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Wissenschaft
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Vom Lebenszyklus zur Therapie

Aufbauend auf grundlegenden Erkenntnissen aus den 1970er- und 1980er-Jahren, als man begann, die Mechanismen der Zellteilung zu erforschen, um den Kreislauf des Lebens besser zu verstehen, haben Chris Brain und sein Team bei Novartis Biomedical Research ein neues Medikament entwickelt. Knapp zehn Jahre später hilft dieses bahnbrechende Medikament immer mehr Brustkrebspatientinnen.

Text von Goran Mijuk, Fotos von Andy Kwok

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Es geht darum, die richtige Molekularstruktur zu finden.

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Publiziert am 18/12/2023

2005 war Christopher Brain wegen einer neuen Stelle bei Novartis Biomedical Research in Cambridge kürzlich mit seiner Familie in die USA gezogen, als er die Chance bekam, als Projektleiter ein neues Forschungsvorhaben zu übernehmen.

Es war eine grossartige und zugleich seltene Gelegenheit, die der Medizinalchemiker auf keinen Fall ungenutzt lassen wollte. Rund ein Jahrzehnt war vergangen, seit er nach seiner Promotion und dem Masterstudium an den Universitäten Manchester und Oxford seine Karriere bei Novartis in Grossbritannien begonnen hatte.

Die neue Chance bot sich im Bereich der sogenannten cyclinabhängigen Kinasen, kurz CDK, die etwa zwanzig Jahre zuvor entdeckt worden waren und anhand derer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Zellteilung besser verstehen lernten.

«Zur damaligen Zeit war das Thema äusserst angesagt und stark umkämpft», erinnert sich Chris Brain, der in Cambridge nach wie vor als Leiter im Bereich der Chemie arbeitet. «Mich faszinierte das Gebiet so sehr, dass ich es unbedingt weiterverfolgen wollte.»

Noble Anfänge

Nur wenige Jahre früher, nämlich 2001, hatten Lee Hartwell, Tim Hunt und Paul Nurse für ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Zellteilung den Nobelpreis für Medizin erhalten. Schwerpunkt ihrer Forschung war vor allem das Verständnis der zugrunde liegenden Strukturen dieses wichtigen Lebensvorgangs.

In den 1970er-Jahren untersuchte Hartwell Bäckerhefe. Dabei fand er heraus, dass der Zellzyklus bei hohen Temperaturen zum Stillstand kommt, und er iden­tifizierte zwölf Gene, darunter CDC28, die an der Aktivierung des Zellzyklus beteiligt sind.

Nurse baute auf diesen Erkenntnissen auf. So fand er nicht nur ein entscheidendes Hefegen, das den gesamten Zellzyklus reguliert, sondern zeigte darüber hinaus, dass das entsprechende Gen des menschlichen Zellzyklus auch perfekt in Hefe funktioniert. Damit hatte er bewiesen, dass es diese Zellfunktion, die auch als CDK bezeichnet wird, schon seit nahezu einer Milliarde Jahren gibt.

Hunt entdeckte später das Protein Cyclin, das die Funktion des CDK-Moleküls steuert und damit den gesamten Zellzyklus in Gang bringt. Bei der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm hiess es: «Inzwischen sind fast 50 Jahre vergangen, seit die Struktur des DNA-Moleküls entdeckt wurde, was zu einer molekularen Erklärung dafür führte, wie ein Gen sich selbst kopieren kann. Dank der Entdeckung von CDK und Cyclin verstehen wir immer besser, wie sich Zellen selbst vervielfältigen.»

Toxisches Intermezzo

Es sollte allerdings noch fast zwanzig Jahre dauern, bis es den Wissenschaftlern gelingen würde, mit diesem Wissen ein Medikament zu entwickeln. Bereits in den 1990er-Jahren hatten mehrere Pharmaunternehmen versucht, die neuen Forschungsergebnisse für den Kampf gegen Krebserkrankungen zu verwenden. Die Idee war, den Zellzyklus zu stoppen, der bei Krebspatienten ausser Kontrolle gerät.

Die ersten Ergebnisse waren jedoch enttäuschend. Dies lag daran, dass die Wissenschaftler Schwierigkeiten hatten, zu verstehen, welchem CDK-Komplex sie sich zuwenden sollten. Sie hatten herausgefunden, dass beim Menschen nicht nur ein, sondern mehr als zehn CDK am Zellzyklus beteiligt sind, von denen jedes eine bestimmte Nummernbezeichnung erhielt. Noch schlimmer war, dass das Blockieren einiger dieser CDK zu toxischen Ergebnissen führte.

Mit zunehmendem Verständnis der zugrunde liegenden biologischen Zusammenhänge wurden CDK4 und CDK6 – zwei Kinasen, die Teil dieses komplexen Zyklus waren – als mögliche Ziele identifiziert. Mögliche Inhibitoren mussten jedoch so konzipiert sein, dass sie nicht mit CDK1 interagierten, die – wie die Wissenschaftler herausgefunden hatten – toxische Reaktionen hervorrufen.

Den richtigen Schlüssel zu diesem Rätsel zu finden, war 2005 die zentrale Herausforderung von Chris Brain und seinem neuen Projektteam. Das Ziel der Gruppe aus hochmotivierten Forschern war nichts Geringeres, als eine selektive Substanz zu entwickeln, die das Problem lösen würde.

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Chris Brain: Wissenschaft ist ein Marathon.

Team­geist

Der Einsatz war hoch: Andere Pharmaunternehmen arbeiteten bereits an ähnlichen Projekten, und Novartis wollte auf dem Gebiet zu den Pionieren gehören, da sich zunehmend zeigte, dass CDK4 und CDK6 bei fast allen Krebsarten eine Schlüsselrolle spielt.

«Es war ein gewaltiges Vorhaben», erinnert sich Brain, «da sowohl CDK4 als auch CDK6 Schlüsselregulatoren der Zellteilung sind, die bei mehr als 80 Prozent der menschlichen Krebserkrankungen gestört ist.» Novartis setzte ihre gesamte Forschungskapazität ein und versuchte, das Problem aus verschiedenen Blickwinkeln anzugehen und die ganze Kraft ihrer wissenschaftlichen Talente zu nutzen. Neben dem Einsatz des Hochdurchsatz-Screenings und mit dem Erfahrungsschatz aus der Kinaseforschung – eine Reihe wichtiger Krebsmedikamente von Novartis waren Kinaseinhibitoren – kooperierte das Team mit Astex Pharmaceuticals aus dem englischen Cambridge im Bereich modernster biophysikalischer Forschungsmethoden.

«Das wirklich Grossartige an diesem Projekt war, dass von Anfang an die richtige Einstellung herrschte. Es wurde sehr engagiert und auf dem neuesten Stand der Wissenschaft am Problem gearbeitet, um unser Ziel zu erreichen», berichtet Brain. «So konnten wir die biologischen und chemischen Zusammenhänge sowie die Wirkmechanismen im Detail nachvollziehen, um daraus eine zielgerichtete Therapie zu entwickeln.»

Die Zusammenarbeit und das überdurchschnittliche Engagement waren ebenfalls entscheidend. Das zeitweise aus 40 Mitgliedern bestehende Forschungsteam erhielt frühzeitig den Hinweis einer anderen Novartis-Forschungsgruppe, die einen Wirkstoff zur Hemmung von CDK1 und CDK2 entwickelt hatte.

Zwar entsprach der Wirkstoff nicht genau den Vorstellungen des Teams. Doch das Gerüst, die grundlegende Molekülstruktur, die Wissenschaftler zur Entwicklung eines Wirkstoffs verwenden, war ein guter Ausgangspunkt und inspirierte sogar Kolleginnen und Kollegen, die Brains Team nicht offiziell zugeteilt waren, ihn weiterzuentwickeln. «Genau hier liegt das Geheimnis des Erfolgs – echte Teamplayer, die nach neuen Erkenntnissen und Fortschritten dürsten und sich nur mit dem besten Ergebnis zufriedengeben.»

Präzise Wissenschaft

Der Geist der Zusammenarbeit wirkte wie ein Zauber: Etwa zwei Jahre nachdem Chris Brain und sein Team mit dem Projekt begonnen hatten, gelang es ihnen nach vielen Rückschlägen, ein Molekül zu synthetisieren, das später zu einer voll funktionsfähigen Krebstherapie gegen bestimmte Formen von Brustkrebs weiterentwickelt werden sollte.

Trotz des frühen Erfolgs hatte das Team noch einen weiten Weg vor sich. Angesichts der aus früheren Studien mit nichtselektiven Zellzyklus-Kinase-Inhibitoren bekannten Toxizität musste das Team die Verträglichkeit, die Wirksamkeit und viele andere Schlüsselaspekte des Wirkstoffs testen, um herauszufinden, ob sich aus dem hochselektiven Wirkstoff ein neues Medikament würde entwickeln lassen.

Dafür ging das Team auch über die eigentliche Aufgabe hinaus und versuchte, den zugrunde liegenden Mechanismus des Wirkstoffs und dessen Interaktion mit den Kinasen, insbesondere mit CDK4, zu verstehen, deren Struktur zu ermitteln war.

«Wir erkannten sehr früh, dass die Proteinoberfläche, auf die wir abzielten, ein hohes Mass an dreidimensionaler Konservierung mit Off-Targets aufwies», so Brain. «Die Bestimmung der Kristallstruktur, also dreidimensionaler Informationen auf Atomebene, war eine echte Herausforderung, an der sich schon viele vor uns versucht hatten.»

Doch der lange Atem zahlte sich aus: «Unser Team war das erste, das ein strukturelles Verständnis der molekularen Wechselwirkungen gewann, welche die Selektivität von CDK4 und CDK6 gegenüber CDK1 und CDK2 begünstigen. Dies gipfelte in der weltweit ersten Kristallstruktur von CDK4 in Verbindung mit seinem Cyclinpartner», erläutert Chris Brain.

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Die nächste Testphase vorbereiten.

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Natürlich hatte das Projekt viele Höhen und Tiefen», gesteht Brain ein. «Wie bei jedem Entwicklungsprogramm war ein plötzliches Ende nie auszuschliessen. Sorge und Anspannung waren unsere ständigen Begleiter. In unserem Fall war das Glück auf unserer Seite, weil wir es geschafft haben, Zusammenarbeit mit wissenschaftlicher Präzision zu vereinen.»

Nachdem der Wirkstoff in Tiermodellen erfolgreich war und auch die Phase-I-Studien aussichtsreich verliefen, wurde die Substanz dank der überzeugenden Daten seit dem Start des Forschungsprojekts schliesslich in Phase-III-Studien überführt.

Das Risiko sollte belohnt werden. Eine Phase-III-Zulassungsstudie mit über 600 Probanden endete erfolgreich und zeigte, dass der Wirkstoff in Kombination mit einer anderen Therapie das Tumorprogressionsrisiko reduzierte. Dies ebnete den Weg für die Zulassung des Medikaments.

Nach zwölf Jahren harter Arbeit schloss sich der Kreis. Mit dem Ergebnis bestätigten sich die zwei Jahrzehnte früher gehegten Hoffnungen, als das Nobelpreiskomitee die Vermutung anstellte, die herausragenden Entdeckungen von Hartwell, Hunt und Nurse würden «bei zahlreichen Anwendungen in vielen Bereichen der Biologie und Medizin enorme Auswirkungen auf die Zellbiologie haben».

«Wenn man bedenkt, dass die frühe Forschung bis in die 1970er-Jahre zurückreicht, hat es lange gedauert, bis das Grundlagenwissen zu einem Medikament führte», so Chris Brain. «Aber genau das ist Arzneimittelforschung: Es braucht viel Zeit, Geduld und hohen Einsatz aus verschiedensten Bereichen. Vor allem aber zählt die richtige, von Kooperation, Teamwork und Entschlossenheit geprägte Einstellung. Dies zusammengenommen ist das Rezept für eine erfolgreiche Entwicklung, an deren Ende neue Therapieoptionen für Patienten stehen, die dringend darauf warten.»

Neue Erkenntnisse

Doch die Medikamentenentwicklung ist immer noch ein wenig komplexer als gedacht: Jahre nachdem Brain und seine Kollegen erfolgreich einen neuen Wirkstoff entwickelt hatten, der bei Brustkrebspatientinnen Wirksamkeit zeigte, ergaben neue Studien, dass er auch Patienten helfen konnte, die bisher keinen Zugang zum Medikament hatten.

«Ein grossartiges Ergebnis, das unsere Kollegen aus der klinischen Entwicklung erzielt haben! Es verweist darauf, wie komplex das Feld der Humanbiologie ist», so Brain. «Es zeigt vor allem auch, wie lang es tatsächlich dauert, bis belastbare medizinische Erkenntnisse vorliegen.»

Auch wenn der Alltag im Labor manchmal hektisch ist, braucht es Jahrzehnte sorgfältiger Forschung, bis für die Patienten handfeste Ergebnisse erzielt werden können. Vor diesem Hintergrund setzt Novartis die Arbeit an dem von Brain und seinem Team entdeckten Wirkstoff fort, um auf den in jahrzehntelanger Arbeit gesammelten Erkenntnissen aufzubauen.

«Wir prüfen nun, wie wir unsere Kenntnisse auf diesem Gebiet weiter ausbauen können», so Brain. «Damit stützen wir uns weiter auf den Erkenntnissen ab, die wir in vielen Jahren Arbeit gewonnen haben.»

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