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Mic-Drop – die Nadel im Heuhaufen finden
Experimente mit Tröpfchen
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Wissenschaft
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Kleines Format, grosse Wirkung

Zwei voneinander unabhängige Novartis-Projekte, Mic-Drop und MicroCycle, sollen die Frühphase der Arzneimittelforschung revolutionieren und gleichzeitig die Umweltbelastung reduzieren.

Text von K.E.D. Coan, Fotos von Laurids Jensen

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Herkömmlicher Rundkolben im Vergleich...

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«In der Frühphase der Arzneimittelforschung werden in typischen Arbeitsschritten rund 20 000 Mal mehr chemische Materialien synthetisiert, als die Wissenschaftler für die anfängliche Profilierung benötigen», erklärt Jonathan Grob, Wissenschaftler an den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR). «Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie die Massstäbe biologischer und chemischer Vorgänge besser aufeinander abgestimmt werden können. Zudem möchten wir die Arzneimittelforschung beschleunigen.»

Die derzeit genutzten chemischen Abläufe reichen bis in die 1950er-Jahre zurück, als die zu erforschenden Wirkstoffe oft direkt an Tieren getestet wurden. Dazu benötigten die Wissenschaftler bereits in der Frühphase mehrere Gramm des potenziellen Wirkstoffs. Heute untersuchen die Wissenschaftler infolge revolutionärer Entwicklungen in der Molekularbiologie der 1980er- und 1990er-Jahre neue Wirkstoffe hingegen zunächst an einzelnen Zellen oder in Form biochemischer Screenings, bevor sie an lebenden Tieren getestet werden. Für diese Tests sind von jedem Wirkstoffkandidaten nur einige Nanogramm erforderlich. Die Chargengrössen der Wirkstoffe konnten aus technischen Gründen allerdings nicht in demselben Mass reduziert werden.

Die Erforschung neuer Arzneimittel beginnt heute in der Regel damit, dass Millionen von Molekülen in Kunststoffgefässen getestet werden, um Ausgangspunkte zu finden, mit denen sich biologische Ziele anpeilen lassen. Dabei entstehen Tonnen von Kunststoffmüll und Hunderte Liter flüssiger Gefahrengüter. Die chemischen Ausgangsstoffe werden dann in Kolben und Ampullen optimiert, wobei wesentlich grössere Mengen an Wirkstoffverbindungen produziert werden, als für die biologischen Tests in der Frühphase nötig sind.

Diese erhebliche Überproduktion ist zum einen ineffizient, zum anderen dauert es Wochen, neue Moleküle herzustellen und zu testen. Potenzielle neue Wirkstoffe müssen synthetisiert, gereinigt und auf ihre chemischen und biologischen Eigenschaften hin analysiert werden. Alle diese Schritte werden in unterschiedlichen Speziallabors durchgeführt. So kann es bei jeder neuen Idee Wochen dauern, bis die Mitarbeitenden alle Daten zusammengestellt haben und wissen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Wegen des Zeit- und Kostenaufwands, der für jede einzelne Optimierungsrunde nötig ist, können die Wissenschaftler zudem nicht unbegrenzt viele Hypothesen testen.

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...zu einer Komponente des vom MicroCycle-Team entwickelten neuen Testsystems, das wesentlich effizienter ist, Rohstoffe spart und weniger Giftmüll verursacht.

La­bor im Mi­nia­tur­for­mat

Wie wäre es also, wenn sich diese Prozesse schneller, ressourcensparender und mit geringerem Abfallaufkommen durchführen liessen? «Dank der Möglichkeit, chemische Prozesse in kleinerem Massstab ablaufen zu lassen, konnten wir all jene Fragen stellen, die für die Forschungsgruppen jeweils relevant waren», sagt Grob, der 2017 gemeinsam mit seinem Kollegen Alexander Marziale und weiteren Wissenschaftlern das MicroCycle-Team gründete. Das Team wurde Teil der Novartis Genesis Labs, eines internen Förderprogramms, das Wissenschaftlern Forschungsmittel zur Verfügung stellt, damit sie über einen Zeitraum von 18 Monaten unkonventionellen Projekten nachgehen können.

«Unsere Hauptmotivation bestand darin, die Zykluszeit von der Idee bis zu den erhobenen Daten zu verkürzen sowie den iterativen Prozess zu beschleunigen und effizienter zu gestalten», erläutert Grob. «Wir wollten eine Plattform entwickeln, die es den Forschungsgruppen ermöglicht, innerhalb des üblichen Zeitplans für die Arzneimittelforschung mehr Iterationen durchzuführen.»

Eine der wichtigsten Strategien des Teams zur Verkürzung der Zykluszeit bestand darin, alle Schritte aus der Frühphase der Forschung in einem einzigen interdisziplinären Labor zu vereinen. Bei der Plattform MicroCycle sind sie alle – Synthese, Reinigung, Analyse, biologische und physikalisch-chemische Profilierung, virtuelles Screening und Datenwissenschaft – jeweils nur wenige Meter voneinander entfernt angeordnet. Das macht die Übergabe der Verbindungen zwischen den einzelnen Gruppen überflüssig und den Prozess effizienter.

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Das gesamte Arsenal an schweren Anlagen, die für die herkömmliche Arzneimittelforschung nötig sind, passt durch den Erfindergeist des Mic-Drop-Teams der Genesis Labs auf...

All-in-one-Platt­form

Damit alle Komponenten in einem Laborraum untergebracht werden konnten, waren auch Miniaturisierung und Laborautomatisierung entscheidende Aspekte von MicroCycle. Zwar lassen sich biochemische und zelluläre Screenings bereits im kleinen Massstab durchführen. Die Miniaturisierung chemischer Prozesse hingegen war eine wesentliche Innovation. Konkret musste das Team verschiedene Technologien für die Synthese, Reinigung und Quantifizierung en miniature übernehmen, anpassen und umwidmen.

«Wir haben eine Reihe neuer Technologien in Chemielabors eingeführt. Damit bringen wir die Miniaturisierung, die Laborautomatisierung und die Digitalisierung der Arzneimittelforschung voran», führt Alexander Marziale aus. «Die Arzneimittelforschung, wie wir sie jetzt betreiben, erfolgt in einem etwa 100 Mal kleineren Massstab, als dies bisher in der Frühphase des Prozesses möglich war.» Seit seiner Einführung wurde MicroCycle bereits bei über zehn Projekten der NIBR eingesetzt.

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Automatisierungsingenieure, Synthesechemiker und Assay-Experten arbeiten in heterogenen, multidisziplinären Teams zusammen.

Mic-Drop – die Na­del im Heu­hau­fen fin­den

Eine weitere potenziell revolutionäre Innovation im Bereich der Arzneimittelforschung ist Mic-Drop. Diese Technologie «bringt neue Projekte auf den Weg, weil sich mit ihr die Nadel im Heuhaufen finden lässt, beispielsweise vielversprechende neue chemische Ausgangspunkte», verdeutlicht Ken Yamada, Medizinalchemiker bei den NIBR.

Seit den 1990er-Jahren ermöglicht das Hochdurchsatz-Screening (HTS), das in der Branche mittlerweile Standard ist, schnelle biochemische und Zelltests von Millionen unterschiedlicher Moleküle. Bei diesen Screenings werden Kunststoffgefässe mit winzigen Einbuchtungen verwendet, die jeweils ein experimentelles Muster mit einem Volumen von nur wenigen Mikrolitern enthalten. Abfall fällt freilich auch hier an: Bei Zehntausenden solcher Gefässe ergeben sich Hunderte Liter Sondermüll und tonnenweise Kunststoffabfälle, die aufgrund der Gefahr giftiger Verunreinigungen nicht recycelt werden können.

Ziel von Mic-Drop ist es, die Screenings auf die Grösse eines einzigen Chips zu bringen, der in die Handfläche passt. Durch die Miniaturisierung der Wirkstoffbeladung und der Bioassays auf die Grösse einer einzigen Zelle ermöglicht es die Plattform, Screenings mit Patientenzellen durchzuführen, die knapp sind und bei bisherigen Screening-Verfahren nicht zur Verfügung standen.

Die Idee zu Mic-Drop entstand in einem Gespräch zwischen Ken Yamada und Piro Siuti, einem synthetischen Biologen der NIBR, der im Fachgebiet Mikrofluidik promoviert hat. Yamada war auf der Suche nach einer schnellen Methode für Multiplex-Screenings anhand umfangreicher Substanzbibliotheken. Die tropfenbasierte Mikrofluidik, also die präzise Steuerung mikroskopisch kleiner Tröpfchen, bot die Möglichkeit, herkömmliche biologische Tests um das bis zu 100 000-Fache zu miniaturisieren.

«In der akademischen Forschung gingen Mikrofluidik-Anwendungen bisher noch nie über Machbarkeitsstudien hinaus», fügt Siuti an. «Es interessierte mich sehr, ob sich die Mikrofluidik im Pharmabereich nutzen liesse.» Bislang wurde sie in der Arzneimittelforschung noch nicht erfolgreich eingesetzt. Die Technologie bietet jedoch das Potenzial, biochemische und Zellexperimente auf die Grösse von Tropfen mit einem Durchmesser von nur einem Zehntelmillimeter zu verkleinern.

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Gianluca Etienne untersucht die Tröpfchen unter einem Mikroskop im MiC-Drop-Labor in Cambridge.

Ex­pe­ri­men­te mit Tröpf­chen

«Mit der von uns derzeit entwickelten Mic-Drop-Plattform können wir den Verbrauch an Reagenzien um das 100 000-Fache senken. So können Screenings mit mehr biologisch relevanten Zellen durchgeführt werden, die selten, also teuer sind. Auch der entstehende Flüssigabfall wird um den Faktor 1 Million reduziert», präzisiert Ken Yamada. «Bei einem typischen biologischen Screening anhand von einer Million Substanzen werden rund 1000 Screening-Platten aus Kunststoff eingesetzt. Wir können dasselbe Screening auf nur einem Chip durchführen, der in die Handfläche passt.»

Theoretisch wussten Yamada und Siuti, dass man mit der Mikrofluidik Milliarden mikroskopischer Tröpfchen lagern und messen kann, von denen jedes einzelne ein anderes Experiment enthält, und das bei einem Gesamtvolumen von nur wenigen Millilitern. Die Tröpfchen können hergestellt und mithilfe einer Öllösung voneinander separiert werden. Die Möglichkeit, diese Tröpfchen zu mischen, wäre auch ein entscheidender Faktor zur Beschleunigung des Screenings.

Bei der Ausarbeitung ihrer Idee wurden Yamada und Siuti von mehr als zwölf Kolleginnen und Kollegen aus Basel, Cambridge und vom Genomics Institute der Novartis Research Foundation unterstützt, wo an ähnlichen Projekten gearbeitet wird. Die Wissenschaftler erkannten zwar potenzielle Synergieeffekte durch Mikrofluidik-Technologien. Doch niemand von ihnen hatte bisher die Möglichkeit gehabt, sich intensiver mit diesen Ideen zu beschäftigen.

«Es war spannend festzustellen, dass sich bei Novartis auch andere für diese Konzepte interessierten und nebenbei daran arbeiteten», erinnert sich Siuti. «Doch bis zum Genesis-Projekt blieb es bei unkoordinierten Einzelaktionen. Erst das Projekt hat es ermöglicht, sie zu vereinen.»

Eine weitere zentrale Komponente des Mic-Drop-Konzepts ist neben der Mikrofluidik das effiziente Verfahren, mit dem die relevanten Tröpfchen identifiziert werden, nachdem Millionen davon miteinander vermischt wurden. Während der biologischen Messung weisen nur einige wenige Moleküle, und damit nur einige wenige Tröpfchen Aktivität auf, etwa indem sie fluoreszierend leuchten. Fluoreszierende Tröpfchen können so von nicht fluoreszierenden getrennt werden. Das Team setzt dann eine spezielle Barcode-Technik ein, um die Moleküle in den leuchtenden Tröpfchen zu bestimmen.

Mehr Effizienz und Nachhaltigkeit

Schon 2020 konnten dank des Mic-Drop-Prototypen die Abfallmengen und die Ressourcennutzung im erwarteten Mass reduziert werden. Die Plattform ist jetzt in der Lage, Screenings, die früher mehrere Wochen in Anspruch nahmen, innerhalb weniger Stunden durchzuführen. Das Mic-Drop-Team hofft, dass seine Plattform wie im Fall von MicroCycle zu einem offiziellen Novartis-Projekt wird.

«Wir möchten, dass sich die Mic-Drop-Plattform auf möglichst breiter Basis einsetzen lässt», führt Piro Siuti aus. «Mit dem Genesis-Labs-Programm hat sich unsere Zielgruppe erweitert. Jetzt sprechen uns viele Menschen an, die mitarbeiten möchten.» Ken Yamada zufolge ist das Interesse inzwischen so gross, «dass wir Prioritäten setzen müssen, mit welchen Projekten wir beginnen».

Zwischenzeitlich hat das MicroCycle-Team zwei Plattformen geschaffen: eine für den Standort Basel und eine weitere für Cambridge. Beide Labors sind mit allen für den kompletten Arbeitsablauf erforderlichen Instrumenten ausgestattet. Für jeden Schritt des Prozesses stehen fachkundige Experten bereit. «MicroCycle ist kein Ersatz für vorhandene Ansätze. Vielmehr handelt es sich um ein neues Tool als Ergänzung zum herkömmlichen Instrumentarium, das Arzneimittelforschern im Unternehmen zur Verfügung steht», erläutert Alexander Marziale. «Wir verbessern die Plattform ausserdem ständig, ergänzen sie um neue Komponenten und intensivieren die Zusammenarbeit mit den Projektgruppen.»

Das MicroCycle-Team sieht überdies noch zusätzliches Potenzial, die Nachhaltigkeit der Plattform zu optimieren. «Bisher haben wir nur eine Miniaturisierung um das 100-Fache erzielt», erinnert Jonathan Grob. «Es ist jedoch möglich, künftig das 200-Fache zu schaffen.»

Mic-Drop und MicroCycle sind zwar überaus eindrucksvolle Initiativen, bewegen sich bisher allerdings noch in einem Nischenbereich. Beide werden bereits weiterentwickelt, um ihren Nutzen für das gesamte Forschungsportfolio von Novartis zu erhöhen.

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