Sonnenuntergang über einem Google-Datenzentrum in Belgien.
Publiziert am 02/03/2021
Am Anfang muss das Eingeständnis stehen: Die Zukunft ist ungewiss – ungewisser denn je, und Prognosen sind daher ein gewagtes Unterfangen. Zwischen heute und 2036 wird vieles passieren, wovon wir gegenwärtig nicht den Hauch einer Ahnung haben. Trotzdem wage ich eine These: Gesundheit gehört zu jenen Aspekten des Lebens, die 2036 fundamental verschieden sein werden von heute. Ich zähle Gesundheit neben der nächsten digitalen Revolution und den tiefgreifenden demografischen Veränderungen zu den disruptiven Zukünften. Damit meine ich: Diese Aspekte des Lebens würden für einen Zeitreisenden nicht wiederzuerkennen sein.
Transhumanisten
Ray Kurzweil gilt als Technovisionär und ist heute Director of Engineering bei Google. Im viel zitierten Buch «The Age of Spiritual Machines» entwirft Kurzweil die Entwicklung der Informationstechnologie bis zum Zeitpunkt, da intelligente Maschinen eigenständig noch intelligentere Maschinen hervorbringen werden – die Singularität. Weniger bekannt ist, dass Ray Kurzweil täglich 150 bis 200 Ergänzungstabletten zu sich nimmt. Er hofft, damit Lebenszeit zu gewinnen, bis die Technologie in der Lage sein wird, das Bewusstsein eines einzelnen Menschen zu digitalisieren. Kurzweil ist ein Transhumanist. Transhumanisten wollen die Evolution in die eigenen Hände nehmen: Mittels Pharmakologie und Implantaten, Gen-Engineering und Hirnstimulationen soll der Mensch besser werden als von der Natur aus geworden. Die letalen Krankheiten sollen eliminiert werden. Wenn der Tod trotzdem nicht ganz abzuschaffen sein würde, so soll zumindest in der digitalen Welt das eigene Bewusstsein weiterleben. Man mag sie als Spinner abtun – was sie in ihren Extrempositionen wohl auch sind. Tatsache ist, dass es bereits für knapp die Hälfte des menschlichen Organismus künstliche Ersatzteile gibt. Selbst künstliches Blut gibt es, wie die TV-Dokumentation «The Incredible Bionic Man» des Smithsonian Channel dokumentiert, in der all diese Ersatzteile zu einem künstlichen Wesen zusammengesetzt wurden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis einige dieser Ersatzteile besser sein werden als das biologische Original. Für die Gesellschaft der Zukunft wird dies eine Herausforderung darstellen: Soll ich auf das bessere, künstliche Organ umstellen? Oder doch nicht? Erst, wenn das Original abbaut, oder bereits vorher? Für manche mag das noch absurd klingen. Ich wage aber zu postulieren, dass Kurzweil und Co. Frühsignale eines neuen Gesundheitsparadigmas darstellen.
Wie wir leistungsfähiger werden
Was die Gesellschaft unter Gesundheit versteht, unterliegt einem Wandel. Lange Zeit genügte es, nicht krank zu sein, um als gesund zu gelten. Das damalige wegleitende Paradigma dürfen wir mit «Reparaturmedizin» bezeichnen, weil unter seinen Vorzeichen beim Vorliegen einer Krankheit alles unternommen wird, um diese zu heilen. War die Krankheit aber einmal geheilt, verschwand das Thema Gesundheit im Hintergrundrauschen und genoss wenig Aufmerksamkeit. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieses Paradigma überholt. Es genügt nun nicht mehr, frei von Krankheiten zu sein. Immer stärker wurde zum Leitgedanken, wie die eigene Gesundheit aktiv gefördert werden kann. Wer sich nicht mit Sport, gesunder Ernährung und regelmässigen Vorsorgeuntersuchungen um die eigene Gesundheitsförderung bemüht, ist heute unter Rechtfertigungsdruck. Dasselbe gilt für Unternehmen: Es reicht nicht mehr, wenn sie sich um den Gesundheitsschutz der Belegschaft kümmern, etwa mit Schutzgittern um gefährliche Maschinen herum oder durch spezielle Schutzkleidung für die Mitarbeitenden. Auch von Unternehmen wird heute erwartet, dass sie aktiver Partner in der Gesundheitsförderung ihrer Mitarbeiter sind. Neben der Pharmaindustrie bedienen viele weitere Branchen die Erwartungen des neuen Paradigmas, das ich als Gesundheitskultur bezeichnen möchte. Auch die Lebensmittelbranche und selbstredend die Fitness- und Wellness-Branche leisten ihren Teil dazu.
Soweit die Gegenwart. Das Paradigma der nächsten 15 Jahre ist am besten mit «Human Performance Enhancement» beschrieben. Viele Frühsignale weisen darauf hin, dass sich künftig Gesundheit um die Frage drehen wird, wie wir leistungsfähiger werden – physisch, psychisch und mental. Ein Frühsignal ist zum Beispiel die immer beliebtere Selbstvermessung durch mobile Apps. Ein mit etlichen Sensoren bestücktes Armband oder Daten-T-Shirt, ein «smartes» Pflaster oder gar subkutan angelegte Mikrochips mit Sensoren zählen Schritte, messen Stress, zeigen den Blutdruck oder Blutzuckerwerte an. Die Daten gelangen via Smartphone zur Auswertung durch zugrunde liegende Algorithmen. Der User erhält in Echtzeit den aktuellen Gesundheitszustand angezeigt. Zu den ersten Anwendern dieser Selbstvermessung gehören neben den Techno-Freaks Sportler und Hochrisikopatienten. All diese Apps werden aber bald auch «gewöhnliche» Gesunde nutzen, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Ein weiteres Frühsignal erkenne ich in der wachsenden Bereitschaft gerade jüngerer Menschen, mit Energydrinks, Drogen und Medikamenten ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Während physisches Doping im Sport gesellschaftlich verpönt wird, ist die Akzeptanz des sexuellen und psychischen Dopings bereits weit fortgeschritten. Immer mehr kommt nun das mentale Doping in Mode: Eine Studie der Universitäten Zürich und Basel weist aus, dass bereits jeder siebte Studierende einmal Neuro-Enhancer eingenommen hat, um Prüfungen besser bestehen zu können. Ohne hier abschliessend alle Hinweise auf das kommende Paradigma aufzählen zu können, füge ich noch ein weiteres Frühsignal an: Die Verdoppelung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung in der Schweiz zwischen 2002 und 2014. Meist unterziehen sich Paare mit unerfülltem Kinderwunsch dieser Prozedur. Mehr und mehr wird die medizinisch unterstützte Fortpflanzung aber auch nachgefragt, um die biologische Uhr auszuschalten. Kinder ja – aber so, dass sie in die Karriereplanung passen.