Einkommensgerechte Verpackungen
Unkonventionelle Partnerschaften
Die Weichen für die Zukunft stellen
Kenia und darüber hinaus
Die Weichen für die Zukunft stellen
Einzelverpackungen für Patienten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Science
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Verpackungskünstler der Pharmaindustrie

Millionen von Menschen in einkommensschwachen Regionen verdienen zwei Dollar oder weniger pro Tag. Sie können sich Medikamente kaum leisten, da unter anderem auch die gegenwärtigen Verpackungsstandards für Arzneimittel ein nicht zu unterschätzender Preistreiber sind. Das Roll_U-Genesis*-Team der Startup-Projektplattform Genesis Labs von Novartis will das ändern. 

Text von K. E. D. Coan, Fotos von Adriano Biondo und Laurids Jensen

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Montagehalle des Maschinenbauers

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Publiziert am 26/07/2020

«In einkommensschwachen Ländern verdienen viele Menschen weniger als zwei Dollar pro Tag und erhalten ihren Lohn täglich. Das erschwert den Kauf eines Monatsbedarfs an Diabetes- oder Blutdruckmedikamenten, wie er bei uns in Europa üblich ist, ganz erheblich», macht Laurent Hérault, Leiter von Packaging Design & Devices bei Novartis, deutlich. «Sie müssen für Unterkunft, Lebensmittel, Wasser, Strom und die Ausbildung ihrer Kinder aufkommen. Da bleibt für den täglichen Arzneimittelbedarf kaum noch etwas übrig.» 

Hérault, seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Spitze verschiedener Verpackungsteams weltweit, wollte dies ändern und hob das Roll_U-Projekt aus der Taufe. Das Projekt gehört nun zur internen Novartis-Ideenplattform Genesis Labs, die unkonventionelle Projekte fördert. 

Im Rahmen seiner Reisen in Südafrika und Indonesien bemerkte Hérault, dass die Schachteln voller Blisterverpackungen in einem krassen Missverhältnis zu den finanziellen Mitteln der Menschen in einkommensschwachen Gebieten standen. Arzneimittelvorräte für einen oder mehrere Monate sind durchaus sinnvoll, wenn man sie sich leisten kann. Doch für viele bleiben sie unerschwinglich. 

Angesichts dieses Umstands greifen Apotheken zur Selbsthilfe und verkleinern Blisterverpackungen auf eine für die Patienten erschwingliche Grösse. Doch Einzelverpackungen bieten wenig Schutz für das Produkt. Ebenso fehlen die üblichen Sicherheits- und Dosierungshinweise, mit denen Arzneimittel versehen sein sollten. Schlimmstenfalls kaufen die Patienten gefälschte Arzneimittel auf dem Schwarzmarkt, bei denen jedoch keine therapeutische Wirkung garantiert ist. 

«Die Idee, Verpackungen an die Gegebenheiten anzupassen, hatte ich schon immer. Doch früher war in meiner Abteilung ein solches Denken nicht mit der Strategie vereinbar», macht Hérault deutlich. «Als Genesis Labs auf Novartis Technical Operations ausgedehnt wurde, witterte ich meine Chance, die Idee wieder aufzugreifen, weil sie meines Erachtens wirklich nützlich ist.»

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Vorbereitung der Proben.

Ein­kom­mens­ge­rech­te Ver­pa­ckun­gen

«Wann immer ich dienstlich in ein anderes Land reise, schaue ich mir in den Apotheken genau an, wie und in welcher Auslage unsere Produkte verkauft werden», fährt Hérault fort. «Das hilft, die richtigen Verpackungen zu entwerfen.»

Hérault fand heraus, dass Apotheker in einkommensschwachen Ländern Blisterverpackungen oft öffneten und verkleinerten. Ausserdem fiel ihm auf, dass viele andere Artikel wie Nahrungsmittel oder Süsswaren in den Strassen streifenweise in Einzelverpackungen verkauft wurden – je nachdem, wie viel der Geldbeutel gerade hergab. 

Das Roll_U-Projekt der Genesis Labs verschaffte Hérault und seinem Team nunmehr die Möglichkeit, für Medikamente ähnlich beschaffene Verpackungen zu entwickeln. Vor zwei Jahren wurden Hérault und seinen Kollegen Peter Vogel, Marcal Bosch und Kevin Meagher Mittel aus der Genesis-Labs-Initiative zugesprochen, damit sie ihr Konzept ab Januar 2019 in die Tat umsetzen konnten. 

Hierzu scharte das Team Spezialisten für Verpackungsmaterialien, Maschinen und digitale Mobillösungen um sich, um eine neuartige Verpackung in einer Spenderbox sowie eine dazugehörige digitale App zu entwickeln. Im Übrigen vermeidet das Team auch das für Blisterverpackungen übliche PVC, da dieser Kunststoff bei der Abfallverbrennung toxische Abgase erzeugt. Jede Einzeldosis ist mit einem Code versehen, damit sich die Therapietreue und gegebenenfalls die Echtheit der Medikamente prüfen lassen. 

«Wir wollen einen neuen Verpackungsstandard für die Pharmaindustrie ins Leben rufen – einen, der erstmals auf die Bedürfnisse von Patienten in einkommensschwachen Ländern zugeschnitten ist», bemerkt Hérault.

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Einrichtung der Maschine.

Un­kon­ven­tio­nel­le Part­ner­schaf­ten

Blisterverpackungen und Pillendosen aus Kunststoff sind in der Pharmabranche derart selbstverständlich, dass Hérault andernorts nach einem Verpackungsanbieter für dieses Projekt suchen musste. 

«Mein Bauchgefühl sagte mir, dass die Pharmazulieferer durch die bestehenden Standards in der Pharmawelt, wo sich Innovationskraft allenfalls in neuartigen Blisterverpackungen äussert, zu stark eingeschränkt sind», so Hérault weiter. «Wir wollten endlich über den eigenen Schatten springen.»

Also machte sich das Team auf die Suche nach Partnern, die sich bereits mit Einzelportionen auskannten: Hersteller von Verpackungen für Lebensmittel und Süsswaren. Doch Medikamente sind mit anderen Anforderungen verbunden. Pillen und Tabletten sind generell kleiner als Süsswaren, und häufig müssen sie nicht Wochen oder Monate, sondern Jahre haltbar sein. 

«Unseren Partnern die besonderen pharmazeutischen Anforderungen an Verpackungen deutlich zu machen, war bislang eine der grössten Herausforderungen», stellt Hérault klar. «Mehrere potenzielle Partner erteilten uns aufgrund unserer Sonderwünsche wie etwa eines langlebigen luftdichten Abschlusses eine Absage. Doch einige wenige waren zur Zusammenarbeit bereit.»

Gemessen an seinem Ziel, neue Partner, Materialien und Maschinen zu finden, kann das Team seit Anfang 2019 bereits beträchtliche Fortschritte vorweisen. Unterstützt vom Social-Business-Team unter der Leitung von Harald Nusser führte es auch eine Marktstudie in Kenia durch. Dort soll das Konzept erstmals mit einem Diabetes-Medikament umgesetzt werden. Auch eine dazugehörige App steht bereits in den Startlöchern für das Pilotprojekt.

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Verpackungskünstler der Pharmaindustrie
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Qualitätskontrolle der Produkte vor dem Verpacken.

Die Wei­chen für die Zu­kunft stel­len

«Selbst in den einkommensschwachen Gegenden Kenias besitzen sehr viele Menschen Mobiltelefone. Die Marktdurchdringung beträgt satte 90 Prozent, sehr viel wird über das Handy abgewickelt – das Zahlungssystem basiert sogar auf SMS-Nachrichten», erläutert Kevin Meagher, Business Analyst im Web Social Mobile Center of Excellence bei Novartis Business Systems. «Auch die Nutzung von modernen Smartphones nimmt rapide zu.»

Meagher, der Spezialist des Teams für mobile Lösungen, entwickelt derzeit eine SMS- und eine Smartphone-App, welche die normalerweise in Beipackzetteln enthaltenen Informationen liefert und Patienten daran erinnert, sich an ihre Behandlungsvorgaben zu halten. Ebenso werden Anwendungen für Gesundheitsdienstleister und Apotheken geschaffen, die bereits überwiegend Smartphones besitzen. Ziel ist es, ihnen Informationen zu Produkten und Krankheiten sowie Schulungsunterlagen bereitzustellen. 

«Wir orientieren uns an der künftigen Marschrichtung des Markts, statt uns von gegenwärtigen Konventionen einengen zu lassen», macht Hérault deutlich und prophezeit, dass Smartphones in den nächsten Jahren immer günstiger werden. Apps bieten auch Möglichkeiten, die Echtheit von Novartis-Produkten zu garantieren, während gleichzeitig Daten zu Fälschungen erfasst werden. 

«Eine besonders wichtige Erkenntnis besteht darin, dass wir diese neuen Verpackungen ebenfalls zum Aufspüren gefälschter Produkte nutzen können», erklärt Meagher. «Wenn ein Apotheker ein Produkt einscannt und als Fälschung kennzeichnet, können unsere Programme nunmehr den genauen Zeitpunkt und Ort des Scans erfassen, und Novartis kann den lokalen Gesundheitsbehörden wertvolle Hinweise liefern.»

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Von Blisterverpackungen bis zu Einzelportionen - was üblich ist für die Süßwarenindustrie, könnte für Patienten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen einen Unterschied machen.

Ke­nia und dar­über hin­aus

Neben der Vorbereitung auf die letzte Phase des Pilotprojekts in Kenia arbeitet das Team bereits an Fallstudien für weitere Produkte und Patientengruppen.

«Wir waren bereits mit den verschiedensten Problemstellungen konfrontiert und konnten unsere Erkenntnisse mit vielen anderen teilen, die Produkte in Gebieten mit ähnlichen Erfordernissen entwickeln möchten», erläutert Meagher. «Trotz der kurzen Dauer des Genesis-Projekts dürfte sich unsere Arbeit bei künftigen Projekten auszahlen und auch in andere Lösungen einfliessen.»

Falls ihr Pilotversuch erfolgreich ist, sieht Hérault Potenzial in Anwendungen auch ausserhalb einkommensschwacher Länder. «Ich sehe Chancen in Krankenhäusern, wo noch viele Abfälle innerhalb der Lieferkette anfallen», erklärt Hérault. «Wir wollen nicht Blisterverpackungen oder Plastikflaschen ersetzen, aber diese Standards ergänzen, wo es für den Markt und die Wirtschaft sinnvoll ist. Wir hoffen, beweisen zu können, dass unser Projekt weit über Kenia hinaus über grosses Potenzial verfügt.»

*Roll_U-Genesis ist der interne Projektname.

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