Die Wurzeln der heutigen Naturstoffabteilung reichen zurück bis zu den Unternehmen, aus denen Novartis entstanden ist. Bei Sandoz begann die Suche nach Arzneimitteln aus biologischen Quellen vor rund 100 Jahren, als die Pharmazeutische Abteilung 1917 gegründet und Arthur Stoll mit deren Leitung beauftragt wurde. CIBA folgte 1934 mit dem Aufbau einer eigenen Naturstoffgruppe. Novartis sieht in den Molekülen der Natur eine bedeutende Quelle neuer Wirkstoffe, die ein grosses Potenzial für die Entwicklung zukünftiger Medikamente bergen. Der folgende Text ist die Zusammenfassung eines Beitrages von Frank Petersen, Leiter der Naturstoffabteilung bei Novartis, anlässlich einer Buchveröffentlichung zum 100. Geburtstag des legendären Naturstoffchemikers und ehemaligen Leiters der Naturstoffabteilung Albert Hofmann.
Text von Michael Mildner
Ein von Arthur Stoll beschriftetes Präparat aus der Naturstoffforschungsgruppe mit dem Ergotaminsalz der Weinsäure (1920) und der Ausgangsstoff, das sogenannte Mutterkorn, auf Roggen.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im April 2014 publiziert.
Publiziert am 23/06/2020
Das Jahr 1916 war für Sandoz dank ihres boomenden Farbstoffgeschäfts finanziell ausserordentlich erfolgreich: Der Gesamtumsatz betrug 30 Millionen Schweizer Franken, während die Erträge sich auf 9,3 Millionen Franken beliefen, das Dreifache des gesamten Aktienkapitals. Um ein Gegengewicht zum dominierenden Farbstoffportfolio zu schaffen, trieb das Unternehmen die weitere Diversifizierung voran und entschied sich dabei für die Gründung eines forschungsgetriebenen Arzneimittelsektors. 1917 wurde Professor Arthur Stoll, ein Schweizer Naturstoffchemiker, vom Ver-waltungsrat mit dem Aufbau des neuen Geschäftsbereichs beauftragt. Mit dem Eintritt Stolls bei Sandoz am 1. Oktober 1917 entstand die sogenannte Pharmazeutische Abteilung, und es begann die einzigartige Erfolgsgeschichte dieser industriellen Forschungsgruppe.
Um einen raschen Erfolg zu erzielen, beschäftigte sich Stoll mit traditionellen medizinischen Anwendungen, die sich im Menschen bereits als wirksam erwiesen hatten. Dabei konzentrierte er sich auf die Isolierung der Alkaloide des Mutterkorns.
Der Mutterkornpilz (Claviceps purpurea) lebt als Parasit auf Roggen und anderen Gräsern. Die medizinische Verwendung des wässrigen Mutterkornextrakts als Wehenmittel und zur Stillung von Nachgeburtsblutungen wurde erstmals 1582 im Kräuterbuch von Adam Lonitzer beschrieben. Stolls Idee, das pharmakologisch relevante Prinzip zu isolieren, beruhte auf der Überzeugung, dass der reine Wirkstoff besser zu dosieren sei. Mit Hilfe von Techniken, die er selbst mitentwickelt hatte, gelang ihm 1918 die historische Isolierung von Ergotamin in reiner Form. Nur drei Jahre später gelangte das Alkaloid unter dem Namen Gynergen® zunächst zur Stillung von Nachgeburtsblutungen auf den Markt, und bereits in den 1920-Jahren wurde das Präparat auch erfolgreich zur Migränebehandlung eingesetzt. Gynergen war das erste Produkt der noch jungen Pharmaabteilung von Sandoz.
1935 nahm der Schweizer Chemiker Albert Hofmann, der 1929 zur Naturstoffgruppe bei Sandoz gestossen war, die Arbeiten an den Mutterkornalkaloiden wieder auf. Er suchte nach einem neuen Analeptikum und synthetisierte dabei das Lysergsäurediethylamid, oder LSD-25, das 25. Derivat der Lysergsäureamidreihe. Während der letzten Reinigungsschritte erlebte Hofmann zufällig die halluzinogene Wirkung von LSD-25, die er drei Tage später in einem Selbstexperiment bestätigen konnte. Die Entdeckung von LSD-25 war der Beginn der Psychopharmakologie und führte in den folgenden Jahrzehnten zum Verständnis der Biochemie der Neurotransmitter Serotonin und Dopamin.
Aus den Sommerferien des Jahres 1969 brachte der Sandoz-Mitarbeiter Hans Peter Frey einige Bodenproben mit nach Basel, aus denen in der Naturstoffabteilung ein Pilz isoliert wurde, der ein zyklisches Peptid produzierte. Das antimykotische Wirkprofil des Naturstoffs, der später den Namen Cyclosporin erhielt, konnte in den nachfolgenden experimentellen Reihen nicht überzeugen und so wurden die Untersuchungen beendet. Die Verbindung wurde an das allgemeine Wirkstoffscreening weitergeleitet, wo man die überraschende immunsuppressive Aktivität des Peptids entdeckte. Mit der Entscheidung, das neuartige Peptid für die Transplantationsmedizin zu entwickeln, erschloss sich Sandoz nach der Ära der Ergotalkaloide wiederum ein neuartiges Forschungsgebiet: die Immunbiologie. 1982 gelangte Cyclosporin als Sandimmun® auf den Markt und revolutionierte die Transplantationsmedizin. Mit der Gabe von Cyclosporin und der dadurch unterdrückten Immunabwehr verlängerte sich die Überlebensdauer der transplantierten Organe signifikant, und gleichzeitig kamen Transplantationspatienten besser mit Infektionserkrankungen zurecht. Autoimmunerkrankungen wie schwere Formen von Psoriasis, rheumatoide Arthritis, Morbus Crohn, systemischer Lupus sowie nephritisches Syndrom konnten mit dem zyklischen Peptid wirksamer behandelt werden. Mit der Entdeckung des Cyclosporin gewann Sandoz wesentliche Einblicke in die molekularen Zusammenhänge der T-Zell-vermittelten Immunantwort und erarbeitete sich in den folgenden Jahren eine wissenschaftliche Spitzenposition in der Erforschung der spezifischen Modulation der Immunantwort. Die konsequente Untersuchung von Substanzen aus Pilzen und Bakterien in diesem Therapiegebiet führte zur erfolgreichen Entwicklung der Derivate von Rapamycin, von Ascomycin und der Mycophenolsäure.
Im Jahre 1934 wurde Professor Emil Schlittler von CIBA mit der Aufgabe eingestellt, eine eigenständige Naturstoffforschungsgruppe aufzubauen. In den folgenden Jahren bearbeitete Schlittler zunächst Indolalkaloide aus der Pflanze Vallesia glabra und Herzglykoside aus Adenium somalense, einer in Ostafrika zur Herstellung von Pfeilgift verwendeten Pflanze. Während des Zweiten Weltkriegs berichteten Handelsvertreter von CIBA in Indien von einer Heilpflanze, die Mahatma Gandhi Linderung seiner Schlafstörungen verschaffen würde. Gemäss ayurvedischer Schriften wirke die Wurzel von «pagla-ka-dawa» oder Schlangenwurzel (Rauwolfia serpentina) beruhigend und werde zur Behandlung von Angst- und Erregungszuständen verwendet. Schlittler startete 1946 ein Projekt zur Isolierung der aktiven Substanz, und 1952 konnte ein neues Alkaloid, das Reserpin genannt wurde, in reiner Form gewonnen werden. Mit der Vermarktung von Reserpin als Serpasil® bereits im darauffolgenden Jahr wurde eines der ersten Beruhigungsmittel in die moderne Humantherapie eingeführt.
Seit den späten 1950er-Jahren arbeitete eine ETH-Forschungsgruppe gemeinsam mit der Naturstoffabteilung von CIBA an der Erforschung von eisenkomplexierenden Naturstoffen. CIBA entwickelte im Rahmen dieser Forschungsarbeiten die industrielle Produktion von Desferrioxamin B und führte den Wirkstoff 1963 als Desferal® ein. Die verkürzte Lebenserwartung von Patienten mit Thalassämie und Hämochromatose wurde durch die Desferal-Therapie auf diejenige von gesunden Menschen erhöht; bis heute hält Novartis einen Marktanteil von 100 Prozent bei der Behandlung dieser Erkrankungen.
Etwa zur selben Zeit nahm ein weiteres Naturstoffprojekt von CIBA seinen Anfang. Seit 1957 forschte das Naturstoffteam der Firma Lepetit an einem hochaktiven unbekannten Antibiotikum. Um die Entwicklung des antibakteriellen Wirkstoffs mit dem Namen Rifamycin voranzutreiben, entschieden sich beide Unternehmen, dieses Projekt gemeinsam zu bearbeiten. Der spätere Präsident der ETHZ Prof. Jakob Nüesch klärte dabei den neuartigen Wirkmechanismus von Rifamycin auf, und im Jahre 1967 brachte CIBA ein semisynthetisches Derivat von Rifamycin als Rimactan® auf den Markt. Aufgrund seiner hohen Aktivität gegen Mykobakterien ist Rimactan bis heute ein Schlüsselantibiotikum im globalen Kampf gegen Tuberkulose und Lepra.
Über 25 Jahre arbeitete CIBA in der Antibiotikaforschung. Als sich Mitte der 1980er-Jahre international die Einschätzung durchsetzte, die bereits vorhandenen Antibiotikaklassen seien zur Bekämpfung bakterieller Infektionen völlig ausreichend, wurde die Suche nach neuen antibakteriellen Naturstoffen reduziert oder gar beendet. Auch CIBA folgte diesem Trend und richtete die Naturstoffarbeiten neu aus. In den folgenden Jahren wurde die Wirkstofffindung mit Naturstoffen in das sich formierende High-Throughput Screening integriert.
Die Initiative für ein neues Entwicklungsprojekt kam überraschenderweise aus China. 1989 traten chinesische Behörden an Ciba-Geigy heran und schlugen die gemeinsame Entwicklung eines neuen Medikaments gegen Malaria tropica vor, die gefährlichste Form der Malariaerkrankungen. Entwicklungskandidat sollte ein Kombinationspräparat aus einem synthetischen Wirkstoff und einem Derivat des Pflanzenmetabolits Artemisinin werden, der aus der chinesischen Arzneipflanze Artemisia annua gewonnen wird. 1994 unterzeichnete Ciba einen Kooperationsvertrag mit verschiedenen chinesischen Instituten, der die gemeinsame Entwicklung des neuen Medikaments festlegte. Nach umfangreichen klinischen Studien wurde das neue Malariamedikament unter den Handelsnamen Coartem®/Riamet® zugelassen und wurde im Jahr 2001 in die «Essential Medicines List» der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen.
Auch in den letzten Jahren führte Novartis immer wieder Naturstoffe und ihre chemischen Derivate in die klinische Forschung ein, um neuartige Therapieformen zu entwickeln.
So wird gegenwärtig ein Antibiotikum in der Behandlung von Darminfektionen mit dem Bakterium Chlostridium difficile untersucht, und die Arbeiten mit einem neuartigen Naturstoff fokussieren sich auf Behandlungsmöglichkeiten von entzündlichen Hauterkrankungen. In der Identifizierung von innovativen Ansätzen für die Therapie der Hepatitis C führte ein Naturstoff ein internationales Forscherteam von Novartis und der Universität Kyoto auf eine vollkommen überraschende Fährte. Eine Proteinfamilie, die Voraussetzung für die Wirkung des Cyclosporins ist, wird auch vom Hepatitisvirus benötigt, um sich zu vermehren. Cyclosporin und seine nichtimmunsuppressiven Derivate verhindern die Rekrutierung dieser Proteine und unterbinden somit die Replikation des Viruspartikels. Novartis führt derzeit verschiedene klinische Studien durch, ob der Wirkmechanismus auch bei Patienten einen therapeutischen Effekt zeigt.
Forschungsarbeiten des Basler Friedrich-Miescher-Instituts und der Novartis Onkologieforschung mit Everolimus legten den Schluss nahe, dass der 2003 für Novartis als Immunsuppressivum zugelassene Wirkstoff auch in der Krebstherapie wirksam sein könnte. Diese Untersuchungen griffen frühere Resultate des kanadischen Unternehmens Ayerst auf, das zwar die Antitumorwirkung der Substanzklasse publiziert hatte, die Forschungsarbeiten daran aber 1982 für sechs Jahre einstellte. Die von Novartis initiierten klinischen Untersuchungen bestätigten die Wirksamkeit von Everolimus, das 2011 und 2012 als Afinitor® die ersten Zulassungen in der Behandlung des Nierenzell- und Pankreaskarzinoms sowie in der Therapie des fortgeschrittenen Brustkrebses erhielt.
Die Moleküle aus Pflanzen oder Mikroorganismen werden bis heute zur Entwicklung neuer Therapien in der Medizin erforscht. Ihre ungewöhnlichen chemischen Strukturen führen zur Entdeckung und chemischen Untersuchung von neuen Wirkstoffklassen. Die Aufklärung ihrer Wirkmechanismen eröffnete Einblicke in Triebfedern von Erkrankungen und ihrer möglichen Medikationen. Novartis hat dieses Forschungsgebiet in den vergangenen Jahren gezielt gestärkt. Durch die Integration neuester Technologien und Ansätze aus der molekularen Genetik sowie der analytischen und präparativen Chemie wird dieses Forschungsgebiet sein grosses Innovationspotenzial in der Wirkstoffsuche der Zukunft einbringen können.
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