Pilar Junier ist Professorin für Umweltmikrobiologie an der Universität Neuchâtel, wo sie mikrobielle Interaktionen und Pilzerkrankungen in der Natur erforscht. Durch das FreeNovation-Projekt der Novartis Stiftung erhielt sie erstmals die Chance, ihre Forschungsergebnisse auf die Humanmedizin zu übertragen.
Text von Michael Mildner, Fotos von Laurids Jensen
Ein Pilzmodell an der Universität Neuchâtel.
Publiziert am 03/10/2022
Beim Durchqueren des Mikrobiologie-Forschungstrakts der Universität Neuchâtel in Begleitung von Pilar Junier fallen uns als Erstes Pilzmodelle auf. Rund ein Dutzend davon stehen an diesem sonnigen Frühlingsmorgen in den Fensternischen des modernen Gebäudes hoch über dem Neuenburgersee mit Blick auf die Alpen.
Giftige und essbare Arten sind deutlich gekennzeichnet, und uns wird schnell klar, welche Gefahr sich hinter dem scheinbar harmlosen Gemeinen Kartoffelbovist oder dem Roten Fliegenpilz verbirgt.
Zwar wirken die vielfältigen Farben und Formen der Pilze auf dem blanken Beton der Fensternischen recht exotisch, aber sie sind in der Natur allgegenwärtig und somit ein naheliegendes und zentrales Objekt für Junier und ihr 30-köpfiges Labor- und Forscherteam.
In den Labors zeigt uns die Professorin die zahlreichen Petrischalen und Analysegeräte, mit denen die Wechselwirkung zwischen Pilzen und anderen mikrobiellen Systemen in der Umwelt untersucht werden. Die Türen stehen meist offen, und das emsige Treiben der Studierenden und Doktoranden auf den Gängen und in den Labors wirkt wie ein eigener Mikrokosmos innerhalb der Universität, der sich intensiv und sehr konzentriert einer geheimnisvollen Aufgabe widmet.
Dieser Mikrokosmos dreht sich ganz offensichtlich um die 44-jährige Pilar Junier, und ein Blick in eines ihrer 12 Forschungslabors genügt ihr, um den dort Arbeitenden die nötigen Anweisungen in genau der Sprache zu geben, die sie am besten verstehen – in Französisch, Englisch, Deutsch, aber auch in Spanisch, ihrer Muttersprache.
Professorin und mehr
Pilar Junier wurde in Kolumbien geboren, wo sie auch studierte. Das Land liegt am pazifischen Feuerring: sechs der insgesamt zehn Vulkane des Landes gelten als noch aktiv. Einen Teil dieser Energie hat Junier offenbar aus ihrer Heimat mitgebracht, denn anders lässt sich kaum erklären, wie sie ihre vielfältigen Aufgaben unter einen Hut zu bringen vermag.
Als Professorin leitet sie das Mikrobiologielabor an der Uni Neuchâtel, wo sie auch doziert, Mentorin für PhD- und Master-Studenten ist und Biologielaboranten ausbildet. Dazu kommen die Entwicklung neuer Projekte und Ideen sowie die Beschaffung von finanziellen Mitteln für das Weiterbestehen der Labors. Bleibt dann noch Zeit übrig, arbeitet sie daran, den Traum einer eigenen Firma in die Tat umzusetzen.
Mit dem FreeNovation-Projekt der Novartis Stiftung, das 2016 ins Leben gerufen wurde und der Förderung von innovativen Ideen in der Medizin dient, hätte Junier gleich mehrere Punkte auf ihrer To-do-Liste erledigen können. Doch wie kommt eine Umweltmikrobiologin, die sich in ihrer bisherigen Laufbahn noch nie mit Medizin beschäftigt hat, zu einem Förderbeitrag einer Stiftung für biopharmazeutische und medizinische Forschung?
Eine verrückte Idee
Für den Antrag bei FreeNovation musste Junier zur Unterstützung ihrer Idee keine patientenbezogenen Daten vorlegen. Das wäre zu diesem Zeitpunkt auch nicht möglich gewesen, wie sie uns freimütig erzählt. Positiv war auch, dass der Entscheid beim Auswahlprozess von einer Jury getroffen wurde, die ganz bewusst keinen Einblick in den Lebenslauf von Junier erhielt, sondern nur die Qualität der eingereichten Idee zu beurteilen hatte. «Deshalb erlaubten sie einer Umweltmikrobiologin, ein medizinisches Projekt durchzuführen. Ich hatte ja gar keinen Background in Pneumologie oder so. Aber ich hatte einfach diese verrückte Idee, mit Menschen zu arbeiten», erinnert sich Junier.
Die «verrückte Idee» kam Pilar Junier und ihrem Team allerdings nicht im Traum, sondern aufgrund der langjährigen Forschungsarbeit in Umweltmikrobiologie. Junier hatte zusammen mit einem Postdoc-Wissenschaftler und einer Doktorandin, dem 30-jährigen Fabio Palmieri und der um ein Jahr jüngeren Aislinn Estoppey, bereits zahlreiche Projekte mit Bodenproben durchgeführt. Ihr Hauptinteresse galt dabei der Interaktion zwischen Oxalsäure, Pilzen und Bakterien – ein traditioneller Ansatz im Bereich der Umweltmikrobiologie, der beispielsweise auch zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und Speicherung von CO2 in der Erde untersucht wird.
«Die grundsätzliche Frage in unserem FreeNovation-Antrag lautete: Warum betrachten wir die Menschen nicht wie unsere Bodenproben, als etwas, das einfach ein bisschen komplexer ist als nur menschliche Zellen?», erzählt Junier und liefert gleich eine konkrete Aufgabenstellung dazu: «Jedes Jahr sterben rund 1,5 Millionen Menschen an Pilzerkrankungen, und die aktuellen Behandlungsmethoden sind sehr limitiert. Deshalb wollten wir unser während Jahren erworbenes Wissen über Pilze nutzen und untersuchen, ob und wie wir eine therapeutische Alternative zur Beherrschung krankheitserregender Pilze in der Humanmedizin einsetzen können.»
Zwei Seiten einer Substanz
In ihren bisherigen Experimenten hatten Junier und ihr Team herausgefunden, dass Oxalsäure ein entscheidender Umweltfaktor bei der Interaktion zweier grundlegender Elemente des menschlichen Mikrobioms ist: Bakterien und Pilze. In der Umweltmikrobiologie ist die Absonderung von Oxalsäure, beispielsweise bei Pilzen, nicht nur gewöhnlich, sondern für deren Überleben sogar essenziell.
Beim Menschen allerdings können besonders die Salze der Oxalsäure, etwa Kalziumoxalat, gesundheitliche Probleme hervorrufen. Auch in den Lungen von immungeschwächten Patienten, die an Schimmelpilzinfektionen leiden, wurden Kristalle von Kalziumoxalaten gefunden.
Das Einatmen von Pilzsporen alleine ist zwar noch kein Grund zur Sorge, wie Junier erklärt: «Jeder Mensch atmet täglich Tausende von Sporen ein, aber bei Gesunden löst das keine Probleme aus. Bei immungeschwächten Patienten hingegen kann das zur Besiedelung des Lungengewebes mit Sporen und schliesslich zu Pilzbefall führen.»
Auf dieser Basis formulierte Juniers Team seine Hypothese für das FreeNovation-Projekt, die besagt, dass Pilze auch in der menschlichen Lunge Oxalsäure produzieren, um eine optimale Umgebung für ihre weitere Entwicklung zu schaffen.
Von links nach rechts: Aislinn Estoppey, Pilar Junier und Fabio Palmieri von der Universität Neuchâtel testen ihre Entdeckungen in der Umweltbiologie für die Anwendung in der Humanmedizin.
Eine weitere Erkenntnis der Forschungsgruppe hat gar das Potenzial, wesentlich zur erfolgreichen Entwicklung einer alternativen Behandlungsmethode für Pilzerkrankungen beizutragen. Bei früheren Untersuchungen von Oxalaten in Bodenproben konnten Junier und ihr Team einen bakteriellen Metabolismus identifizieren, der den Verzehr von Oxalaten erklärt.
Die entscheidende Frage war nun, ob oxalatabbauende Bakterien das Wachstumspotenzial krankheitserregender Pilze, die diese Salze quasi als Nahrung benötigen, einschränken können. Um ihre Annahmen zu überprüfen, wählten Junier und ihr Team den weit verbreiteten Schwarzschimmel (Aspergillus niger) als krankheitserregenden Pilz und das Gartenerde-Isolat Cupriavidus oxalaticus als oxalatkonsumierendes Bakterium.
Der innovative Ansatz ihrer Forschungsarbeit im Rahmen des FreeNovation-Projekts besteht nun darin, eine mögliche Behandlung auf eine Modifikation der «Umwelt» des Patienten auszurichten, in der der Krankheitserreger gedeiht, anstatt direkt auf den Krankheitserreger zu zielen.
Petrischalen und Zahlen
Um diese Hypothese zu überprüfen, wurde der Schimmelpilz zuerst in einem Medium kultiviert, das für die Züchtung und das Wachstum menschlicher Lungenzellen verwendet wird. Die Resultate entsprachen durchwegs den Erwartungen des Forschungsteams: In denjenigen Petrischalen, die neben dem Pilz auch das oxalatkonsumierende Bakterium enthielten, blieb der pH-Wert auf dem physiologischen Level von 7,5, die Konzentration an Oxalsäure reduzierte sich um rund 90 Prozent und das Wachstum des Pilzes wurde durch das Bakterium deutlich eingeschränkt.
«Alle anderen Proben, die nur den Schimmelpilz und das Medium enthielten, zeigten eine gelbe Verfärbung und einen Wechsel des pH-Wertes auf 4,5. Der Pilz produzierte also Oxalsäure, um sein eigenes Wachstum zu unterstützen», beschreibt Junier die Beobachtungen und somit die Bestätigung ihrer Hypothese.
Doch was in der Petrischale gelingt, scheitert in der weitaus komplexeren «realen Welt» oft genug. Deshalb beschloss das Forschungsteam, diese Resultate mit echten menschlichen Lungenzellen zu überprüfen – ein Muss im Hinblick auf einen weiteren Schritt in Richtung medizinischer Anwendung bei Patienten. Doch in der Schweiz fand sich kein geeigneter Partner für diese Forschungen.
Internationale Zusammenarbeit
Für dieses nächste Stadium musste der Doktorand Fabio Palmieri deshalb 2019 in die USA reisen, wo er zusammen mit einem Team des Los Alamos National Laboratory in New Mexico Versuche auf bronchialem Lungengewebe durchführte. Auch hier wurden die Experimente sowohl mit als auch ohne das oxalatkonsumierende Bakterium durchgeführt. Die Ergebnisse wurden anhand von drei Parametern gemessen und beurteilt: pH-Wert, Kalzium- und Oxalsäurekonzentration.
«Was wir bei diesen Experimenten gesehen haben, übertraf unsere Hoffnungen und Erwartungen», berichtet Palmieri. «Dort, wo wir nur den Schimmelpilz auf dem Lungengewebe eingesetzt hatten, waren sowohl der pH- und der Kalziumwert als auch der Gehalt an freier Oxalsäure tiefer als bei den Proben mit dem Bakterium. Wir konnten beim Schimmelpilz sogar Kristalle von Kalziumoxalat auf den Bronchialzellen feststellen, während das in Anwesenheit des Bakteriums nicht der Fall war.» Ausserdem zeigte sich bei diesen Experimenten auch die Aggressivität des Schimmelpilzes, der das Bronchialgewebe vollständig zerstörte.
Der befreite Blick
Pilar Junier und ihr Team sind sehr zufrieden mit dem, was sie im Rahmen des FreeNovation-Projektes erreicht haben: «Wir sind mit einer verrückten Idee und einem ungewöhnlichen Ansatz gestartet, und jetzt haben wir handfeste Beweise dafür, dass wir nicht ganz so verrückt sind, wie es zu Beginn unserer Arbeit vielleicht ausgesehen hat», meint Pilar Junier rückblickend, «denn unsere Resultate zeigen klar, dass der Einsatz von Bakterien einen messbaren Einfluss auf den Verlauf einer Pilzinfektion auch in der menschlichen Lunge hat.»
Der Weg bis zur Einführung einer neuen, innovativen Therapie auf der Basis ihrer Grundlagenforschungen ist jedoch noch weit, dessen sind sich Junier, Palmieri und Estoppey, die drei Forscher des Kernteams, absolut bewusst. So müssen die bisher erzielten Resultate beispielsweise noch in einem In-vivo-Mausmodell validiert werden. Auf jeden Fall liefert ihre Arbeit aber die Grundlagen und spannende Perspektiven für weitere Projekte, die sich auf die Isolierung und Charakterisierung weiterer oxalotrophischer Bakterien aus dem Lungenmikrobiom konzentrieren.
Wir verabschieden uns von Pilar Junier und ihrem Team und treten aus dem ehemaligen Gefängnisgebäude, das heute den Mittelteil zwischen den beiden modernen Anbauten des Universitätsgebäudes hoch über der Altstadt von Neuchâtel bildet, ins Freie. Es ist ein bisschen wie im Film, denn der Ausblick auf den Neuenburgersee und die noch schneebedeckten Gipfel der Alpen ist atemberaubend schön. Und es ist wie so oft bei FreeNovation-Projekten: Der Schritt aus dem Gefängnis althergebrachter Forschungsansätze öffnet einzigartige Perspektiven!
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