Auf der Suche nach mehr
Breites Spektrum an Fähigkeiten
Macher-Einstellung
content-image
Menschen
00

Sprung ins Ungewisse

Prisca Liberali und ihr Team am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research (FMI) in Basel haben innovative Instrumente entwickelt, um zu untersuchen, wie sich Zellen zu Systemen organisieren, und damit den Weg für ein tieferes Verständnis von Biologie und Medizin geebnet. Risikobereitschaft und Wettbewerbs­fähigkeit dienen Liberali als Leitplanken für ihre wissenschaftliche Arbeit, die, wie sie sagt, durch den teilweisen Ausschluss der Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe gefährdet ist.

Text von Goran Mijuk, Fotos von Laurids Jensen

scroll-down
Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon
content-image
Enter fullscreen

Nach ihrer Isolierung werden die Organoide in speziellen Kulturplatten aufgezogen. Dickdarmorganoide können die physiologischen Eigenschaften des menschlichen Magen-Darm-Systems nachahmen.

arrow-rightAuf der Suche nach mehr
arrow-rightBreites Spektrum an Fähigkeiten
arrow-rightMacher-Einstellung

Publiziert am 22/08/2022

Während wir durch die engen, dunkelblau gestrichenen Gänge des FMI schreiten und immer tiefer ins Untergeschoss des Forschungsgebäudes im Industriequartier Rosental im Nordosten Basels vordringen, steigt mit jedem Schritt das Gefühl von Orientierungslosigkeit, und wir tauchen ein in eine Welt rätselhafter wissenschaftlicher Geheimnisse.

Im Untergeschoss, wohin kein Tageslicht mehr durchdringt, betreten wir eine Dunkelkammer mit Hightech-Ausstattung, die das Potenzial hat, Medizin und Biologie zu verändern. Im scheinbar provisorisch eingerichteten Raum mit einigen wenigen Tischen wird uns ein einzigartiges Lasermikroskop vorgestellt, das Aufschluss darüber geben kann, wie sich Zellen zu lebenden Systemen formen.

So unscheinbar die bildgebende Technologie für den Laien auch ausschaut, so schön und informativ ist doch das Schauspiel, das sie aufzuschlüsseln vermag. Liberali und ihr Team sind nicht nur in der Lage, mithilfe des Instruments hochauflösende Bilder einzelner Zellen zu erstellen. Sie können auch Filme produzieren, die zeigen, wie Zellformationen aus einer einzigen Zelle entstehen – den biologischen Tanz der Natur.

Es hat Jahre gedauert, dieses System zu entwickeln, das aus einer speziellen Bildgebungseinheit und einem biologischen System besteht, das Verfahren der Genetik sowie wegweisende Biotechnologie nutzt. Vor allem aber waren es Liberalis persönlicher Antrieb und ihre Zielstrebigkeit, die sie dazu brachten, diese Infrastruktur aufzubauen und eine der grössten Forschungsgruppen am FMI aufzubauen.

content-image
Enter fullscreen

In Kultur gezüchtete Organoidproben müssen vor der Analyse durch Zugabe bestimmter Chemikalien stabilisiert werden.

Auf der Su­che nach mehr

«Angefangen habe ich als Chemikerin, mich aber zunehmend für molekulare Zellstrukturen interessiert, worauf ich mich während meiner Doktorandenzeit konzentrierte», so Liberali, die ihre prägenden Hochschuljahre an der Universität La Sapienza in Rom und später in der Schweiz verbrachte. «Danach begann ich mich schwerpunktmässig damit zu beschäftigen, wie sich Zellen selbst organisieren und kollektiv verhalten.»

Eine brennende Frage, die sie während ihrer gesamten Laufbahn beschäftigte, in der sie auch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule und an der Universität Zürich tätig war, brachte sie in ihrem TED Talk 2018 auf den Punkt: «Ich fand es schon immer faszinierend, was Aristoteles sagte – Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – und ich fragte mich, was dieses ‹Mehr› denn eigentlich ist.»

Als sie 2015 ihre Stelle als Forschungsgruppenleiterin beim FMI antrat, machte sie sich auf die Suche nach einer Antwort auf diese Frage. Diese Suche erforderte unter anderem, dass sie mit der Stammzelltechnologie arbeitete. Mit diesem Instrument können Wissenschaftler normale Haut- oder Blutzellen in Stammzellen zurückverwandeln.

Die Stammzellen können danach in jede andere Art von Zellen umprogrammiert werden, sogar in Organoide – Zellhaufen, die sich wie Quasi-Organe verhalten. Die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Technik ermöglicht es der Wissenschaft, Organe auf nichtinvasive Weise zu untersuchen, zum Beispiel das Gehirn oder, wie im Fall von Liberali, den Darm.

Aber um wirklich zu verstehen und zu erkennen, wie sich diese Zellen entwickeln und zu Systemen formen und wie sie miteinander interagieren, musste Liberali weit gehen. «Ich wollte an diesen Organoiden arbeiten, und zwar gleich in den ersten Monaten, als ich am FMI ankam. Aber das schien sehr schwierig zu sein. Ich gehe gern Risiken ein und mag den Sprung ins Ungewisse. Ich probierte verschiedene Arten von Mikroskopen aus und war sogar auf dem Janelia Research Campus in Washington, um mit Nobelpreisträger Eric Betzig zu arbeiten und seine hochmoderne Bildgebungstechnologie zu nutzen. Aber das brachte nicht die richtigen Ergebnisse. Also haben wir das Mikroskop, das wir brauchten, am FMI selbst gebaut.»

content-image
Enter fullscreen

Diese Zentrifuge ist für Screenings mit mittlerem bis hohem Durchsatz ideal und dient der Aufreinigung und Trennung der Proben in verschiedene Komponenten nach ihrer Dichte.

Brei­tes Spek­trum an Fä­hig­kei­ten

Um das Mikroskop zu entwickeln, erweiterte Liberali die Kompetenzen ihrer Gruppe und nahm Optikingenieure in ihr Spezialistenteam auf. «Ich fand diese Jungs, die genauso verrückt waren wie ich», erinnert sich Liberali. «Und ich nahm mein Startkapital und sagte: ‹Lasst uns dieses Mikroskop bauen.› Ich habe wochenlang kaum geschlafen, weil ich dachte: ‹Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Wenn das hier nicht klappt, dann ist es vorbei.›»

Dem Team gelang es jedoch, eine bildbasierte High-Content-Screening-Plattform zu entwickeln, also ein Mikroskop, das überhaupt nicht wie ein Mikroskop aussieht, die Entstehung von Zellsystemen aber dennoch in Echtzeit auf Film festhalten kann.

Liberali ist immer noch begeistert, wenn sie an den Moment denkt, als sie zum ersten Mal das Video sah, das zunächst ein Flackern von rot-grünen Punkten zeigt, bevor sich die Zellen zu einem ringförmigen Cluster entwickeln, wie bei einem Ballett aus farbigen Seifenblasen. «Es war einfach unglaublich zu sehen, wie sich alles zu einem Ganzen zusammenfügte, wenn wir den dreiwöchigen Prozess auf ein paar Sekunden verkürzt abbildeten.»

Das bildgebende Verfahren ist nicht nur schön anzuschauen, sondern liefert auch wichtige Erkenntnisse darüber, wie sich Zellen zu grösseren Clustern zusammenschliessen und wie sie während ihres Wachstums miteinander interagieren und kommunizieren. Dies, so Liberali, sei nicht zuletzt wichtig, um die Entstehung von Krankheiten wie Krebs zu verstehen, die nicht immer durch Gene, sondern auch durch andere Faktoren wie das Immunsystem oder das Alter ausgelöst werden.

«Wir haben jetzt zum Beispiel 100 Organoidlinien von Patienten, von denen wir den Tumor einer Dickdarmkrebserkrankung und gesundes Gewebe haben. Wir können also Tumorzellen und gesunde Zellen desselben Patienten vergleichen. Damit vermögen wir die Variabilität zwischen den menschlichen Individuen detailliert zu untersuchen und zu verstehen, woher die Krankheit kommt, und zwar ganz grundlegend», so Liberali.

content-image
Enter fullscreen

Das Labor von Liberali am FMI (linke Seite, von links nach rechts): Gustavo Quintas Glasner de Medeiros, Quitan Yang, Chiara Azzi, Silvia Barbiero, Prisca Liberali, Alexis Haan, Nicole Repina; (rechte Seite, von links nach rechts): Ludivine Challet Meylan, Emma Streutker, Maurice Kahnwald, Koen Oost, Franziska Moos, Véronique Kalck, Simon Suppinger.

Ma­cher-Ein­stel­lung

Der Durchbruch verhalf Liberali und ihrem Team, das auf mehr als ein Dutzend Spezialistinnen und Spezialisten aus verschiedenen Bereichen der Biologie, Physik und Chemie angewachsen ist, zu den begehrten Fördermitteln des Europäischen Forschungsrats (ERC), die im Rahmen des Horizon-Forschungsprogramms der Europäischen Union gewährt werden.

«Wenn ich einen Antrag auf ERC-Fördermittel schreibe, sagen mir viele Leute oft, meine Ideen seien zu ehrgeizig, zu verrückt. Aber wenn es dann zu einem Vorstellungsgespräch kommt, kann ich ziemlich überzeugend sein, denn ich habe diese ‹Macher-Einstellung›.»

Das Video, das ihr Team produziert hatte, war hilfreich, als sie vor einigen Jahren Fördermittel beantragte. «Wenn ich den Mitgliedern der Jury einfach gesagt hätte, dass ich das einzige Mikroskop gebaut habe, das das Organwachstum im zeitlichen Verlauf darstellen kann, hätten sie das wahrscheinlich mit einem Achselzucken abgetan. Doch als ich ihnen das Video zeigte, sah ich, wie sich ihre Gesichter veränderten und uns dies half, die Fördermittel zu erhalten.»

Dass dies alles in einem relativ kurzen Zeitrahmen möglich war, liegt laut Liberali vor allem daran, dass sie die richtigen Leute im Labor hatte und Vertrauen zu ihren Kollegen aufbauen konnte. «Sie können den Mitarbeitenden sagen, sie sollen zum Mond und zurück fliegen. Aber man muss sich der Verantwortung bewusst sein, dass auch die Kolleginnen und Kollegen ihre eigene Karriere aufs Spiel setzen, wenn Sie versagen. Deshalb ist es wichtig, das richtige Umfeld zu schaffen, damit auch sie sich entfalten können.»

Verrückte Ideen

Das FMI, so Liberali, biete dieses Umfeld, sowohl im Hinblick auf die Zielsetzung als auch auf die Umsetzung. Das Institut wurde 1970 von den Novartis-Vorgängerunternehmen Ciba und Geigy gegründet, um die Kluft zwischen der Forschung im Hochschulbereich und der Industrie zu überbrücken. Seit über 50 Jahren ist es ein wichtiger Impulsgeber der Grundlagenforschung und lockt einige der besten Wissenschaftler Europas nach Basel.

«Hier kann ich Risiken eingehen und Dinge tun, die ich noch nie getan habe», so Liberali. «Das FMI ist daher der ideale Ort, an dem man sich ganz auf die Innovationstätigkeit konzentrieren und die praktischen Einsatzmöglichkeiten der eigenen Arbeit sofort sehen kann. Zudem profitiert man von der Interaktion und Zusammenarbeit mit einem branchenführenden Unternehmen wie Novartis.»

Heute verfügt das FMI über 20 Forschungsgruppen und beschäftigt rund 340 Wissenschaftler aus 44 Ländern. Das FMI erzielte frühe Durchbrüche in der Krebsforschung, die auch den Arzneimittelentwicklungsprogrammen von Novartis zugutekamen. Das Institut konzentriert sich derzeit auf die Forschungsbereiche Neurobiologie, Genomregulation und multizelluläre Systeme. Es ist zudem eines der erfolgreichsten Forschungsinstitute in Europa, was den Erhalt von ERC-Fördermitteln angeht.

Dies steht nun jedoch auf dem Spiel, da die Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union teilweise ausgeschieden ist. «Das ist sehr schlecht, sowohl im Hinblick auf den Wettbewerb als auch auf die Finanzierung», so Liberali. «Die Hauptgründe, warum ich in die Schweiz gekommen bin, sind das hohe Ansehen der Wissenschaft und das leistungsorientierte System, in dem wir arbeiten, aber auch, dass die Schweiz am Horizon-Programm teilnehmen kann.»

Durch das Ausscheiden aus dem europäischen System, so Liberali im Einklang mit anderen Wissenschaftlern, verlieren die Grundlagenforscher nicht nur den Zugang zu Finanzmitteln: «Was wir auch verlieren, ist der Zugang zu den besten Gutachtern und Ausschüssen, die unsere Arbeit kompetent bewerten und die Mittel entsprechend den besten wissenschaftlichen Leistungen vergeben können. Dadurch verlieren wir die Fähigkeit, mit den Besten zu konkurrieren, und das ist sicherlich ein Nachteil», so Liberali.

Liberali übertreibt nicht, wenn sie von den herausragenden wissenschaftlichen Leistungen des FMI spricht. Viele Wissenschaftler des FMI erhalten regelmässig einige der weltweit renommiertesten Wissenschaftspreise. So wurde dieses Jahr Silvia Arber mit dem Brain Prize und Nicola Thomä mit dem Otto Naegeli-Preis ausgezeichnet. 2021 erhielt Piero Caroni den Wissenschaftspreis der Stadt Basel; Liberali selbst wurde gerade mit der EMBO-Goldmedaille 2022 ausgezeichnet, mit der herausragende Biowissenschaftler in der Anfangsphase ihrer Karriere geehrt werden. Ausserdem ist sie Trägerin des Friedrich-Miescher-Preises.

«Das spiegelt das hohe Niveau der wissenschaftlichen Forschung wider, die hier am FMI betrieben wird, was auch eine Folge dessen ist, dass wir mit anderen Instituten in Europa im Wettbewerb stehen. Die Herausforderung, diesen Wettlauf nicht fortsetzen zu können, kann also kurz- und langfristig negative Folgen haben, wenn es uns nicht gelingt, junge und motivierte Wissenschaftler anzuwerben.»

Während die Schweiz versucht, den vollen Zugang zu Horizon Europe neu auszuhandeln, wird Liberali ihre Arbeit an der Organoidforschung fortsetzen und versuchen, bestmögliche wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Doch sie bekräftigt: «Um wissenschaftliche Spitzenforschung betreiben zu können, braucht man die besten Leute. Stellen Sie sich vor, ich hätte nicht mit meinen Mikroskopspezialisten und all den anderen Wissenschaftlern zusammenarbeiten können, die sich dem Team angeschlossen haben ... Meine verrückten Ideen wären genau das geblieben – verrückte Ideen.»

icon

Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon