genannt wurde. Mitten in dieser dicht besiedelten Gegend, an der unteren Rebgasse, hatte Alexander Clavel wenige Jahre zuvor eine Farbenmanufaktur und das zugehörige Labor übernommen. In der hintersten Ecke der Fabrik machte sich der französische Chemiker und Wahlbasler jetzt an seinen Laborinstrumenten und Färberkesseln zu schaffen.
Er war in Eile; kurz zuvor hatte er eine brandneue Rezeptur für den künstlichen roten Farbstoff Fuchsin von seinen französischen Verwandten in Lyon, den Gebrüdern Renard, erhalten. Clavel wusste, dass er damit den Schlüssel zu Ruhm und Reichtum in der Hand hielt. Er wollte unbedingt der Erste sein, der in der Schweiz den neuen Farbstoff herstellte – und er schaffte es auch.
Goldgräberstimmung
Ohne sich dessen bewusst zu sein, legte Clavel in seiner kleinen Basler Fabrik einen wichtigen Grundstein für die bald erstarkende chemische Industrie der Schweiz, wie Novartis-Firmen-Archivar Walter Dettwiler weiss. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Entwicklung der Basler Industrie und ihrer Bedeutung im internationalen Umfeld. «Die Mitte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des Übergangs. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man nur die natürlichen Farbstoffe wie Indigo oder Pur-pur gekannt. Die Rohstoffe dafür kamen von weither und die Produktion war aufwendig. Als 1856 in England der erste künstliche Farbstoff er-funden wurde, brach eine Art Goldgräberstimmung aus, und alle wollten an diesen neuen Farbstoffen verdienen.»
Die künstlich hergestellten Farbstoffe wurden auch Anilinfarben genannt, weil die Stickstoffverbindung Anilin einer der Hauptbestandteile der Farbstoffsynthese war. Das Anilin wiederum wurde aus Steinkohleteer gewonnen. Diesen Stoff gab es in Basel zuhauf. Denn damals setzte sich aus Kohle gewonnenes Gas in Basel als Mittel zur Strassenbeleuchtung durch.
Aus den billigen Teerrückständen der Gaswerke stellten die Chemiker ihre neuen Farben her. Diese waren beim Waschen und im Sonnenlicht viel beständiger als die Naturfarbstoffe. Zudem konnte man nun auch ganz verschiedene, hell glänzende oder aber dunkle und kräftige Farbnuancen herstellen. All das war früher nicht möglich gewesen. Walter Dettwiler beschreibt die Wirkung, die die neuen Farbstoffe in Basel hatten, so: «Aus alten Aufzeichnungen wissen wir, dass Clavel seine Chance nutzte und den neuen roten Fuchsinfarbstoff mit grossem Erfolg verkaufen konnte. Die Nachfrage war so hoch, dass er schon bald alle Naturfarbstoffe durch synthetische Farben ersetzte.»
Auch rechtlich war alles in Ordnung. Obwohl die Fuchsinfarbe in Frankreich patentiert war, konnte Clavel den Farbstoff in der Schweiz produzieren. Denn hier gab es Mitte des 19. Jahrhunderts noch kein Patentgesetz, das ausländische Erfindungen geschützt hätte.
Etikette von Bindschedler, Busch & Cie. (später CIBA) für Indien. 1873–1884. Unbekannte Druckerei. Vermutlich der Maharadscha Ranbir Singh (1830–1885). Die Medaillen repräsentieren die an grossen Ausstellungen gewonnenen Preise.
Clavels wirtschaftlicher Erfolg brachte ihm aber auch Ärger. Die Anwohner der Fabrik beschwerten sich lauthals über die giftigen Arsendämpfe, die bei der Herstellung entstanden. Mit ihrem Protest beim Rat der Stadt Basel über den «pestilenzalischen Gestank» bewirkten sie schliesslich ein Produktionsverbot.
Alexander Clavel reagierte sehr schnell auf dieses Verbot, wie Walter Dettwiler erklärt: «Natürlich wollte Clavel das lukrative Farbstoffgeschäft nicht verlieren. Er verlegte deshalb seinen Betrieb 1864 ins Klybeckquartier ausserhalb der damaligen Stadtgrenzen. Hier entstand sein ganz neuer und grösserer Farbenbetrieb.» Clavels Erfolg zog auch andere Unternehmer an. Nur einige Monate später baute der Elsässer Unternehmer Armand Gerber zusammen mit dem Basler Wilhelm Uhlmann an der Klybeckstrasse neben Clavels Farbenfabrik ein weiteres Unternehmen für Anilinfarben.
Hier im Klybeck gab es weit und breit keine Anwohner, die sich wegen der Emissionen beschweren konnten, so wie es in der Stadt der Fall gewesen war. Ganz im Gegenteil – auf der grünen Wiese vor den Toren Basels war genügend Platz vorhanden. Ausserdem stand mit dem Rhein ein günstiger Verkehrsweg zur Verfügung, der zusätzlich als diskreter Abwasserkanal genutzt werden konnte. Auch die Eisenbahnverbindungen, die Basel mit Frankreich und Deutschland verbanden, waren ein Vorteil.
Die neuen Farbenfabriken befanden sich inmitten einer blühenden Seidenband- und Textilindustrie. Im Elsass wurde bereits 1746 die erste Fabrik für Textildruck gegründet. Ab 1835 wurden Spinnereien und Webereien als Basler Filialbetriebe im deutschen Wiesental eröffnet, und in der Region Basel selbst bauten die Textilunternehmer immer mehr Fabriken für die damals so begehrten Seidenbänder. Durch den Erfolg der Textilindustrie im Dreiländereck stieg auch der Farbstoffbedarf ständig.
Roger Ehret, Journalist und Stadtführer aus Basel, stellt die Leistung Clavels in einen historischen Kontext: «Alexander Clavel war zwar der Erste, aber nicht der Einzige, der in Basel synthetische Farbstoffe herstellte. Im Jahr 1862, drei Jahre nach der Fuchsinentdeckung in Frankreich, bestanden in Basel schon drei Fabrikationsanlagen für Teer-farben: die Seidenfärberei Clavel im Kleinbasel, die Extraktfabrik J. J. Müller-Pack im Rosental und die Anlage von Jean Dollfuss neben der Gasfabrik im St. Johann. Mit dem Bau von Gerber & Uhlmann kam dann schon die vierte Farbenfabrik hinzu.»
Spione in Basel
Im Herzen einer florierenden Textilindustrie, mit guten Verkehrsverbindungen und Zugang zum billigen Steinkohleteer als Rohstoff für die künstlichen Farbstoffe, verfügte Basel über ausgezeichnete Voraussetzungen, um eine erfolgreiche Industriestadt zu werden.
Aber da war noch ein anderer Faktor, der entscheidend zum Aufstieg der chemischen Industrie in Basel beitrug, wie Roger Ehret erzählt: «Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich besass die Schweiz bis 1887 gar kein Patentgesetz, und für chemische Erzeugnisse gab es sogar bis 1907 keinen Patentschutz. So brachten ausländische Chemiker immer wieder neue Kenntnisse und Verfahren mit nach Basel, wo sie sehr effizient weiterentwickelt wurden.»
In dieser bewegten Gründerzeit wurden Chemiefarben-Rezepturen wie Staatsgeheimnisse gehütet – und dementsprechend oft ausspioniert. Die «Spione» konnten ein Vermögen mit der Weitergabe der Rezepturen verdienen. Roger Ehret kennt die Gründe dafür: «Der Elsässer Chemiker Jules Albert Schlumberger war ein solcher Spion. Er liess sich bei verschiedenen Unternehmen anstellen, um die Herstellungsverfahren kennenzulernen, und verkaufte sie dann an seine neuen Arbeitgeber weiter. Möglich wurde dies nur aufgrund des mangelnden Patentschutzes.»
Schlumberger brachte als Gast von Jean Gerber-Keller, der 1859 das Azalein in Frankreich entdeckt hatte, den Herstellungsprozess für diesen Farbstoff in Erfahrung und lernte ausserdem beim Seidenfärber Clavel das Lyoner Fuchsinverfahren kennen. Als er dann als Chefchemiker in der Farbenfabrik von Müller-Pack angestellt wurde, brachte er dort seine vielfältigen Kenntnisse in die Firma ein, die sich in der Folge rasch weiterentwickelte, wie Roger Ehret erklärt.
«Die Erfolgsgeschichte von Müller-Pack endete allerdings schon nach zwei Jahren, weil in der Nachbarschaft seiner Farbenfabrik plötzlich sieben Personen an Arsenvergiftung erkrankten. Die Regierung leitete ein strafrechtliches Verfahren gegen Müller-Pack ein, und der Unternehmer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldbusse und zu hohen Renten- und Schadenersatzzahlungen verurteilt. Er musste auch Röhrenleitungen bauen, die alle giftigen Rückstände in den Rhein leiteten.» Der Arsenprozess von 1864 ruinierte Müller-Pack, und mit Johann Rudolf Geigy profitierte ein weiterer Basler Industrieller davon: Er konnte sämtliche Fabrikanlagen günstig übernehmen und das Farbengeschäft weiter ausbauen.
Geigy-Etikette für Indien. 1900er-Jahre. Lithografie: Druckerei Gebrüder Lips, Basel. Ansicht des Babulnath-Tempels in Mumbai (Indien), der dem Hindu-Gott Shiva geweiht ist.
Das stete Wachstum der Basler chemischen Industrie war auch im Klybeck deutlich spürbar. Bis etwa 1870 wurde das unbebaute Land, das nicht für die chemischen Fabriken, die Hafenanlagen oder den Horburgfriedhof gebraucht wurde, hauptsächlich als Weide genutzt. Auf diesen Flächen entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Wohnbauten für die Arbeiter im Klybeck.
Mit dem Erfolg der Farbenproduktion in Basel nahm nicht nur die Anzahl der Betriebe, sondern auch die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen zu. Wer erfolgreich sein wollte, musste seine Fabrikationsanlagen und Labors immer weiter ausbauen und rationalisieren. Denn je grösser die Installationen waren, desto wirtschaftlicher liess sich der Betrieb führen. Alexander Clavel konnte mit diesem beschleunigten Wachstum finanziell nicht mehr mithalten. Er verkaufte 1873 seine Fabrik, die damals 30 Leute beschäftigte, an den Konkurrenten Robert Bindschedler, der in Schweizerhalle ebenfalls Fuchsin herstellte.
Firmenarchivar Walter Dettwiler kennt die weitere Entwicklung: «Als Firma Bindschedler & Busch wuchs das Unternehmen elf Jahre lang, es steigerte die Produktion und dehnte sich auf dem Klybeckareal aus. Aber dann wurde auch hier die finanzielle Grenze erreicht, an der die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft nötig wurde. So entstand 1884 die Gesellschaft für Chemische Industrie Basel, abgekürzt CIBA.» Nur zwei Jahre später gründeten die beiden Schweizer Alfred Kern und Edouard Sandoz 1886 ihre Farbenfabrik beim alten Gaswerk im Basler Quartier St. Johann. Aus diesem Unternehmen entstand die spätere Sandoz, die sich 1996 mit der Nachfolgefirma der CIBA zur heutigen Novartis zusammenschloss.
Von den Farben zur Medizin
Kurz vor der Fusion zu Novartis hatten die beiden Vorgängerfirmen, Sandoz und Ciba ihre farbstoffproduzierenden Geschäftsbereiche ausgegliedert, um sich vor allem auf pharmazeutische Produkte mit höherer Wertschöpfung zu konzentrieren.
Der Übergang in ein neues Zeitalter, weg von der Farbstoffchemie und hin zur Pharmazie, hatte sich allerdings schon Ende des 19. Jahrhunderts angekündigt, wie Walter Dettwiler berichtet: «Einige Basler Farbenunternehmen stellten zu dieser Zeit auch schon erste chemische Heilmittel her. Dazu nutzten sie anfangs ausländische Erfindungen, da diese in der Schweiz noch nicht patentgeschützt waren. So hat beispielsweise CIBA 1887 beschlossen, ein fiebersenkendes Arzneimittel der deutschen Farbenwerke Hoechst zu produzieren, und Sandoz brachte 1895 ihr erstes pharmazeutisches Nachahmerpräparat auf den Markt.»
Mit der Einführung des Patentschutzes für chemische Produkte im Jahr 1907 verstärkten die Basler Unternehmen ihre eigene Forschung sowohl bei den Farbstoffen als auch für die pharmazeutischen Erzeugnisse. Sie schlugen so ein weiteres Kapitel in der industriellen Geschichte Basels auf, das nicht auf der Nachahmung bestehender Produkte, sondern auf der eigenen, erfolgreichen Innovation gründete.
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