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Für eine der grössten Herausforderungen in der amerikanischen Gesundheitsfürsorge war die Coronapandemie möglicherweise ein Wendepunkt: Sie eröffnete neue Wege, um Minderheiten den Zugang zu medizinischer Versorgung zu erleichtern, indem sie vorhandene Netzwerke nutzte, denen die Menschen vertrauten.
Paradoxerweise kam der potenzielle Ausweg aus der Krise in der dunkelsten Stunde der Pandemie, als die erschütternd hohe Sterberate unter Afroamerikanern und anderen Minderheiten zeigte, dass in einem der weltweit führenden Gesundheitssysteme etwas grundlegend falsch läuft.
Der Grund für die zu Beginn der Krise verglichen mit dem landesweiten Durchschnitt mehr als doppelt so hohe Sterberate unter der schwarzen Bevölkerung waren nicht nur wirtschaftliche und soziale Barrieren. Einen wesentlichen Faktor bildete das allgemeine Misstrauen gegenüber der Gesundheitsfürsorge, das viele Afroamerikaner den Massnahmen der Regierung gegenüber argwöhnisch machte.


Jahrhunderte der Sklaverei, der sozialen Segregation und regelrechter medizinischer Skandale sowie die generell unzulänglichen Leistungen für Minderheiten hatten eine tiefe Skepsis genährt. Von der unmenschlichen Behandlung der versklavten Bevölkerung bis hin zu strukturellen Zugangsbarrieren hatten die Afroamerikaner gute Gründe, dem medizinischen Establishment zu misstrauen. Während der Pandemie taten soziale Medien das ihrige, dieses Misstrauen weiter zu schüren, als «Impfgegner bestehende, von systemischem Rassismus herrührende Ängste weiter anfeuerten», wie die gemeinnützige Social-Media-Beobachtungsgruppe First Draft schreibt.
Während Amerika in Rekordzeit Impfstoffe entwickeln und ausreichend Dosen für seine Bevölkerung herstellen konnte, zeigten viele Afroamerikaner und andere Minderheiten dem Angebot die kalte Schulter. Sie argwöhnten, die angebotene Hilfe diene nur dem Eigeninteresse der Eliten.
Dass die erste Person in den Vereinigten Staaten, die den Impfstoff erhielt, eine schwarze Frau war, trug wenig zum Vertrauen bei. Wie USA Today berichtete, waren es die noch nicht verheilten Wunden aus der Vergangenheit, die Afroamerikanerinnen und -amerikaner von den Impfzentren fernhielten.

Die Fachwelt war sich einig. «Sagt mir jemand, Schwarze seien skeptisch gegenüber [den COVID-19-Impfstoffen], dann antworte ich: Genau das passiert, wenn man Probleme der Rassenungleichheit und Ungerechtigkeit in der Geschichte nicht anspricht», äusserte sich Rana Hogarth, Geschichtsprofessorin an der University of Illinois, gegenüber USA Today.
Bestehende Netzwerke nutzen
Der Weg aus der Krise fand sich, als führende Persönlichkeiten der alles entscheidenden Frage des Vertrauens nachgingen und Ärzte, Kirchen- und Gemeindevertreter begannen, Outreach-Programme ins Leben zu rufen, welche die Zielgruppen dort ansprachen, wo sie sich befinden, anstatt sie zum Aufsuchen medizinischer Einrichtungen aufzufordern, denen sie misstrauen.
Wie die New York Times feststellte, gaben die Outreach-Programme den Ausschlag: «Diese Kampagnen waren von unten nach oben angelegt», wobei «lokale Führungspersönlichkeiten oft Outreach-Kampagnen entwarfen, die ihren eigenen Gemeinden entsprachen.» Von Chattanooga bis Kalifornien kümmerten sich lokale Führungspersönlichkeiten um die Bedürfnisse der Menschen vor Ort, die sie kannten.
In Baltimore, einer Stadt an der Ostküste mit rund 590000 Einwohnern, übernahmen Kirchen und Gemeindezentren die Rolle von lokalen Vorreitern und boten Afroamerikanern und anderen Minderheiten Zugang zu Impfstoffen, und – nicht weniger wichtig – sie leisteten Gesundheitsaufklärung.

Einer der leitenden Köpfe dieser Bemühungen war Terris King, ein erfahrener Gesundheitsexperte, der auch als Pastor in einer der über 700 Kirchen in der Region Baltimore tätig ist. Dabei brachte er nicht nur sein Wissen über die Heilige Schrift ein, sondern nutzte auch seinen wissenschaftlichen Hintergrund, um seine Gemeinde davon zu überzeugen, sich impfen zu lassen.


Die lokalen Outreach-Programme haben funktioniert. Über einen Zeitraum von mehreren Monaten sanken die Sterberaten sowohl in der afroamerikanischen als auch in der hispanischen Bevölkerung stark, bis sie auf einem Niveau mit den Sterberaten der Weissen waren.
Proof-of-Concept
Für Terris King und viele andere Führungspersönlichkeiten bewies das hyperlokale Engagement, dass die Kirchen der schwarzen Community und die Gemeindezentren nicht nur dazu beigetragen haben, die Situation vor Ort während der Pandemie zu ändern, sondern auch die allgemeine Qualität der Gesundheitsfürsorge erheblich beeinflussen können.
«Keine Institution kann engagierter sein als die Kirche», äusserte sich King gegenüber dem live-Magazin über die Rolle der Institution bei der Gesundheitsfürsorge für Minderheiten und unterversorgte Bevölkerungsgruppen. «Niemand kann so viele Menschen versammeln und eine ähnliche Reichweite haben. Warum? Weil wir bereits eine Geschichte mit unseren Gemeindemitgliedern und der Gemeinde haben.»
Für King, der als Führungskraft im Department of Health and Human Services tätig war und das Office of Minority Health für die Centers of Medicare & Medicaid Services gründete, können Kirchen und andere Netzwerke eine tragende Rolle bei der Bewältigung einiger der grössten Herausforderungen im Gesundheitswesen der USA spielen.
Herausforderungen gibt es zuhauf, insbesondere in der afroamerikanischen Community: Laut einer im Journal of the American Medical Association veröffentlichten Studie zeigen Daten der Centers for Disease Control and Prevention, dass die schwarze Bevölkerung während des Studienzeitraums von 1999 bis 2020 rund 1,63 Millionen Todesfälle zu verzeichnen hatte, was einem Verlust von mehr als 80 Millionen potenziellen Lebensjahren entspricht.
Eine der Haupttodesursachen sind Herzkrankheiten, von denen die afroamerikanische Bevölkerung unverhältnismässig stark betroffen ist. Dem Office of Minority Health des US-Gesundheitsministeriums zufolge sterben Afroamerikanerinnen und -amerikaner 30 Prozent häufiger an Herzerkrankungen als nichthispanische Weisse.
Das Ministerium stellte ausserdem fest, dass afroamerikanische Erwachsene zwar eine um 30 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Bluthochdruck zu leiden, sie ihren Blutdruck jedoch seltener überwachen lassen als nichthispanische Weisse. Darüber hinaus haben afroamerikanische Frauen fast 50 Prozent häufiger Bluthochdruck als nichthispanische weisse Frauen.

Neue Wege ausprobieren
Die Arbeit von Terris King und anderen Gemeindemitarbeitenden während der Pandemie blieb nicht unbemerkt. Viele Nachrichtensender, von Massenmedien bis hin zu spezialisierten Nachrichtensendern wie STAT, berichteten über ihre Anstrengungen.
Die Untersuchungen über ihre Arbeit belegten ihre durchschlagende Wirkung ebenfalls. In einem Artikel in Front Public Health heisst es, die Arbeit von Outreach-Programmen mit kommunalen Gesundheitsfachkräften stelle einen Mehrwert für die Gesundheitsfürsorge dar. Dies trug dazu bei, ihre Arbeit weiter zu fördern und das Interesse von Gesundheitsorganisationen zu wecken.
Unter ihnen Novartis, die gemeinsam mit der US-amerikanischen Expertengruppe Global Coalition on Aging nach einem Projekt suchte, das unterversorgten Gemeinden helfen könnte, die Herzgesundheit zu verbessern und die Herausforderungen des demografischen Wandels anzugehen, einem weiteren Problem in der Gesundheitsfürsorge, mit dem die USA und viele andere Länder zu kämpfen haben.
Nach einer umfassenden landesweiten Suche, bei der mehr als 300 Städte auf eine mögliche Partnerschaft hin geprüft wurden, entschieden sich die US-Government-Affairs-Abteilung von Novartis unter der Leitung von Leo Farber und die Global Coalition on Aging zur Zusammenarbeit mit der Stadt Baltimore. Grund hierfür waren die Erfolge während der Pandemie, die engen kommunalen Netzwerke sowie die Unterstützung seitens lokaler politischer Entscheidungsträger und der städtischen Gesundheitsbehörde.
So wurde im Oktober 2023 «Engage with Heart» gegründet, das verschiedene Partner zusammenbringt, von Kirchen und Gemeindezentren über Lebensmittel- und Urban-Farming-Netzwerke bis hin zu Gesundheitsfachleuten der Johns Hopkins School of Nursing. «Für uns geht es bei ‹Engage with Heart› wirklich darum, unserem Anspruch gerecht zu werden, die Medizin neu zu denken und auf ein neues Niveau anzuheben», so Leo Farber. «Zwar ist das Projekt relativ klein, aber es hat das Potenzial, die Gesundheitsfürsorge in den USA nachhaltig zu verändern.»

Vom Salat zur Vorsorgeuntersuchung
Das Potenzial dieser öffentlich-privaten Partnerschaft liegt in ihrer ganzheitlichen Strategie. Im Gegensatz zu früheren Zugangsprojekten, die sich hauptsächlich auf Vorsorgeuntersuchungen und das Sammeln von Gesundheitsdaten konzentrierten, versucht «Engage with Heart» die gesundheitlichen Herausforderungen mit einem weitaus umfassenderen Ansatz zu lösen.
Neben spezialisiertem Krankenpflegepersonal, das Gesundheitschecks in der Gemeinde organisiert, gehören Ernährungswissenschaftlerinnen, Küchenchefs, Urban Farmer und Gemeindearbeiter dazu, die den Gemeindemitgliedern eine breite Palette von Leistungen anbieten können, von Fitnessprogrammen über Gesundheitsaufklärung bis hin zu einfach zuzubereitenden Rezepten.
«Ein gewaltiger Unterschied zu den eher technischen Programmen, die sich auf Überwachung und Datenerfassung konzentrieren», unterstreicht Farber. «Wir wollen die gesamte Gemeinde einbinden und ihr Wissen nutzen.»
Unter anderem veranstalten Community Health Ambassadors, also Gesundheitsbotschafterinnen und -botschafter der Gemeinde – regelmässig Treffen mit Gemeindemitgliedern, um sie über wichtige Aspekte der Herzgesundheit aufzuklären und ihnen Tipps zu geben, wie sie ihre Gesundheit durch neue Ernährungs- und Fitnessgewohnheiten verbessern können. Darüber hinaus organisieren die Kirchen regelmässige Herzuntersuchungen und können Gemeindemitgliedern helfen, ärztliche Hilfe zu erhalten, wenn sie ein erhöhtes Risiko für Bluthochdruck oder Diabetes feststellen.
Ein harter Kampf
Im Rahmen des Programms sponsort Novartis «Engage with Heart» und stellt zudem Expertise im Bereich der Gesundheitsfürsorge zur Verfügung. Ziel ist es, zu zeigen, dass das Programm die Herzgesundheit in Baltimore verbessern und so dem Gesundheitssystem helfen kann, langfristig Kosten zu sparen. Dies würde die Grundlage für ein Investitionsszenario bilden, bei dem Kostenträger und die Regierung die Arbeit von Community Health Ambassadors und anderen Fachleuten finanzieren könnten.
Für Melissa Gong Mitchell und Michael W. Hodin von der Global Coalition on Aging sieht das Modell vielversprechend aus, da sich alle Partner dafür einsetzen, das System sowohl operativ als auch finanziell nachhaltig zu gestalten. «Unser Ziel ist Nachhaltigkeit», sagt Melissa Gong Mitchell. «Das ist einer der Gründe, warum wir dieses Programm mit gut ausgebildeten Community Health Ambassadors ins Leben gerufen haben, die sich das Vertrauen der Gemeinden verdienen, was langfristig Mehrwert für die gesamte Gesundheitsfürsorge schaffen wird.»
Auch der Bürgermeister von Baltimore, Brandon M. Scott, sieht ein erhebliches Potenzial dafür, dass das Programm eine nachhaltige Wirkung für kommende Generationen haben wird: «Es geht in erster Linie um das Engagement aller beteiligten Partner. Aktuell konzentriert sich unsere Arbeit in diesem Bereich darauf, die derzeitige Ungleichheit zu überwinden. Der nächste Kampf besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich dieselben Ungleichheiten bei jüngeren oder zukünftigen Generationen nicht wiederholen.»

Für ihn ist der präventive Charakter des Programms einer seiner grössten Vorteile: «Indem wir Präventionsmassnahmen und frühzeitige Interventionen für unsere jüngeren Generationen in den Vordergrund stellen, wollen wir den Weg für gesünderes Altern ebnen und gleichzeitig die Häufigkeit chronischer Erkrankungen im späteren Leben reduzieren. Darüber hinaus bereichert die Förderung generationenübergreifender Beziehungen zwischen unseren Jugendlichen und älteren Erwachsenen beide Gruppen und fördert den Wissensaustausch und das Engagement in der Gemeinde.»
Obgleich erste Ergebnisse auf eine Verbesserung der Situation hindeuten, wird es schwierig sein, das Gesundheitsumfeld in Baltimore von Grund auf zu verbessern. Die strukturellen Herausforderungen in der Stadt gehen so tief, dass ganze Stadtteile von jeglicher wirtschaftlicher Prosperität abgeschnitten sind.
Je nachdem, wo man in Baltimore lebt, kann die Lebenserwartung um bis zu 20 Jahre variieren. In Stadtteilen wie Downtown Baltimore oder dem nahegelegenen Druid Heights beträgt die Lebenserwartung rund 65 Jahre. In wohlhabenden Vierteln wie Roland Park liegt die Lebenserwartung bei 85 Jahren.
Auch ohne diese medizinischen Daten ist das Stadtbild aufschlussreich. Als wir durch Baltimore fuhren, bekamen wir in wohlhabenden Gegenden riesige Parks und wunderschöne lange Alleen zu Gesicht, während die ärmeren Gemeinden durch ihre hohe Dichte an Spirituosenläden und Fast-Food-Ketten auffielen.
Sinnbildlich für die strukturellen Herausforderungen ist der Highway to Nowhere, ein kurzes Stück der US-Route 40, das während des Infrastrukturbooms in den 1960er- und 1970er-Jahren gebaut wurde. Die Strasse wurde zwar nie an das Hauptstrassennetz angebunden, zerstörte aber das Gefüge der benachbarten afroamerikanischen Gemeinden.

Heute sind Bestrebungen im Gange, die Autobahn zu sperren und die Gemeinden und Tausende von Menschen, die von ihrem Bau betroffen waren, wieder zusammenzubringen. Allerdings dürften die Kosten schwindelerregende Höhen erreichen, bis Parks und Radwege eines Tages das Betonmonster ersetzen, das die Stadt in zwei Hälften teilt.
Die Stärke von Gemeinden
Sind die Fehler des Highway to Nowhere erst einmal behoben, kann auch die Gesundheitsfürsorge verbessert werden, sagt Terris King – sowohl hier in Baltimore als auch in den übrigen USA, weil die Kirchen der schwarzen Community und andere Gemeinden die Kraft dazu in sich tragen.

Die Forschung gibt King Recht. Vertrauen besteht heutzutage weder zu Regierungen noch zu Konzernen. Laut dem neuesten Edelman-Trust-Barometer geniessen Wissenschaftler und «Leute wie du und ich» das grösste Vertrauen.
Das genau zeichnet führende Persönlichkeiten in der Gemeinde aus: Es sind Menschen, die man kennt und die so sind wie man selbst. «Bei unserem Versuch, ein wert- und kaufkraftbasiertes Gesundheitssystem zu etablieren, haben wir unter anderem den Wert von Gemeinden ausgelassen, den Wert der Kirchen und ihrer Fähigkeit, Menschen zu erreichen», so Terris King.
«Engage with Heart» trifft diesen Nerv: «‹Engage with Heart› bringt die Gesundheitsfürsorge zur Gemeinde, anstatt die Gemeinde zur Gesundheitsfürsorge zu schicken. Es bringt sie in die Kirchen, einen Ort, an dem ein Gefühl für gemeinsam getragene Verantwortung besteht, und stärkt so das Vertrauen der Gemeinde in diesen Prozess.»
Angesichts der vielen Menschen, die lokale Gemeindezentren besuchen, regelmässig zum Sonntagsgottesdienst kommen und die Arbeit der Community Health Ambassadors schätzen, hat «Engage with Heart» gute Chancen auf Erfolg und dürfte den Zugang zur Gesundheitsfürsorge in den Vereinigten Staaten, aber auch anderswo auf der Welt verbessern können.