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«Selbst ohne Mikroskop sieht man manchmal mit blossem Auge, dass die Miniherzen schlagen», erzählt Makoto Hara, Gruppenleiter in der Abteilung Cardiovascular Discovery von Novartis Biomedical Research. «Wenn ich mich an den ersten Morgen zurückerinnere, an dem ich das Schlagen sah, war ich so aufgeregt, dass ich das Video mit nach Hause nahm und meiner Tochter zeigte. Das gesamte Team wusste, dass wir endlich damit beginnen konnten, die Forschungsfragen zu beantworten, die wir uns seit vielen Jahren gestellt hatten», erläutert Hara. Der Anblick der pumpenden Miniherzen ist das Ergebnis jahrelanger Zusammenarbeit verschiedener Forschungsteams – von Biologen über Arzneimittelforscher bis hin zu Daten- und Engineering-Experten.

Makoto Hara:
Niemals aufgeben.

Alles begann Mitte der 2010er-Jahre, als das Team an einem Wirkstofftarget arbeitete, das laut den Ergebnissen von Wissenschaftlern aus dem Hochschulbereich eine Rolle bei der Entspannung der Herzmuskulatur spielte. Ein Molekül zu finden, das an diesem Target angreift, galt als ideale Vorgehensweise für die Entwicklung einer Therapie gegen Herzinsuffizienz, bei der das Herz Mühe hat, ausreichend Blut durch den Körper zu pumpen. Doch Hara und das Team standen vor grossen Herausforderungen: Das Ziel war mit herkömmlichen Forschungsmethoden nicht zu erreichen. Klassische Substanztests, bei denen 2D-Schichten aus tierischen oder menschlichen Zellen verwendet werden, enthielten nicht die von Hara benötigten wesentlichen Elemente.

Von 2D zu 3D

Die Gruppe um Hara wollte zunächst verstehen, wie sich der Herzmuskel unter dem Einfluss einer bestimmten Substanz entspannt. Dazu musste das verwendete Modell dreidimensional sein und sich wie ein Herz verhalten, um die nötigen Erkenntnisse liefern zu können. Hara und sein Team versuchten mehrere Jahre lang, möglichst viele Erkenntnisse mit konventionellen Methoden zu erlangen. Ihre Bemühungen erhielten starken Aufwind, als sie von Brian Clark, einem Kollegen bei Novartis, von der Möglichkeit erfuhren, ihr 2D-Modell aufzurüsten und 3D-Miniherzen für Arzneimitteltests herzustellen.

Die Stifte auf den Testplatten bewegen sich mit dem Schlag der Mini-Herzen, so dass die Forscher die von ihnen erzeugte Kraft quantifizieren können.

«Bei 2D-Tests konnten wir die Schlagfrequenz der Zellen messen, jedoch nicht quantifizieren, wie stark die Schläge waren oder wie schnell sich die Zellen entspannten», erläutert Hara. «Das waren aber genau die Informationen, die wir brauchten und die wir mithilfe des 3D-Modells erhalten wollten.»

Die Erstellung des verbesserten Modells war alles andere als einfach. Eine Reihe von Teams arbeitete mehrere Jahre daran. Neben der Herstellung der Miniherzen mithilfe der induzierten pluripotenten Stammzelltechnologie (iPSC) entwickelten sie speziellen Testplatten, damit die Miniherzen wie echte Herzen schlagen konnten. Zudem entwickelten sie ein Videosystem, das von den schlagenden Herzen Aufnahmen anfertigt, sowie eine spezielle, auf künstlicher Intelligenz beruhende Datenanalysemethode.

Das Team von Hara, dem auch Swetha Siva und Lucas Goguen angehörten, arbeitete an der Zellkultur für die Plattform. In Zusammenarbeit mit Teammitglied Joe Wamstad entnahm Siva iPSC-Zellen aus menschlichen Hautzellen und wandelte sie mit einem ganzen Cocktail aus Wirkstoffen in Herzmuskelzellen, sogenannte Kardiomyozyten, um. Die Kardiomyozyten bildeten die Grundlage der Miniherzen. Dies war jedoch lediglich der erste Schritt bei der Entwicklung der Plattform. Damit die Miniherzen wie echte Herzen schlagen konnten, arbeitete das Team eng mit Systemingenieuren zusammen, die spezielle Testplatten mit zwei kleinen flexiblen Stiften in jeder Vertiefung entwickelten.

Um diese Stifte herum sollten dann die Mini­herzen befestigt werden. Beim Schlagen der Miniherzen würden sich so auch die Stifte bewegen. Auf diese Weise liess sich die Kraft quantifizieren, die bei jedem Schlag des Miniherzen erzeugt wird, und damit eine der wesentlichen Fragen von Hara beantworten.

Platten, die die Miniherzen aufnehmen.
Platten, die die Miniherzen aufnehmen

Ein wichtiger Teil bei der Einrichtung des Systems ...

... war die Konstruktion der Platten, die die Miniherzen aufnehmen.

Video …

Doch es bedurfte noch einiger Iterationen und ständiger Weiterentwicklung, bis diese Vorgehensweise wirklich gut funktionierte. So fanden die Teammitglieder Vipender Singh, Savannah Moore und Alex Clark einen Zusatzstoff, der die Miniherzen stärkte und dazu beitrug, dass sie mehrere Monate einsatzbereit blieben und für verschiedene Screening-Experimente wiederverwendet werden konnten. Dadurch liess sich die Plattform auch für Tests verschiedener Medikamentenarten erweitern und die Targetvalidierung ermöglichen.

Auch während der Coronapandemie arbeitete das Team auf Hochtouren. Als ein wichtiger Inhaltsstoff für die Herstellung von Miniherzen aufgrund pandemiebedingter Lieferkettenprobleme nicht verfügbar war, entwickelte Singh ein alternatives Verfahren. Singh und Clark arbeiteten dann gemeinsam mit dem Engineering-Team an einer neuen Miniherz-Platte, die mit der neuen Methode besser funktionierte. Diese wird nun von anderen Teammitgliedern in das aktuelle System integriert.

Darüber hinaus musste das Team ein Kamerasystem zur Erfassung der Bewegungen entwickeln und installieren sowie ein Datenanalysesystem zur Interpretation der Ergebnisse erstellen. «Anfangs bauten wir die Plattform von Grund neu auf. Die Komponenten wurden buchstäblich miteinander verklebt. Mit dem ersten Prototyp konnten wir Videoaufnahmen von jeweils einem Miniherzen anfertigen. Das bedeutete, dass ein Experiment mit einer einzigen Prüfsubstanz einen ganzen Nachmittag in Anspruch nehmen konnte», so Haras Kollege Gordon Turner.

Gordon Turner

Gordon Turner:
Die Magie der Daten.

In einer zweiten Version wurden acht Kameras verwendet, die jeweils an einen eigenen Rechner angeschlossen waren, damit sich acht Experimente parallel durchführen liessen.

«Dank der breit angelegten Zusammenarbeit konnte die Plattform in den vergangenen Jahren auf 96 simultane Experimente erweitert und ein Datenanalyse-Tool entwickelt werden, sodass die Biologen die Ergebnisse innerhalb weniger Minuten erhalten», so Turner weiter. Doch die Innovation macht hier noch nicht Halt: «Wir testen gerade unsere neuesten Verbesserungen, mit denen die Plattform auf 384 simultane Experimente erweitert werden soll», ergänzt Turner.

Machine Learning

Turner, der heute die Data-Science-Gruppe der Abteilung Cardiovascular Metabolism Research leitet, war auch an der Entwicklung eines Datenanalyse-Tools beteiligt, mit dem die Daten aus den Videoaufnahmen der Miniherzen schnell verarbeitet werden können. Um allen Forschenden den Zugang zum Programm zu erleichtern, hat das Team von Turner eine Webseite erstellt, auf der Biologen ihre Daten eingeben und die Auswertung mit wenigen Mausklicks erhalten.

Makoto Hara richtet das Kamerasystem ein, das die Miniherzen filmen wird.

Makoto Hara richtet das Kamerasystem ein, das die Miniherzen filmen wird. Er und sein Team haben mehrere Jahre gebraucht, um diesen Durchbruch zu erzielen.

Die in den Experimenten verwendeten Kardiomyozyten kontrahieren und entspannen sich genau wie in einem echten Herzen.

«Die Web-App mag als kleine Sache erscheinen, doch die bisherige Art der Dateneingabe war ein grosses Hindernis für die Biologen, die das System nutzen», so Turner. «Jetzt dauert die Analyse nur noch wenige Minuten, was für alle Beteiligten eine grosse Verbesserung bedeutet.»

Um den Prozess noch weiter zu beschleunigen, hat das Team kürzlich auch Machine Learning eingebunden, also die Fähigkeit von Computern, Bilder effizient zu analysieren und Muster abzugleichen. «Anfangs verwendeten wir ein Verfahren, bei dem die Nutzer um jeden Videobeitrag manuell einen Rahmen ziehen mussten», erläutert Turner. «Man kann sich vorstellen, dass das bei einem oder zwei Videos funktioniert. Doch jetzt zeichnen wir 96 Videosignale auf einmal auf. Daher benötigten wir eine schnellere Lösung.»

Zur Lösung dieses Problems entwickelte Turners Kollege Michael Chien-Cheng Shih von Novartis in San Diego ein Rechenmodell, das er so trainierte, dass die Beiträge automatisch erkannt und verfolgt werden. «Unsere Kolleginnen und Kollegen entwickeln neue Methoden, mit denen immer komplexere Daten erfasst werden. Doch die Analyse dieser Ergebnisse kann sich als problematisch erweisen», erläutert Shih. «Die Aufgabe meiner Gruppe besteht darin, Tools bereitzustellen, die sich schnell an neue Zwecke anpassen lassen und unseren Kollegen die Gewissheit geben, dass die Datenanalyse bei der Skalierung auf grössere Datensätze kein limitierender Faktor sein wird.»

To make the mini-hearts beat, the team is using electrodes.
Wissenschaftler überwacht Experiment.

Um die Miniherzen zum Schlagen zu bringen, verwendet das Team Elektroden.

Das Experiment wird kontinuierlich überwacht.

Zusammenarbeit

Die kontinuierliche Verbesserung der Miniherz-Plattform hat der Gruppe um Hara dabei geholfen, ihr Forschungsprojekt voranzubringen und eine Reihe potenziell interessanter Wirkstoffe zu finden, die nun zu möglichen Lead-Wirkstoffen optimiert werden. «Die Ergebnisse, die wir mit der Miniherz-Plattform erzielt haben, stimmen uns zuversichtlich, dass daraus eines Tages ein gutes Medikament gegen Herzinsuffizienz entstehen könnte», so Hara. «Das ist die Motivation für unsere Arbeit.»

Ein wesentlicher Faktor sei dabei die Zusammenarbeit gewesen: «Neben unserer eigenen Arbeit im Bereich Herzinsuffizienz ist der Erfolg der Miniherz-Plattform auch den Anstrengungen und dem Engagement unserer Mitarbeitenden im gesamten Unternehmen zu verdanken», so Hara. «Jeder Entwicklungsschritt erforderte massgeschneiderte Lösungen. Es hat viele Jahre gedauert, bis die Plattform für die Anwendung im Medikamentenscreening bereit war. Doch wir freuen uns sehr, dass sie nun endlich für einen breiteren Einsatz zur Verfügung steht.»

Vielseitig einsetzbare Plattform

Der Erfolg der Plattform hat im Unternehmen auch bei anderen Gruppen aus dem Bereich der kardiovaskulären Forschung Interesse geweckt. Ihr Einsatz wurde seitdem auf weitere Projekte ausgeweitet, insbesondere für die Profilierung verschiedener genetischer Targets bei weiteren kardiovaskulären Erkrankungen, etwa Bluthochdruck oder Herzrhythmusstörungen.

«Wenn wir mithilfe klinischer Studiendaten neue Gene identifizieren, die wir als Target anvisieren, setzen wir die Plattform dafür ein, die betreffenden Erkrankungen zu imitieren und mehr über die Wirkungen dieser Gene zu erfahren», führt Turner aus. «Einer der grossen Vorteile der Plattform ist, dass die Organoide ursprünglich von menschlichen Hautzellen stammen, sodass wir sehen können, was im menschlichen Kontext geschieht, im Gegensatz zu Tiermodellen, die oft nicht übertragbar sind.»

Organoide wie Mini-Herzen sind dank der Entwicklung der induzierten pluripotenten Stammzellentechnologie (iPSC) möglich geworden.

Das Datenanalyse-Tool der Plattform hat sich auch bei Experimenten bewährt, die über die Berechnungen der Herzmuskelkraft hinausgehen, die für das Forschungsprojekt von Hara erforderlich waren. In der kardiovaskulären Forschung gibt es noch weitere Eigenschaften, die sich im zeitlichen Verlauf verändern und für eine gesunde Herzfunktion unerlässlich sind. Dazu zählen der Einstrom von Kalziummolekülen oder eine veränderte Spannung (die in EKGs gemessen wird). Die Datenanalyse-Tools der Plattform bieten nun auch für diese Experimente eine verbesserte Methode. Die Plattform eignet sich zudem gut für Toxizitätsstudien.

Bei der Plattform gehen mittlerweile weit mehr Anfragen ein, als die Gruppe zu bewältigen vermag. «Die Idee begann mit dem Target, an dem ich gearbeitet habe. Doch mittlerweile setzen wir die Plattform und das Datentool für verschiedenste Fälle ein», schliesst Hara. «Gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden haben wir viele Jahre in die Entwicklung der Plattform investiert. Heute ernten wir die Erfolge unserer Arbeit im gesamten kardiovaskulären Bereich und vielleicht in Zukunft auch in anderen Krankheitsbereichen.»