Big Data wird die Büchse der Pandora öffnen
content-image
Wissenschaft
00

2036

Wie sieht die Zukunft der Medizin und der pharmazeutischen Forschung aus? Was wird die Industrie in 15 Jahren beschäftigen? Wie werden die Menschen mit dem Thema Gesundheit umgehen? live hatte 2016 den Schweizer Zukunftsforscher Georges T. Roos gebeten, eine Einschätzung für das Jahr 2036 zu geben. Einige seiner Visionen sind bereits eingetroffen. Andere scheinen noch in weiter Ferne zu liegen.

von Georges T. Roos*

scroll-down
Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon
content-image
Enter fullscreen

Sonnenuntergang über einem Google-Datenzentrum in Belgien.

Publiziert am 02/03/2021

Am Anfang muss das Eingeständnis stehen: Die Zukunft ist ungewiss – ungewisser denn je, und Prognosen sind daher ein gewagtes Unterfangen. Zwischen heute und 2036 wird vieles passieren, wovon wir gegenwärtig nicht den Hauch einer Ahnung haben. Trotzdem wage ich eine These: Gesundheit gehört zu jenen Aspekten des Lebens, die 2036 fundamental verschieden sein werden von heute. Ich zähle Gesundheit neben der nächsten digitalen Revolution und den tiefgreifenden demografischen Veränderungen zu den disruptiven Zukünften. Damit meine ich: Diese Aspekte des Lebens würden für einen Zeitreisenden nicht wiederzuerkennen sein. 

Transhumanisten

Ray Kurzweil gilt als Technovisionär und ist heute Director of Engineering bei Google. Im viel zitierten Buch «The Age of Spiritual Machines» entwirft Kurzweil die Entwicklung der Informationstechnologie bis zum Zeitpunkt, da intelligente Maschinen eigenständig noch intelligentere Maschinen hervorbringen werden – die Singularität. Weniger bekannt ist, dass Ray Kurzweil täglich 150 bis 200 Ergänzungstabletten zu sich nimmt. Er hofft, damit Lebenszeit zu gewinnen, bis die Technologie in der Lage sein wird, das Bewusstsein eines einzelnen Menschen zu digitalisieren. Kurzweil ist ein Transhumanist. Transhumanisten wollen die Evolution in die eigenen Hände nehmen: Mittels Pharmakologie und Implantaten, Gen-Engineering und Hirnstimulationen soll der Mensch besser werden als von der Natur aus geworden. Die letalen Krankheiten sollen eliminiert werden. Wenn der Tod trotzdem nicht ganz abzuschaffen sein würde, so soll zumindest in der digitalen Welt das eigene Bewusstsein weiterleben. Man mag sie als Spinner abtun – was sie in ihren Extrempositionen wohl auch sind. Tatsache ist, dass es bereits für knapp die Hälfte des menschlichen Organismus künstliche Ersatzteile gibt. Selbst künstliches Blut gibt es, wie die TV-Dokumentation «The Incredible Bionic Man» des Smithsonian Channel dokumentiert, in der all diese Ersatzteile zu einem künstlichen Wesen zusammengesetzt wurden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einige dieser Ersatzteile besser sein werden als das biologische Original. Für die Gesellschaft der Zukunft wird dies eine Herausforderung darstellen: Soll ich auf das bessere, künstliche Organ umstellen? Oder doch nicht? Erst, wenn das Original abbaut, oder bereits vorher? Für manche mag das noch absurd klingen. Ich wage aber zu postulieren, dass Kurzweil und Co. Frühsignale eines neuen Gesundheitsparadigmas darstellen.

Wie wir leistungsfähiger werden

Was die Gesellschaft unter Gesundheit versteht, unterliegt einem Wandel. Lange Zeit genügte es, nicht krank zu sein, um als gesund zu gelten. Das damalige wegleitende Paradigma dürfen wir mit «Reparaturmedizin» bezeichnen, weil unter seinen Vorzeichen beim Vorliegen einer Krankheit alles unternommen wird, um diese zu heilen. War die Krankheit aber einmal geheilt, verschwand das Thema Gesundheit im Hintergrundrauschen und genoss wenig Aufmerksamkeit. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieses Paradigma überholt. Es genügt nun nicht mehr, frei von Krankheiten zu sein. Immer stärker wurde zum Leitgedanken, wie die eigene Gesundheit aktiv gefördert werden kann. Wer sich nicht mit Sport, gesunder Ernährung und regelmässigen Vorsorgeuntersuchungen um die eigene Gesundheitsförderung bemüht, ist heute unter Rechtfertigungsdruck. Dasselbe gilt für Unternehmen: Es reicht nicht mehr, wenn sie sich um den Gesundheitsschutz der Belegschaft kümmern, etwa mit Schutzgittern um gefährliche Maschinen herum oder durch spezielle Schutzkleidung für die Mitarbeitenden. Auch von Unternehmen wird heute erwartet, dass sie aktiver Partner in der Gesundheitsförderung ihrer Mitarbeiter sind. Neben der Pharmaindustrie bedienen viele weitere Branchen die Erwartungen des neuen Paradigmas, das ich als Gesundheitskultur bezeichnen möchte. Auch die Lebensmittelbranche und selbstredend die Fitness- und Wellness-Branche leisten ihren Teil dazu.

Soweit die Gegenwart. Das Paradigma der nächsten 15 Jahre ist am besten mit «Human Performance Enhancement» beschrieben. Viele Frühsignale weisen darauf hin, dass sich künftig Gesundheit um die Frage drehen wird, wie wir leistungsfähiger werden – physisch, psychisch und mental. Ein Frühsignal ist zum Beispiel die immer beliebtere Selbstvermessung durch mobile Apps. Ein mit etlichen Sensoren bestücktes Armband oder Daten-T-Shirt, ein «smartes» Pflaster oder gar subkutan angelegte Mikrochips mit Sensoren zählen Schritte, messen Stress, zeigen den Blutdruck oder Blutzuckerwerte an. Die Daten gelangen via Smartphone zur Auswertung durch zugrunde liegende Algorithmen. Der User erhält in Echtzeit den aktuellen Gesundheitszustand angezeigt. Zu den ersten Anwendern dieser Selbstvermessung gehören neben den Techno-Freaks Sportler und Hochrisikopatienten. All diese Apps werden aber bald auch «gewöhnliche» Gesunde nutzen, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Ein weiteres Frühsignal erkenne ich in der wachsenden Bereitschaft gerade jüngerer Menschen, mit Energydrinks, Drogen und Medikamenten ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Während physisches Doping im Sport gesellschaftlich verpönt wird, ist die Akzeptanz des sexuellen und psychischen Dopings bereits weit fortgeschritten. Immer mehr kommt nun das mentale Doping in Mode: Eine Studie der Universitäten Zürich und Basel weist aus, dass bereits jeder siebte Studierende einmal Neuro-Enhancer eingenommen hat, um Prüfungen besser bestehen zu können. Ohne hier abschliessend alle Hinweise auf das kommende Paradigma aufzählen zu können, füge ich noch ein weiteres Frühsignal an: Die Verdoppelung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung in der Schweiz zwischen 2002 und 2014. Meist unterziehen sich Paare mit unerfülltem Kinderwunsch dieser Prozedur. Mehr und mehr wird die medizinisch unterstützte Fortpflanzung aber auch nachgefragt, um die biologische Uhr auszuschalten. Kinder ja – aber so, dass sie in die Karriereplanung passen.

content-image
Enter fullscreen

Diagnose eines überhitzten Computerprozessors in einem Google-Datenzentrum in Oregon, USA.

Big Data wird die Büch­se der Pan­do­ra öff­nen

Dieser Paradigmenwandel kennzeichnet natürlich einen Wertewandel in Bezug auf Gesundheit und Natürlichkeit. Möglich gemacht wird er allerdings zu grossen Teilen durch den phänomenalen Fortschritt in den Life Sciences wie Biologie, Bioinformatik und Gentechnologie. Des Weiteren treiben ihn disruptive Informationstechnologien an. Das Stichwort dazu lautet Konvergenz: Verschiedene Wissenschaftssphären verschmelzen und heben die medizinischen Möglichkeiten in eine neue Dimension. Nehmen wir den Faden der neuen Medizinzukunft am Beispiel des menschlichen Erbguts auf: Nur gerade noch 1000 Dollar kostet die Sequenzierung des Genoms eines Menschen. Noch gleicht das Ergebnis einem Wörterbuch ohne Definitionen: Was die schätzungsweise 25 000 Gene wirklich tun, wissen wir in den meisten Fällen noch nicht. Aber was werden wir entdecken, wenn wir das Erbgut von Millionen von Menschen vergleichen können, sie mit deren Krankheitsakten abgleichen, dazu viele Daten zu den Lebensstilen beifügen und wir eine Technologie haben, um aus all diesen Daten sinnvolle Hypothesen zu generieren? Wenn wir so weit sind, und das dürfte nicht mehr lange dauern, dann werden wir einen Sprung in der Welt der Medizin erleben. Die für die Verarbeitung solch riesiger Datenmengen erforderliche Technologie ist am Horizont zu erkennen. Die einen reden von Big Data, die anderen von Cognitive Computing. Meiner Meinung nach ist es erst jetzt angebracht, von künstlicher Intelligenz zu reden. Wenn wir hierfür auch ein Frühsignal benennen wollen, so lautet es Watson. Watson ist der Name der künstlichen Intelligenz von IBM. IBM hat sie in einer spektakulären Show 2011 präsentiert, in der TV-Quiz-Show «Jeopardy!», in der es darum geht, Wissensfragen zu beantworten. Watson besiegte zwei in dieser Disziplin erfolgreiche Mitspieler. Das Faszinierende an Watson war die Dreiheit von «versteht natürliche Sprache», «bildet selbst Hypothesen und überprüft diese anschliessend» und «lernt eigenständig dazu». In der Zwischenzeit ist Watson vom Spiel zur Arbeit übergegangen. IBM hat eine spezielle Abteilung gegründet, 2000 Ingenieure darauf angesetzt und diverse Pilotprojekte gestartet. Etliche davon betreffen die Medizin. So hilft Watson beispielsweise bei der Diagnose und Behandlung von Hautkrebs. Watson soll zudem helfen, die sehr teure und langwierige Entwicklung neuer Medikamente massiv zu beschleunigen. 

Disruption in der Gesundheitsbranche

Auf den Nenner gebracht, sind Daten der wichtigste Treiber, der die Zukunft der Gesundheitsbranche disruptiv macht. Die Genomik erzeugt riesige Datenmengen. Ebenso die mobilen Selbstvermessungsanwendungen. Daten, die, intelligent kombiniert, neue Einsichten über das Zusammenspiel von Lebensgewohnheiten, Krankheiten und Leistungsveränderungen dokumentieren werden. Wir werden ein mächtiges Instrument in die Hand bekommen, das die Wirksamkeit von Medikamenten belegen wird. Es wird Medikamente geben, die auf bestimmte Genotypen zugeschnitten sein werden – die so genannte personalisierte Medizin. Überdies könnte künstliche Intelligenz Wirkstoffe entdecken, die bisher unerkannt sind. Die zentrale Rolle der Daten und Datenverarbeitung wird die Pharmabranche in einer Weise herausfordern, wie sie andere Branchen bereits heute erleben: Facebook ist das grösste Medium der Welt, produziert aber selbst keine Inhalte. Airbnb ist das grösste Beherbergungsunternehmen, besitzt selbst aber keine einzige Liegenschaft. Uber ist das grösste Taxiunternehmen der Welt, hält aber weder eigene Fahrzeuge noch Chauffeure. Alibaba ist der wertvollste Detailhändler, hat selbst aber keine Läden. Ähnlich könnte es auch in der Pharmaindustrie bis 2036 zu und her gehen: IT-Unternehmen werden zu den wichtigsten Mitspielern gehören, obwohl sie weder Patienten noch Spitäler noch Forschungslabore haben. Sie werden aber über das Gold von morgen verfügen: die Daten.

*Georges T. Roos ist unabhängiger Zukunftsforscher. Er war Mitglied der Geschäftsleitung des Gottlieb Duttweiler Instituts, bis er 2000 das Zukunftsinstitut ROOS Trends & Futures gegründet hat. Roos ist spezialisiert auf Megatrends des gesellschaftlichen Wandels. Die Originalversion seines Beitrags erschien in der Printausgabe von live im März 2016.

icon

Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon