Ein Interview mit Martin Missbach, Leiter der Abteilung Global Discovery Chemistry in Basel.
Das Interview wurde geführt von Goran Mijuk, Fotos von Laurids Jensen
Banting 1.
Publiziert am 12/04/2021
Martin Missbach, der auf mehr als 30 Jahre medizinische Arzneimittelforschung zurückblicken kann, hat während seiner Karriere nicht nur die Entwicklung einiger der erfolgreichsten Arzneimittel der Branche hautnah miterlebt. Der 60-jährige Wissenschaftler erlebte auch das Aufkommen bahnbrechender Technologien und innovativer Arbeitsmodelle, die während seiner langen Laufbahn zur Beschleunigung der Arzneimittelforschung beigetragen haben.
Missbach, der den Umbau des Forschungsgebäudes Banting 1 auf dem Novartis Campus in Basel leitet, ist zuversichtlich, dass sich die Arzneimittelforschung in den kommenden Jahren aufgrund der zunehmenden Digitalisierung, der intensiveren Zusammenarbeit und dank modernster Technologien beschleunigen wird.
Sein Optimismus ist begründet. Novartis, die in den vergangenen Jahren zwölf neue Wirkstoffe auf den Markt gebracht hat – ein Rekord in der pharmazeutischen Industrie –, habe nicht nur die technologische Leistungsfähigkeit, sagt Missbach. Die Forscherinnen und Forscher verfügten auch über die richtige Einstellung, um bahnbrechende Innovationen auf den Weg zu bringen.
Missbachs eigener wissenschaftlicher Weg reicht weit zurück: «Schon als Kind war es das Schönste für mich, freie Nachmittage draussen zu verbringen», sagt er. «Ich war nie jemand, der ständig zu Hause sass und nur Bücher las. Das Beste für mich war, draussen in der Natur zu sein, sei es im Wald oder im Wasser, wo auch immer. Ich spürte stets eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und den Wildtieren. Bis heute gehe ich in meiner Freizeit begeistert der Natur- und Wildtierfotografie nach.»
Die frühe Faszination für die Natur führte ihn an die Eidgenössische Technische Hochschule. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für die medizinische Chemie: «Ich wachte gewissermassen auf, als ich als Student Vorlesungen über organische Chemie besuchte. Ich war von Anfang an fasziniert davon, dass man mithilfe der Chemie neue Moleküle erschaffen und lernen kann, wie diese mit dem biologischen Umfeld interagieren.»
Seine Begeisterung für die Chemie wuchs mit den Jahren weiter, vor allem als er in Zürich seine Master- und seine Doktorarbeit schrieb. An etwas zu arbeiten, «was für die Patienten Wirkung und Bedeutung hat», veranlasste ihn später, von einer akademischen Laufbahn abzusehen und in die Pharmaindustrie einzusteigen, ein Weg, den er nie bereut hat.
Anfang der 1990er-Jahre wechselte Missbach zu Ciba-Geigy. Dort erlebte er hautnah, was Wirkstoffe bei Patienten bewirken können, denn er hatte die Chance, unter anderem mit Peter Bühlmayer und Jürg Zimmermann zusammenzuarbeiten, den Erfindern von Diovan® und Glivec®, zwei der erfolgreichsten Novartis-Medikamente.
Laut Missbach ist der Erfolg der beiden Medikamente auch der Arbeitsorganisation im Unternehmen zu verdanken. «Als ich Anfang der 1990er-Jahre zu Ciba-Geigy kam, war das eine spannende Zeit, denn das Unternehmen war gerade dabei, seine Labor- und Arbeitskultur zu verändern», erinnert sich Missbach. «In einem der damals modernsten Gebäude teilten sich je zwei Wissenschaftlerteams die Chemielabors. Dies trug zu einer intensivierten Kommunikation und Interaktion unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bei.»
Bevor Computer im Arbeitsalltag Einzug hielten, arbeiteten die Wissenschaftler meist an eigenen Projekten und tauschten neue Ideen kaum mit Kolleginnen und Kollegen aus. Doch als die Technologie voranschritt und Computer eine nahtlose Kommunikation ermöglichten, wurde die Zusammenarbeit immer wichtiger.
«Das hat sich seit meinem Berufseinstieg in der Industrie grundlegend geändert», so Missbach. «Natürlich haben Wissenschaftler früher auch zusammengearbeitet. Aber das Ausmass, in dem wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse geteilt wurden, war damals wesentlich geringer. Im heutigen Arbeitsalltag, in dem wir Informationen in Echtzeit erhalten und weltweit teilen können, ist eine solche Einstellung fast undenkbar.»
Dies gilt insbesondere auch für Banting 1, wo verschiedene Teams aus unterschiedlichen chemischen Disziplinen in einem Gebäude zusammenarbeiten. «Früher waren wir über den ganzen Campus und auch in Klybeck verstreut. Indem wir die Teams nun unter einem Dach vereinen, können wir Zusammenarbeit in einer neuen Dimension praktizieren.»
Dank der Aussicht auf einen noch intensiveren Austausch zwischen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Forschungsbereichen ist Missbach davon überzeugt, dass die Innovationstätigkeit sich noch beschleunigen wird und vor allem die Patienten langfristig davon profitieren werden.
Herr Missbach, seit zwei Jahren arbeiten Sie daran, verschiedene Teams in das sanierte Gebäude Banting 1 zu integrieren. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Es war ein faszinierendes und schwieriges Projekt zugleich. Als wir uns im Frühjahr 2020 mit den Architekten zu einem Kick-off-Gespräch über die Umrüstung des alten, sehr unübersichtlichen Laborgebäudes WSJ-88 trafen, um ein neues Zentrum für die Abteilung Global Discovery Chemistry zu schaffen, brach die Coronapandemie aus. Eine Woche später waren wir im Lockdown. Dies hat die Arbeitsbedingungen stark belastet. Aber ich bin sehr froh, dass wir das Gebäude fast pünktlich fertigstellen und die Zusammenarbeit dort starten konnten.
«Colocation» lautet das Zauberwort, wenn es um Banting 1 geht. In gewisser Weise gleicht das Gebäude einem Miniatur-Campus, der sich über zehn Etagen erstreckt. Können Sie beschreiben, was sich im Inneren des Gebäudes abspielt?
Das Gebäude beherbergt rund 230 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Bereichen wie etwa der klassischen Medizinalchemie und der analytischen Chemie sowie Expertinnen und Experten für spezialisierte synthetische Technologien und für die computergestützte Chemie. Darüber hinaus haben wir im Bereich der Naturstoffprodukte eine hochmoderne Pilotanlage gebaut, um mithilfe von Mikroorganismen neuartige Wirkstoffe sowie Schlüsselenzyme herzustellen. Was Banting 1 für die Medizinchemiker so besonders macht, ist die Tatsache, dass Wissenschaftler aus verschiedenen Krankheitsbereichen, die früher an verschiedenen Standorten auf dem Campus arbeiteten, sich nun in einem Gebäude befinden und sich so miteinander austauschen und voneinander lernen können.
Wie findet diese Interaktion statt?
Wir haben dem Zufall nachgeholfen und haben nur in jeder zweiten Etage eine Kaffeeküche eingerichtet, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sich die Menschen zufällig begegnen und einander besser kennenlernen. Die Bereiche der Besprechungsräume sind auf ähnliche Weise angeordnet. Ehrlich gesagt bin ich in meiner 30-jährigen Karriere bei Novartis pro Tag noch nie so vielen Kollegen begegnet. Dies ist allein der Struktur des Gebäudes zu verdanken.
Erwarten Sie von dieser Form der Interaktion Impulse für Innovationen?
Das war ja die Grundidee des Campus: die Kommunikation zu verbessern und Menschen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen zusammenzubringen. Wenn man sich die wissenschaftlichen Innovationen anschaut, die in den vergangenen Jahren aus diesem Konzept hervorgegangen sind, dann erwarte ich, dass die Konzeption von Banting 1 dazu beitragen wird, diesen Trend zu beschleunigen. Übrigens gibt es verschiedene Möglichkeiten der Colocation. In Banting 1 haben wir die verschiedenen Disziplinen der Chemie gemeinsam angesiedelt, in WSJ-386, in Fab-16 und Virchow-16 haben wir die medizinische Chemie mit unseren Partnern in Krankheitsbereichen und funktionellen Bereichen wie Onkologie, Muskel-Skelett-Erkrankungen und chemische Biologie sowie Therapeutika angesiedelt, um die Arzneimittelforschung durch Zusammenarbeit zu verbessern.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Nehmen Sie unsere Pilotanlage für Naturstoffprodukte. Hier arbeiten wir intensiv mit Kollegen aus anderen Abteilungen wie der chemischen und analytischen Entwicklung zusammen, um klinische Kandidaten im grossen Stil herzustellen. Dazu verwenden wir massgefertigte Enzyme, die es ermöglichen, bei Raumtemperatur ohne grosse Mengen organischer Lösungsmittel einen Reaktionsschritt in Wasser durchzuführen. Dies ist Teil eines unternehmensweiten Bestrebens nach neuartigen Produktionsmethoden, die eines Tages die grosstechnische Arzneimittelherstellung verändern könnten.
Gibt es noch andere Highlights?
Ja, wir haben darüber hinaus ein Lab-to-Lab- und Building-to-Building-Konzept entwickelt, um Testproben direkt aus dem Labor analysieren zu können. In der Vergangenheit mussten die Forscherinnen
und Forscher die Probenröhrchen manuell oder per Hauspost transportieren. Unser neues Rohrpostsystem ermöglicht es nun, diesen Prozess zu automatisieren, die Ergebnisse deutlich schneller zu erhalten und gleichzeitig den Einsatz unserer Analysemaschinen zu optimieren.
Können Sie uns einige der Schlüsselprojekte vorstellen, an denen Forscher in Banting 1 arbeiten?
Unsere Wissenschaftler arbeiten schon an verschiedenen wichtigen NIBR-Projekten. Ein zentrales Bestreben ist beispielsweise, Wirkstoffe mit kovalenter Bindung zu identifizieren. So sollen Medikamente entwickelt werden, die eine wesentlich längere Target-Belegung aufweisen und somit effizienter sind.
Gibt es noch andere Beispiele?
Eine weitere unternehmensweite Anstrengung ist die Entwicklung von Wirkstoffen, die zum Abbau krankheitsauslösender Proteine beitragen können. Das ist ein wirklich neuer Weg, um gegen schwer behandelbare Krankheiten vorzugehen. Es ist auch ein weiteres eindeutiges Zeichen dafür, dass die Niedermolekularforschung eine gangbare Zukunft hat, da diese Wirkstoffe, wenn sie gut konstruiert sind, mit sehr hoher Effizienz arbeiten.
Die medizinische Chemie hat einige der grössten Durchbrüche in der Unternehmensgeschichte hervorgebracht. Doch wie sieht jetzt mit dem Aufkommen neuer Technologien wie Gentherapie oder Nuklearmedizin die Zukunft der Niedermolekularforschung aus?
Das Potenzial der Niedermolekularforschung ist noch lange nicht ausgeschöpft. Natürlich sind in den vergangenen Jahrzehnten neue Technologien entstanden, die sich in einer Vielzahl von Krankheitsbereichen als sehr wirksam erwiesen haben. Doch wie ich bereits sagte, eröffnen neue Ansätze wie die Kovalenz, der gezielte Proteinabbau, ADCs (antibody-drug conjugates, RLT (Radioligandentherapie) oder die RNA-Interferenz neue Wege für die Niedermolekularforschung. Darüber hinaus können niedermolekulare Wirkstoffe intrazellulär wirken und in Zielgewebe wie beispielsweise das Gehirn eindringen. Was man braucht, ist eine klare Zukunftsstrategie.
Können Sie das etwas konkreter erläutern?
Wir verfolgen ein Best-in-Class- oder First-in-Class-Konzept. Wir zielen entweder darauf ab, Wirkstoffe zu entwickeln, die bisher noch niemand hergestellt hat, oder wir streben an, Wirkstoffe mit grösstmöglicher Wirksamkeit zu schaffen. In beiden Fällen haben wir bewiesen, dass wir das fertigbringen. Natürlich gehören Misserfolge zu unserem Geschäft, doch ich bin davon überzeugt, dass wir über die nötigen Talente und das technologische Know-how verfügen, um Erfolge erzielen zu können.
Sie haben den Aufstieg bahnbrechender Therapien wie Diovan und Glivec miterlebt, da Sie eng mit den Teams und Forschern zusammenarbeiteten, die mit diesen Medikamenten befasst waren oder sie kannten. Können Sie ein wenig darüber sprechen, was Ihrer Meinung nach das Geheimnis der wissenschaftlichen Forschung ist?
Dass ich Gelegenheit hatte, diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die so wichtige Beiträge für das Unternehmen geleistet haben, kennenzulernen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, ist natürlich eine grosse Ehre. Aber es ist auch klar, dass ihr Erfolg keine Einbahnstrasse war. Ich erinnere mich noch, dass lange Zeit Zweifel an der Praktikabilität dieser Wirkstoffe bestanden. Selbst als sie auf dem Markt eingeführt wurden, war nicht jeder davon überzeugt, dass diese Arzneimittel eine grosse Wirkung haben würden. Natürlich wissen wir es heute in der Rückschau besser. Aus meiner Sicht liegt das Geheimnis darin, ausdauernd zu sein und eine Idee zur richtigen Zeit entweder weiterzuverfolgen oder fallen zu lassen. Es braucht auch ein gutes Urteilsvermögen, welchen Weg man einschlagen will.
Was haben Sie aus diesen Erfahrungen gelernt?
Was oft unterschätzt wird, ist die wahre Komplexität der Arzneimittelforschung. Oft ist es nicht schwer, Wirkstoffe zu finden, die sich durch eine bestimmte Aktivität auszeichnen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht jedoch darin, den Wirkstoff so zu gestalten, dass er im menschlichen Körper überlebt und nur so wirkt, wie es beabsichtigt ist. Dies erfordert eine äusserst ganzheitliche Herangehensweise, in der man gezwungen ist, ständig zu lernen. Dennoch ist klar, dass niemand einen Zauberstab besitzt und in der Lage ist, ein erfolgreiches Medikament zu entwickeln, ohne grosse Hindernisse überwinden zu müssen. Doch die gute Nachricht ist, dass die Wissenschaft immer leistungsfähiger wird.
Können Sie das konkretisieren?
Die Wissenschaft macht an vielen Fronten Fortschritte. Mit dem Kryo-Elektronenmikroskop beispielsweise können wir Proteine einfrieren und ihre molekulare Interaktion auf eine Weise und in einer Vergrösserung untersuchen, wie es bisher nicht möglich war. Dies eröffnet viele neue Wege, um besser zu verstehen, wie unsere Wirkstoffe mit diesen Proteinen interagieren. So können wir sie besser konzipieren und Proteine zum Ziel nehmen, die für uns bisher nicht greifbar waren. Neue Ansätze im Bereich des Machine Learning und der künstlichen Intelligenz tragen ebenfalls dazu bei, dass wir ein besseres Gespür dafür bekommen, wie wir Wirkstoffe konstruieren und welche wir zuerst entwickeln sollten.
Wie wählt man angesichts der steigenden Zahl wissenschaftlicher Möglichkeiten aus verschiedenen Projekten aus?
Ideen haben wir immer noch sehr viele. Besser werden müssen wir bei der Auswahl der richtigen Ideen. Es ist nicht immer einfach, den Ausgang eines Projekts vorherzusagen. Wie ich bereits erwähnte, stösst man gelegentlich auf nicht vorhergesehene Hindernisse, weil ein Wirkstoff nicht so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hatte. Man kann dann hingehen und dieses Problem untersuchen. Doch das Ziel ist es, die richtige Balance zu erreichen. Unser Ziel ist die Entwicklung von Medikamenten, nicht die rein wissenschaftliche Forschung. Das sollten wir immer im Hinterkopf behalten, wenn wir entscheiden, ob wir ein Projekt fortsetzen oder abbrechen wollen.
Unterstützt die Zusammenarbeit diese Entscheidungsprozesse?
Auf jeden Fall. Für solche Entscheidungen, die nie einfach sind, braucht es erfahrene Wissenschaftler. Wie Glivec und Diovan mir gezeigt haben, können solche Diskussionen in alle Richtungen gehen. Aber eine kooperative Denkweise ist in jedem Fall hilfreich. Ich bin auch davon überzeugt, dass die Zusammenarbeit, sei es im Banting 1 oder mit unseren Kollegen anderswo auf dem Campus oder in Cambridge, Emeryville oder San Diego, in den kommenden Jahren positiv zur Novartis-Pipeline beitragen wird. Wir verfügen über herausragende, talentierte Mitarbeitende und einige der besten Technologien, um unsere Arbeit effizienter, schneller und intelligenter zu gestalten und gleichzeitig das Ziel im Auge zu behalten. Dies ist seit 30 Jahren der Fall, und ich bin überzeugt, dass es auch in Zukunft so bleiben wird.
These cookies are necessary for the website to function and cannot be switched off in our systems. They are usually only set in response to actions made by you which amount to a request for services, such as setting your privacy preferences, logging in or filling in forms. You can set your browser to block or alert you about these cookies, but some parts of the site will not then work. These cookies do not store any personally identifiable information.
These cookies allow us to count visits and traffic sources so we can measure and improve the performance of our site. They help us to know which pages are the most and least popular and see how visitors move around the site. All information these cookies collect is aggregated and therefore anonymous. If you do not allow these cookies we will not know when you have visited our site, and will not be able to monitor its performance.