Laufen die Dinge vorteilhaft, möchte meistens niemand von einer anderen guten Idee hören. Sollte man diese dann fallen lassen oder erst recht darauf bestehen? Wolfgang Jahnke und Andreas Marzinzik entschieden sich für Letzteres – aus der Überzeugung heraus, dass ihr Konzept für einen neuartigen Wirkstoff gegen Krebserkrankungen auch zur Überwindung von Arzneimittelresistenzen beitragen kann. Ihre Arbeit lieferte die wissenschaftliche Grundlage für ein wirksames Instrument im ewigen Kampf gegen Krebserkrankungen.
Text von K.E.D Coan und Goran Mijuk, Fotos von Laurids Jensen.
In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends herrschte im Bereich der Medizin euphorische Stimmung. Die ersten personalisierten Krebsmedikamente kamen auf den Markt und weitere waren in der Pipeline. Dies weckte Hoffnungen, diese uralte Krankheit könnte endlich besiegt werden.
Novartis gehörte zu den Vorreitern und hatte eine starke Pipeline mit neuen Medikamenten, die zur Markteinführung bereit waren. Noch während die Welt den Durchbruch in der Krebsforschung feierte, stellten einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits fest, dass eine konstante Anzahl von Patienten aufgrund von Arzneimittelresistenzen, die durch neue Mutationen ausgelöst wurden, nicht auf die Behandlungen ansprach. Das weckte auch das Interesse der Novartis-Forscher Wolfgang Jahnke und Andreas Marzinzik.
Doch ihre Idee kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt und stiess auf taube Ohren, da die gesamte Branche vom Erfolg der neu eingeführten Krebsmedikamente begeistert war. Insgesamt betrachteten die meisten Branchenexperten die Arzneimittelresistenz als kleineres Problem, das die nächste Medikamentengeneration bald lösen würde.
«Damals hat sich niemand wirklich für unser Konzept interessiert», so Wolfgang Jahnke. «Der Mainstream war der Auffassung, dass die Bücher für dieses Kapitel der Medizin geschlossen waren.»
Jahnke und Marzinzik wollten sich mit einem Nein aber nicht zufriedengeben und gingen mit ihrer Idee sozusagen in den Untergrund. Sie waren davon überzeugt, dass das Thema Arzneimittelresistenz bald wie ein Bumerang zurückkehren und die herrschende positive Stimmung dämpfen würde.
Sie holten sich Unterstützung und arbeiteten neben ihren täglichen Aufgaben weiterhin an ihrem Wirkstoff. «Obwohl offiziell kein Interesse daran bestand», erinnert sich Andreas Marzinzik, «konnten wir das Projekt im kleinen Rahmen fortsetzen, weil wir von einigen Kolleginnen und Kollegen bei Tests unserer Idee unterstützt wurden.»
Solche Grassroots-Projekte gibt es heute öfter, und sie werden von Novartis sogar unterstützt. Vor einigen Jahren rief Novartis unter anderem die Genesis Labs Initiative ins Leben, die es Wissenschaftlern und Ingenieuren ermöglicht, Ideen zu verfolgen, die ausserhalb der zentralen Forschungsbereiche des Unternehmens liegen. Dies soll kühne Forschungsprojekte fördern, ohne den Fokus auf die zentralen wissenschaftlichen Anstrengungen zu verlieren.
«Es war ein klassisches Beispiel für die Art multidisziplinärer Vorhaben, die jetzt von Genesis Labs unterstützt werden», so Marzinzik. «Unser Projekt verfolgte eine klare Bottom-up-Strategie, weil wir von dem überzeugt waren, was wir erreichen wollten: Wir fingen zwar klein, aber doch mit einer sehr starken Hypothese an.»
Denn Daten aus der Praxis wiesen bei einigen Patienten auf eine persistente Arzneimittelresistenz hin. Die Idee für die Strategie der beiden Forscher stammte vom Genomics Institute der Novartis Research Foundation, kurz GNF – heute Novartis Biomedical Research San Diego –, das bei einem Screening einen Wirkstoff identifiziert hatte, von dem Jahnke und Marzinzik annahmen, er könnte wirksam sein.
«Angefangen hat alles mit diesem Wirkstoff von GNF», so Jahnke. «Die ersten Experimente zeigten, dass er anders wirkt als alles andere, was das Unternehmen in der Pipeline hatte – doch niemand wusste genau, wie.»
Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass der GNF-Wirkstoff nicht über das aktive Zentrum auf dem krankheitsauslösenden Protein wirkte, sondern über eine andere, weniger gut erforschte Bindungsstelle, für die zuvor noch kein Medikament entwickelt worden war.
Im Labor von Andreas Marzinzik und Wolfgang Jahnke steht die klassische chemische Arbeit im Vordergrund.
Kontinuierlich werden neue Verbindungen getestet.
Traditionelle chemische Instrumente sind allgegenwärtig.
Im Vergleich zum aktiven Zentrum eines Proteins sind die Funktionen sogenannter allosterischer Bindungsstellen oft nicht gut genug erforscht. Zudem sind allosterische Bindungsstellen oft «kryptisch», das heisst, sie sind nur in bestimmten Phasen der Proteinaktivität sichtbar, und die Rolle dieser allosterischen Bindungsstellen bei der Proteinaktivität ist oft unklar.
All das steigerte jedoch nur die Neugier der beiden Wissenschaftler und ihrer Kollegen, die mehr über den Wirkmechanismus und die mögliche Funktion des Wirkstoffs von GNF erfahren wollten.
«Gemeinsam mit unseren Kollegen von GNF, Novartis Biomedical Research und dem Biozentrum Basel haben wir modernste strukturelle und biophysikalische Technologien eingesetzt, um den Wirkmechanismus aufzuklären», so Jahnke. «Auf diese Weise entdeckten wir, dass der Wirkstoff sich an diese allosterische Bindungsstelle bindet, die ein ganz neues Ziel darstellen könnte.»
Die klassische chemische Laborarbeit bildet nach wie vor die Grundlage der pharmazeutischen Forschung.
Aber einer der wichtigsten Aspekte dieser Arbeit ist nicht nur die Technologie. Es ist die Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern mit einem breiten Spektrum an Fähigkeiten und Erfahrungen.
Der GNF-Wirkstoff besass nicht die richtigen Eigenschaften für die Entwicklung zu einem Medikament. Er zeigte jedoch, wo beim krankheitsauslösenden Protein eine Schwachstelle ausserhalb des aktiven Zentrums lag.
Obwohl es keine finanzielle Unterstützung gab, mit der sie ihre Entdeckung als Arzneimittelforschungsprojekt hätten weiterverfolgen können, kamen die Forscher durch einen Zufall an Fördermittel für die Nutzung und Weiterentwicklung einer Forschungstechnologie, die ideal für die Suche nach allosterischen Wirkstoffen geeignet war.
«Allosterische Bindungen stellen uns vor die Herausforderung, dass sie oft stumm sind. Das heisst, sie tauchen in Tests der Proteinfunktion nicht auf, und man muss daher zusätzliche Tests entwickeln, die empfindlich genug sind, um sie nachweisen zu können», so Jahnke. «Glücklicherweise war die Technologie, die wir verwendeten, genau das, was wir dazu brauchten.»
Die Technologie der sogenannten fragmentbasierten Wirkstoffentdeckung steht im Gegensatz zu typischen Screenings der Arzneimittelforschung, weil sie von kleineren chemischen Bausteinen ausgeht, nämlich von Fragmenten herkömmlicher Wirkstoffe.
Bei den Screenings wird nach den Teilen gesucht, die eine Bindungsaktivität mit dem Protein aufweisen. Werden solche Teile gefunden, können die Fragmente optimiert und zu einem vollwertigen Wirkstoffmolekül zusammengefügt werden.
Die Stärken dieser Stückwerkmethode liegen darin, dass sich wegen des Wirkstoffaufbaus aus kleineren Teilen neuartige chemische Stoffe finden lassen und keine Funktionalität benötigt wird, um diese nachzuweisen. Allerdings – und das ist ein gewisser Nachteil – zeigen die Fragmente bei typischen Proteinfunktionstests selbst oft keine Wirkung. Die Strategie erfordert daher wesentlich empfindlichere Instrumente wie die Kernspinresonanzspektroskopie (NMR).
Diese Instrumente unterstützen Wissenschaftler aus dem Lifesciences-Bereich seit Jahrzehnten dabei, Proteine und kleinere Moleküle zu visualisieren. Jahnke hat sich während des grössten Teils seiner beruflichen Laufbahn mit deren Verwendung befasst.
Bei der NMR-Technologie werden starke Magnetfelder dazu genutzt, die Form von Molekülen aufzuzeigen. Zurückgegriffen wird auf dieselben Prinzipien wie bei der medizinischen Magnetresonanztomographie (MRT), die Aufnahmen vom Inneren des menschlichen Körpers erzeugt. Die Nutzung von NMR zur Ermittlung von Fragmentbindungen war allerdings eine völlig neue Anwendung, und es gab keine Garantie dafür, dass sie funktionieren würde.
«Wir wussten nicht, was uns erwartet, doch die Experimente waren ein enormer Erfolg», so Jahnke. «Die Technologie war so leistungsfähig, dass wir viele Fragmente identifizieren und optimieren konnten. Wir lernten sehr viel über die fragmentbasierte Methode, aber auch über das Protein und seine allosterische Bindungsstelle.»
Um eine chemische Verbindung zu verstehen, ...
... müssen die Forscher ihre Struktur analysieren.
Die magnetische Kernresonanzspektroskopie (NMR) ist eine leistungsstarke biophysikalische Bildgebungstechnik.
Trotz des anfänglichen Erfolgs blieb die grosse Unterstützung aus, und das Team erreichte irgendwann einen Punkt, an dem es ohne finanzielle Unterstützung einfach nicht mehr weiterkam. So veröffentlichte es einige seiner Ergebnisse als akademische Exploration und liess das Projekt über ein Jahr lang ruhen.
Dann begannen sich die Dinge zu ändern. «In den 2000er-Jahren hat die Onkologie unterschätzt, wie gross das Resistenzproblem sein würde», so Jahnke. «Doch schon Anfang der 2010er-Jahre war klar, dass Krebsmedikamente der ersten und zweiten Generation nicht immer eine dauerhafte Lösung boten und dass eindeutig noch ein ungedeckter medizinischer Bedarf bestand.»
Dieser Perspektivwechsel eröffnete Jahnke und Marzinzik die Chance, ihre Arbeit genau dort fortzusetzen, wo sie aufgehört hatten. Sie stellten ihr Forschungsprojekt erneut vor, und diesmal bekam es grünes Licht als offizielles Arzneimittelforschungsprojekt. Mit dem Chemiker Joseph Schoepfer, dem molekularen Modellierer Pascal Furet und vielen weiteren engagierten Wissenschaftlern des interdisziplinären Teams ging das Projekt in die zweite Phase, die tatsächlich zur Entwicklung eines neuen Wirkstoffs führte.
«Von da an verfügten wir über die finanziellen Mittel und die multidisziplinären Mitarbeitenden, die wir benötigten, um aus unseren ersten Erkenntnissen einen Wirkstoffkandidaten zu entwickeln. Das war noch immer kein leichtes Unterfangen», so Marzinzik. «Der fragmentbasierte Ansatz lieferte uns ein Startmolekül. Als unsere Teams das Molekül zu einem Wirkstoffkandidaten optimierten, brauchte es jedoch viel Arbeit und Einfallsreichtum.
Einige Jahre später machte sich Jahnkes und Marzinziks Beharrlichkeit bezahlt. Das Ergebnis: ein bisher einmaliges Medikament, das Patienten mit Arzneimittelresistenz hilft, bei denen frühere Generationen von Onkologiemedikamenten nicht anschlugen.
Andreas Marzinzik: Mit einer starken Hypothese beginnen.
Wolfgang Jahnke: Klein anfangen, um eine grosse Wirkung zu erzielen.
Doch der von ihnen entwickelte allosterische Wirkstoff hat das Potenzial, noch viel mehr zu bewirken. Die Idee von Jahnke und Marzinzik war von Anfang an, allosterische Wirkstoffe und am aktiven Zentrum angreifende Wirkstoffe gleichzeitig einzusetzen, um die Entstehung von Resistenzen bei der betreffenden Art der Krebserkrankung dauerhaft zu verhindern.
Die Hypothese lautet, dass selbst wenn das krankheitsauslösende Protein im aktiven Zentrum mutiert, es immer noch durch das allosterische Medikament blockiert wird und umgekehrt. Der Grund dafür ist, dass Proteine nur eine bestimmte Anzahl von gleichzeitigen Mutationen vertragen, bevor sie ihre Wirkung komplett verlieren. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass sich an beiden Stellen gleichzeitig eine Resistenz entwickeln kann.
Präklinische Experimente mit der Wirkstoffkombination haben bisher keine Resistenzerscheinungen gezeigt, und bald schon werden diese Wirkstoffe im Rahmen von klinischen Studien getestet.
«Wir haben klein angefangen und einigen wenigen Patienten geholfen. Doch diese Strategie liesse sich auf onkologische Targets aller Art anwenden», so Marzinzik. «Jeder sieht jetzt die Chance und erkennt, wie gut sie funktionieren könnte. Dies könnte der nächste Paradigmenwechsel in der Krebstherapie sein, der endlich verhindert, dass diese Erkrankungen wieder auftreten.
These cookies are necessary for the website to function and cannot be switched off in our systems. They are usually only set in response to actions made by you which amount to a request for services, such as setting your privacy preferences, logging in or filling in forms. You can set your browser to block or alert you about these cookies, but some parts of the site will not then work. These cookies do not store any personally identifiable information.
These cookies allow us to count visits and traffic sources so we can measure and improve the performance of our site. They help us to know which pages are the most and least popular and see how visitors move around the site. All information these cookies collect is aggregated and therefore anonymous. If you do not allow these cookies we will not know when you have visited our site, and will not be able to monitor its performance.