Patrice Matchaba: Group Head of Global Health & Corporate Responsibility for Novartis.
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«Wir müssen die Schwellenländer in den Innovationszyklus einbeziehen»

Publiziert am 30/11/2020

Das Interview führte Goran Mijuk, Fotos von Jan Räber und Brent Stirton.

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Start einer Zipline-Drohne in Ghana.

Publiziert am 30/11/2020

Patrice Matchaba war sieben, als sein Vater fast an einem Magengeschwür gestorben wäre. Dieses Ereignis hat sein Leben für immer verändert. Es legte den Grundstein für seine internationale Arztlaufbahn, die im Südrhodesien der späten 1960er-Jahre, dem heutigen Simbabwe, undenkbar erschien.  

Patrice Matchaba war hilflos und bangte um das Leben seines Vaters, der vor dem Operationssaal von der Familie Abschied nahm. Dies war der Schlüsselmoment für Matchaba, in dem er beschloss, Arzt zu werden. Daran änderte sich auch nichts, als sein Vater wider Erwarten nach Hause zurückkehrte. Mit viel Glück hatte er den Eingriff überlebt, bei dem ein Grossteil seines Magens entfernt wurde.  

«Ich wollte damals einfach nur helfen», erinnert sich Matchaba, der heute die neu geschaffene Einheit Global Health & Corp Responsibility von Novartis leitet und die aktualisierte weltweite Access-to-Healthcare-Strategie von Novartis verantwortet. «Diesen starken Instinkt zu helfen habe ich nie mehr verloren. Es war ein Segen für mich, dass mein Vater meinen Berufswunsch unterstützte.» 

In den 40 Jahren, die seither vergangen sind, ist Patrice Matchaba nicht nur Arzt geworden, sondern in seinem Beruf auf der ganzen Welt herumgekommen: In den 1980er-Jahren war er Geburtshelfer in Botswana, in den 90ern erlebte er die HIV-Krise in Durban. Später brachte ihn sein Interesse für Daten und Forschungsergebnisse zum Cochrane-Netzwerk in Kapstadt, wo er Ärzte über die neuesten medizinischen Entwicklungen und deren Bedeutung für die Patienten informierte.  

Wegen seiner beispiellosen Kompetenz klopfte um die Jahrtausendwende Novartis bei ihm an. Zunächst zögerte Matchaba, bis er schliesslich zum Wechsel in einen internationalen Konzern bereit war. Letztlich überzeugt haben ihn nach seinen Worten die «Qualität, Ehrlichkeit und Vielfalt, die ich bei Novartis angetroffen habe». Heute sagt Matchaba, er habe den Schritt in die Industrie nie bereut.  

In seinen knapp 20 Jahren bei Novartis bekleidete er verschiedenste Positionen, unter anderem in der Medikamentenentwicklung für Entzündungskrankheiten und Herzleiden. Zudem modernisierte er die Arzneimittelsicherheit bei Novartis und rief neue Therapiebereiche ins Leben. Zwei wichtige Funktionen von Patrice Matchaba waren Therapeutic Area Head for Immunology and Infectious Diseases sowie Global Head of Drug Safety and Epidemiology.

Matchaba beschreibt sich selbst als sehr neugierigen Menschen, der offen für Neues ist. Neben der Medizin ist er auch tief in die Statistik eingetaucht und hat einen Harvard-Abschluss in Business Development. Seine heutige Position ist ihm wie auf den Leib geschneidert, weil sie alle seine Interessen und Fähigkeiten vereint: Mit seiner langen Praxiserfahrung als Arzt und seinem fundierten Branchenwissen hat er beste Voraussetzungen, um die Brücke zwischen Unternehmenswelt und Patientenbedürfnissen zu schlagen.  

Matchaba erklärt: «Der Zugang zu Arzneimitteln wurde lange Zeit über Spenden gesteuert. Dies führt allerdings leicht zu Abhängigkeiten oder gar Korruption, wie ich in meiner Jugend und als praktizierender Arzt in Afrika aus erster Hand erlebt habe. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir die Schwellenländer in den Innovationszyklus einbeziehen. Nur so können wir neue Möglichkeiten schaffen.»

Seine heutige Position übernahm Matchaba im Jahr 2017, nachdem sein Vater gestorben war. Seither hat er die Zugangsstrategie von Novartis überarbeitet und die bestehenden Zugangsprogramme unter einem Dach zusammengeführt. 

Der Zugang zu Arzneimitteln ist ein wichtiges Thema bei Novartis, seit Ciba-Geigy vor über 50 Jahren ein Forschungs- und Schulungszentrum in Ifakara im Südosten Tansanias eingerichtet hat. In der Folge wurden eine Reihe umfangreicher Zugangsprogramme auf den Weg gebracht, 2001 zum Beispiel die Malaria-Initiative oder 2015 das Novartis-Access-Programm, um den starken Anstieg chronischer Krankheiten in den Schwellenländern einzudämmen.

Jedes dieser Programme hat viel bewirkt. So trug die Malaria-Initiative dazu bei, im Rahmen der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) die Kindersterblichkeit zu senken. Was bisher aber fehlte, war eine übergeordnete Struktur für die vielfältigen Zugangsprogramme von Novartis. Dies soll sich jetzt ändern, indem die Zugangsaktivitäten stärker in die Geschäftsabläufe integriert werden.   

Novartis will das jahrelange Warten auf die Zulassung neuer Mittel abkürzen, damit bahnbrechende Wirkstoffe schnell möglichst viele Menschen erreichen. «Früher dauerte es im Durchschnitt zehn Jahre, bis ein in den USA oder Europa erhältliches Medikament in den ersten Schwellenmärkten zugelassen war. Unser Ziel ist, diese Time-to-Market auf wenige Monate zu verkürzen», erklärt Matchaba.

Er weiss aus eigener Erfahrung, welche Bedeutung dies für das Leben von Patienten und ihre Familien haben kann. «Bei meinem Vater mussten damals die Magengeschwüre in einem schweren und gefährlichen Eingriff entfernt werden. Heute können wir dank der Wunder der Wissenschaft ein solches Leiden mit Protonenpumpenhemmern behandeln, die in den meisten Ländern rezeptfrei erhältlich sind. Solche innovativen Medikamente müssen überall zur Verfügung stehen, egal wo auf der Welt jemand lebt. Darum geht es in unserer Zugangsstrategie.»

Herr Dr. Matchaba, die neue Zugangsstrategie von Novartis zielt darauf ab, mehr Patienten weltweit zu erreichen. Warum dieser neue Ansatz?

Novartis engagiert sich seit über 50 Jahren für einen breiten medizinischen Zugang, und wir haben auf diesem Gebiet schon viel erreicht: ursprünglich durch gemeinnütziges Engagement, aber inzwischen auch durch finanziell nachhaltige Ansätze. Dass dies funktioniert, haben die erfolgreichen Projekte von Novartis Social Business gezeigt. Jetzt wollen wir den medizinischen Zugang noch weiter verbessern und das Thema stärker in unsere Geschäftsabläufe integrieren. Dies ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg, Menschen zu einem längeren Leben zu verhelfen und neue Therapien möglichst vielen Patienten bereitzustellen.

Warum hat man solche Ansätze nicht schon früher ausprobiert?

Bis zur Jahrtausendwende waren die meisten Zugangsprogramme rein philanthropischer Natur. Erst mit der Malaria-Initiative in Zusammenarbeit mit der WHO haben wir Neuland betreten. In diesem Programm hat Novartis sein Malariamedikament Coartem® zum Selbstkostenpreis an Partner abgegeben, die das Mittel mit ihrer lokalen Kompetenz und Schlagkraft flächendeckend verbreiten konnten. Wir haben das Medikament bei dieser Aktion also nicht gespendet, sondern auf unseren Gewinn verzichtet. So konnten wir das Programm weltweit einführen und einen Beitrag zur Bekämpfung der Malariakrise leisten, die damals rund eine Million Menschen pro Jahr das Leben kostete. Vordenker wie Muhammad Yunus und der inzwischen verstorbene C. K. Prahalad haben neue Ansätze geprägt, wie innovative Geschäftsmodelle den Ärmsten der Armen aus der Misere helfen können. Dies hat den Zugang zu medizinischer Versorgung stark verändert.

Können Sie uns dies noch näher erläutern?

Wenn wir die weltweite Einkommenspyramide betrachten, hat sich die Pharmaindustrie früher nur auf deren Spitze konzentriert. Zuverlässig abgedeckt wurden nur diejenigen Patienten und Gesundheitssysteme, an die man die hohen Innovationskosten weitergeben konnte. Am anderen Ende kamen den Allerärmsten Spenden zuteil. Im Rahmen unserer Social-Business-Aktivitäten haben wir dann ein Geschäftsmodell entwickelt, mit dem wir jetzt auch die mittleren Einkommensschichten erreichen, die bisher keinen zuverlässigen medizinischen Zugang hatten. Dass dieser Ansatz gut funktioniert, belegen die finanziell nachhaltigen Healthy-Family-Programme von Novartis in Indien, Vietnam und Kenia. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen wollen wir im nächsten Schritt erreichen, dass unsere neuen Therapien möglichst schnell in Schwellenländern zugelassen werden, und wir möchten den medizinischen Zugang noch weiter verbessern.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Unsere indischen Kollegen haben 2013 Wege gesucht, um die altersbedingte Makuladegeneration in Indien besser in den Griff zu bekommen. In anderen Ländern war ein wirksames Medikament von Novartis zugelassen, das in Indien aber nicht erhältlich war. Vor allem für Selbstzahler war überhaupt keine Lösung in Sicht. Nach mehreren Markttests beantragte das Team die indische Zulassung für eine neue Variante des Medikaments von Novartis, die auf den speziellen medizinischen Bedarf indischer Patienten zugeschnitten und preislich für eine breite Masse erschwinglich war. Dieses Mittel zählt heute zu unseren erfolgreichsten Produkten in Indien.

Wie wird die neue Zugangsstrategie umgesetzt?

Zunächst ist es eine strategische Entscheidung, in den Einführungsprozess für neue Produkte grundsätzlich eine Zugangsstrategie aufzunehmen, damit bahnbrechende Medikamente schnellstmöglich viele Menschen erreichen. Daneben braucht es aber auch einen kulturellen Wandel, damit die zugangsrelevanten Aspekte im Entwicklungsprozess von Anfang an berücksichtigt werden. Gleichzeitig wollen wir mit aller Kraft dafür sorgen, dass unsere in Europa und den USA eingeführten Medikamente wesentlich rascher als früher auch die Schwellenländer erreichen. Heute dauert dies im Branchendurchschnitt zwischen 4 und 12 Jahren, die wir auf rund 12 Monate verkürzen wollen. In Einzelfällen haben wir sogar schon 5 Monate geschafft, aber wir wollen noch schneller werden.

Was tut Novartis in Bereichen, wo Geschäftsmodelle und Strategien alleine nicht ausreichen, damit Patienten in Not innovative Medikamente erhalten?

Ein wichtiger Aspekt unserer Zugangsstrategie ist der Fokus auf sogenanntes Marktversagen − das heisst, wenn die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen zu schlecht sind, um Strategien für eine nachhaltige Versorgung zu entwickeln. Zwei Beispiele dafür sind Malaria und Lepra, für deren Bekämpfung wir uns schon seit Jahren einsetzen. Bei Malaria erleichtern wir den Zugang zu unserem Medikament Coartem und arbeiten ausserdem an der Entwicklung neuer Therapien. So unterstützen wir die globalen Bemühungen zur Ausrottung der Malaria. Bei Lepra ist es ähnlich: Um diese Krankheit zu besiegen, kooperieren wir mit zahlreichen Partnern; von Microsoft etwa werden die neuesten digitalen Technologien beigesteuert. Darüber hinaus startet Novartis gerade zwei neue Projekte für Sichelzellenanämie und die Chagas-Krankheit.

Können Sie uns mehr zu diesen beiden Projekten sagen?

Von der Chagas-Krankheit sind in Südamerika Millionen von Menschen betroffen. Obwohl die Krankheit schon seit über hundert Jahren bekannt ist, gibt es bis heute keine gezielte Therapie. Weil 30 Prozent der Patienten mit der Zeit eine Herzinsuffizienz entwickeln, testen wir derzeit unser Medikament Entresto® im ersten je für Chagas durchgeführten klinischen Studienprogramm. Die Sichelzellenanämie ist eine grausame Krankheit, die oftmals Kinder heimsucht. Hier haben wir kürzlich die US-Zulassung für ein neues Biologikum beantragt. Ausserdem starten wir ein Programm in Ghana, um zusammen mit der Regierung gegen Sichelzellenanämie vorzugehen.

Wie gehen Sie bei diesem Programm in Ghana vor?

Die Sichelzellenanämie ist eine Krankheit der roten Blutkörperchen, für die es weder richtige Behandlungsansätze noch eine zuverlässige Diagnostik gibt. Dies gilt vor allem in Afrika, wo die Krankheit am stärksten verbreitet ist. Mit dem Ziel, das zu ändern und den Weg für Verbesserungen zu ebnen, hat Novartis drei Massnahmen ergriffen: Um die Sichelzellenanämie in Ghana behandeln zu können, haben wir die Lizenz zur Herstellung eines Generikums vergeben. Zweitens haben wir in Partnerschaft mit dem US-Start-up Hemex Health einen hocheffizienten Diagnosetest entwickelt, und drittens führen wir für unser neues Präparat gegen Sichelzellenanämie eine klinische Studie in Afrika durch.

Welche Ergebnisse erwarten Sie?

Wir sind sehr optimistisch, dass unsere Zugangsstrategie vor allem in Bereichen, wo der Markt versagt, die Gesundheitssysteme unterstützt und Menschen hilft, die bisher keine Behandlung bekommen. Obwohl das Projekt in Ghana gerade erst angelaufen ist, haben mehrere afrikanische Länder schon Interesse gezeigt, sich an dem Programm zu beteiligen. Wir sind aus meiner Sicht auf gutem Weg, im globalen Gesundheitswesen etwas zu bewegen. Unsere Programme sind so umfassend und schlagkräftig, dass sie die Situation von Patienten rund um den Globus verändern.

Wo sehen Sie das Engagement von Novartis für die globale Gesundheit in fünf Jahren?

Unserer Strategie entsprechend wollen wir ein führendes und gezielt ausgerichtetes Arzneimittelunternehmen werden, das sich auf zukunftsweisende Therapieplattformen und digitale Lösungen konzentriert. Eine unserer fünf strategischen Prioritäten lautet, gesellschaftliches Vertrauen zu schaffen. Dies wollen wir zum Beispiel erreichen, indem wir eine klare Preis- und Zugangsstrategie erarbeiten, Lösungsansätze für einige besonders dringliche Gesundheitsprobleme weltweit finden und starke Beziehungen zu unseren wichtigsten Interessengruppen pflegen. Durch unsere Zugangsaktivitäten haben wir uns im Global-Access-to-Medicine-Index in den letzten Jahren von Rang 7 auf Rang 2 vorgearbeitet. Diesen Weg wollen wir fortsetzen, indem wir unsere neuen Therapien so vielen Menschen wie möglich zugänglich machen und weiter zur Stärkung der Gesundheitssysteme beitragen. Ich hoffe, dass wir in den nächsten fünf Jahren weitere Erfolge bei der Ausrottung von Krankheiten wie Malaria und Lepra feiern und die Basis schaffen, um verbreitete Leiden wie Sichelzellenanämie und die Chagas-Krankheit einzudämmen. Dies wären tolle Erfolge. So könnten Millionen von Menschen, die heute noch gar keine oder keine zuverlässige medizinische Versorgung erhalten, erfolgreich behandelt werden. Für dieses Ziel lohnt es sich zu kämpfen. 

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