Der Durchbruch verhalf Liberali und ihrem Team, das auf mehr als ein Dutzend Spezialistinnen und Spezialisten aus verschiedenen Bereichen der Biologie, Physik und Chemie angewachsen ist, zu den begehrten Fördermitteln des Europäischen Forschungsrats (ERC), die im Rahmen des Horizon-Forschungsprogramms der Europäischen Union gewährt werden.
«Wenn ich einen Antrag auf ERC-Fördermittel schreibe, sagen mir viele Leute oft, meine Ideen seien zu ehrgeizig, zu verrückt. Aber wenn es dann zu einem Vorstellungsgespräch kommt, kann ich ziemlich überzeugend sein, denn ich habe diese ‹Macher-Einstellung›.»
Das Video, das ihr Team produziert hatte, war hilfreich, als sie vor einigen Jahren Fördermittel beantragte. «Wenn ich den Mitgliedern der Jury einfach gesagt hätte, dass ich das einzige Mikroskop gebaut habe, das das Organwachstum im zeitlichen Verlauf darstellen kann, hätten sie das wahrscheinlich mit einem Achselzucken abgetan. Doch als ich ihnen das Video zeigte, sah ich, wie sich ihre Gesichter veränderten und uns dies half, die Fördermittel zu erhalten.»
Dass dies alles in einem relativ kurzen Zeitrahmen möglich war, liegt laut Liberali vor allem daran, dass sie die richtigen Leute im Labor hatte und Vertrauen zu ihren Kollegen aufbauen konnte. «Sie können den Mitarbeitenden sagen, sie sollen zum Mond und zurück fliegen. Aber man muss sich der Verantwortung bewusst sein, dass auch die Kolleginnen und Kollegen ihre eigene Karriere aufs Spiel setzen, wenn Sie versagen. Deshalb ist es wichtig, das richtige Umfeld zu schaffen, damit auch sie sich entfalten können.»
Verrückte Ideen
Das FMI, so Liberali, biete dieses Umfeld, sowohl im Hinblick auf die Zielsetzung als auch auf die Umsetzung. Das Institut wurde 1970 von den Novartis-Vorgängerunternehmen Ciba und Geigy gegründet, um die Kluft zwischen der Forschung im Hochschulbereich und der Industrie zu überbrücken. Seit über 50 Jahren ist es ein wichtiger Impulsgeber der Grundlagenforschung und lockt einige der besten Wissenschaftler Europas nach Basel.
«Hier kann ich Risiken eingehen und Dinge tun, die ich noch nie getan habe», so Liberali. «Das FMI ist daher der ideale Ort, an dem man sich ganz auf die Innovationstätigkeit konzentrieren und die praktischen Einsatzmöglichkeiten der eigenen Arbeit sofort sehen kann. Zudem profitiert man von der Interaktion und Zusammenarbeit mit einem branchenführenden Unternehmen wie Novartis.»
Heute verfügt das FMI über 20 Forschungsgruppen und beschäftigt rund 340 Wissenschaftler aus 44 Ländern. Das FMI erzielte frühe Durchbrüche in der Krebsforschung, die auch den Arzneimittelentwicklungsprogrammen von Novartis zugutekamen. Das Institut konzentriert sich derzeit auf die Forschungsbereiche Neurobiologie, Genomregulation und multizelluläre Systeme. Es ist zudem eines der erfolgreichsten Forschungsinstitute in Europa, was den Erhalt von ERC-Fördermitteln angeht.
Dies steht nun jedoch auf dem Spiel, da die Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union teilweise ausgeschieden ist. «Das ist sehr schlecht, sowohl im Hinblick auf den Wettbewerb als auch auf die Finanzierung», so Liberali. «Die Hauptgründe, warum ich in die Schweiz gekommen bin, sind das hohe Ansehen der Wissenschaft und das leistungsorientierte System, in dem wir arbeiten, aber auch, dass die Schweiz am Horizon-Programm teilnehmen kann.»
Durch das Ausscheiden aus dem europäischen System, so Liberali im Einklang mit anderen Wissenschaftlern, verlieren die Grundlagenforscher nicht nur den Zugang zu Finanzmitteln: «Was wir auch verlieren, ist der Zugang zu den besten Gutachtern und Ausschüssen, die unsere Arbeit kompetent bewerten und die Mittel entsprechend den besten wissenschaftlichen Leistungen vergeben können. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, mit den Besten zu konkurrieren, und das ist sicherlich ein Nachteil», so Liberali.
Liberali übertreibt nicht, wenn sie von den herausragenden wissenschaftlichen Leistungen des FMI spricht. Viele Wissenschaftler des FMI erhalten regelmässig einige der weltweit renommiertesten Wissenschaftspreise. So wurde dieses Jahr Silvia Arber mit dem Brain Prize und Nicola Thomä mit dem Otto Naegeli-Preis ausgezeichnet. 2021 erhielt Piero Caroni den Wissenschaftspreis der Stadt Basel; Liberali selbst wurde gerade mit der EMBO-Goldmedaille 2022 ausgezeichnet, mit der herausragende Biowissenschaftler in der Anfangsphase ihrer Karriere geehrt werden. Ausserdem ist sie Trägerin des Friedrich-Miescher-Preises.
«Das spiegelt das hohe Niveau der wissenschaftlichen Forschung wider, die hier am FMI betrieben wird, was auch eine Folge dessen ist, dass wir mit anderen Instituten in Europa im Wettbewerb stehen. Die Herausforderung, diesen Wettlauf nicht fortsetzen zu können, kann also kurz- und langfristig negative Folgen haben, wenn es uns nicht gelingt, junge und motivierte Wissenschaftler anzuwerben.»
Während die Schweiz versucht, den vollen Zugang zu Horizon Europe neu auszuhandeln, wird Liberali ihre Arbeit an der Organoidforschung fortsetzen und versuchen, bestmögliche wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Doch sie bekräftigt: «Um wissenschaftliche Spitzenforschung betreiben zu können, braucht man die besten Leute. Stellen Sie sich vor, ich hätte nicht mit meinen Mikroskopspezialisten und all den anderen Wissenschaftlern zusammenarbeiten können, die sich dem Team angeschlossen haben ... Meine verrückten Ideen wären genau das geblieben – verrückte Ideen.»
