Klosterplan, Gesamtansicht. Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 1092. Pergament – 112 x 77,5 cm – Reichenau – anno 819 oder 826/830. Die hervorgehobenen Ausschnitte zeigen die vier Gärten: 1. Kräutergarten. 2. Gemüsegarten. 3. Obstgarten auf dem Friedhof der Mönche. 4. Kreuzganggarten.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im April 2014 publiziert.
Nicht unweit von der Stelle, wo sich vor über 1000 Jahren Mönche auf der Bodenseeinsel Reichenau eine ideale Klosterstadt ausgedacht und sie zu Papier gebracht hatten, wird von Anfang April bis Mitte November mit Meissel, Hammer, Drechsel und Axt sowie anderem ursprünglichem Handwerkszeug an einem der abenteuerlichsten Bauprojekte Europas gearbeitet.
Geht es nach den Vorstellungen von Bert Geurten, der das Projekt «Campus Galli» ins Leben gerufen hat, wird in der Nähe des süddeutschen Städtchens Messkirch ein Gebäudekomplex entstehen, der sich genau nach dem karolingischen Klosterplan von St. Gallen richtet und diesen idealen Konvent erstmals vollständig nachbaut.
Gearbeitet wird wie im Frühmittelalter mit einfachsten technischen Gerätschaften und die Arbeiter – alles Freiwillige – tragen wie damals Kleider aus Flachs und Leder. Als «experimentelle Archäologie» bezeichnet der 63-jährige deutsche Journalist das Bauvorhaben, das rund 40 Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Durch die Eintritte von Besuchern soll sich das Unternehmen grösstenteils selbst finanzieren.
Auch wenn der Komplex, wie so viele ambitionierte Kirchen- und Klosterprojekte in der Vergangenheit, nie vollständig erbaut werden sollte, zeigt Geurtens Eifer für dieses mittelalterliche Meisterwerk, dass der Klosterplan auch ein Jahrtausend nach seiner Konzipierung die Menschen zu fesseln vermag.
Denn schon als Abt Haito von Reichenau den Plan vermutlich im Jahr 819 dem St. Galler Abt Gozbert als Geschenk überreichte, diente dieser, so zumindest formulierte es der Abt der Klosterinsel, als «Anregung» und Inspirationsquelle für einen Klosterbau.
Schätze der Klosterbibliothek
Der Plan befindet sich auch heute noch in St. Gallen, allerdings nicht mehr in der Fürstabtei, sondern in der Stiftsbibliothek.
Dort bildet das Dokument das Herzstück einer Sammlung, die mit ihren über 2000 Handschriften und mehr als 1500 Inkunabeln – Büchern, die vor 1500 gedruckt wurden – sowie rund 170 000 weiteren Bänden zu den grössten und wertvollsten der Schweiz gehört. Unter den Schätzen befindet sich mit dem Codex Abrogans aus dem 8. Jahrhundert, einem lateinisch-althochdeutschen Glossar, auch die älteste Handschrift in deutscher Sprache.
Die ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommene Bibliothek besticht nicht nur durch ihr reiches «pflanzliches Gedächtnis», wie Umberto Eco liebevoll Bücher, auch pergamentene, umschreibt, wohlwissend, dass sich sowohl das griechische «byblos» als auch das lateinische «liber» etymologisch vom Wort «Baumrinde» herleiten. Auch der Barocksaal, der aus dem 1805 aufgehobenen Benediktinerstift hervorging, gehört mit zu den eindrücklichsten architektonischen Bauten der Schweiz und war jüngst die eindrückliche Kulisse der von Novartis initiierten «Science Night», wo Stiftsbibliothekar Cornel Dora und Novartis Naturstoffforscher Frank Petersen über die Nutzung vergangenen Wissens sprachen.
Neben Werken wie dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied und Parzival beinhaltet die umfangreiche Sammlung auch zahlreiche Kräuterbücher und frühe medizinische Kompendien, die Aufschluss über antikes und mittelalterliches Wissen geben und für Forscher wie Alain Touwaide vom Smithsonian Institute, der sich mit der antiken Botanik und Kräuterkunde beschäftigt und in alten Handschriften und Büchern auf der Suche nach neuen möglichen Wirkstoffen ist, eine wahre Fundgrube darstellen.
Untern den ältesten Dokumenten befindet sich in St. Gallen eine aus dem 10. Jahrhundert überlieferte Handschrift, bei der es sich um eine nicht ganz originalgetreue Überlieferung des Werks «De Medicina» des Arztes Cassius Felix handelt, der im 5. Jahrhundert in Nordafrika lebte. Auch frühe mittelalterliche Werke wie der «Botanicus Sangallensis» – eine Sammelhandschrift, die verschiedene Textquellen zur Kräuterheilkunde umfasst – gehören zu den Schätzen der Bibliothek.
Der Plan aus Reichenau
Doch kaum ein Werk kommt an die Bedeutung des karolingischen Klosterplans heran. Der Entwurf aus Reichenau, der den gut geschulten und belesenen St. Gallern Benediktinermönchen als «Anregung» dienen sollte, ist kein opakes Stückwerk, das mehr Fragen weckt als beantwortet. Im Gegenteil. Der Plan beschreibt minutiös, wie der Konvent ausgestaltet werden soll.
Verblüffend und einmalig ist dabei die Beschreibung des Spitalkomplexes: Die Planmacher schlagen vor, rund um den Kräutergarten in der Nordostecke des Geländes ein Krankenhaus für die Mönche und ein Ärztehaus zu bauen. Auch eine Badstube und ein Aderlasshaus gehören zum Bezirk und bilden mit dem angrenzenden Gemüse- und Obstgarten, der zusätzlich als Friedhof dient, ein kompaktes Areal, das sich thematisch der Gesundheit zuwendet und erstmals Kräuterkunde und Heilkunde in einen baulichen Zusammenhang bringt.
Aufschlussreich sind auch die Kräuterpflanzen, deren Namen in 16 Beeten eingetragen sind. Viele der Pflanzen, darunter Salbei, Minze, Kümmel, Liebstöckel, Fenchel, Rosmarin und Rosen, gehören heute selbstverständlich zur Flora der Schweiz, wurden im 9. Jahrhundert aber allesamt importiert. Den einheimischen Nüsslisalat sowie den Schnittlauch verbannten die Zeichner aus dem Plan, wohl auch weil sie dieser Zutaten schon überdrüssig waren.
Dass der Plan einen so klar gestalteten Spitalbezirk vorsah, lag vor allem an der Tatsache, dass sich die Abtei in Reichenau als Benediktinerkloster, genauso wie in St. Gallen, durch ihre Ordensregel seit jeher stark dazu verpflichtet fühlte, sich um die Kranken zu sorgen. So schrieb der Ordensgründer Benedikt, dass den Kranken so zu dienen sei, «als wären sie wirklich Christus … Die kranken Brüder sollen einen eigenen Raum haben und eigene Pfleger … und man biete den Kranken, so oft es ihnen gut tut, ein Bad an … die ganz schwachen Kranken dürfen ausserdem zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit Fleisch essen.»
Die Liebe zu Büchern und das Interesse für Medizin waren es dann wohl auch, die den Reichenauer Abt und Dichter Walahfrid Strabo gegen Mitte des 9. Jahrhunderts dazu veranlassten, ein Lehrgedicht über den Gartenbau zu verfassen, das in 444 Hexametern die Vorzüge von 23 Gemüse- und Kräutersorten wiedergibt, unter anderem dem Fenchel, den Strabo «vermischt mit dem Weine» gegen Keuchhusten anpreist.
Bindeglied zur modernen Medizin
Der Klosterplan wie auch Strabos Gedicht schufen die Grundlagen für die sogenannte Klostermedizin, die als Bindeglied zwischen der spätantiken und spätmittelalterlichen Arzneikunst, die ihr Wissen aus der arabischen Tradition schöpfte, ein wichtiges Element der westlichen Medizin wurde.
Vor allem das Kloster St. Gallen sammelte eifrig Bücher und eignete sich Wissen an, das den St. Galler Mönchsarzt Notker II. der im 10. Jahrhundert wirkte, zu einem der angesehensten Mediziner seiner Zeit machte. Auch wenn die Heilungsgeschichten, die Ekkehart IV. in seinen «Klostergeschichten» dokumentiert hat, etwas gar reisserisch wirken – er soll Herzog Heinrich I. von Bayern durchschaut haben, wie ihm dieser den Urin einer Frau als den eigenen vorgab –, so sind die Leistungen Notkers im Lichte der damaligen Zeit nicht zu unterschätzen.
Der Anfang der modernen Medizin wäre ohne die Kräuter- und Arzneibücher des Mittelalters nicht denkbar. Bücher, die heute zu den Schätzen der Stiftsbibliothek in St. Gallen gehören, wie beispielsweise der «Gart der Gesundheit» von Johann Wonnecke von Kaub oder das «Buch der Natur» von Konrad von Megenberg, vermögen den Betrachter durch ihre Schönheit zu bezaubern. Zur Zeit ihrer Publikation waren es wichtige, wenn nicht sogar überlebenswichtige Publikationen.
Dass diese noch heute bewundert werden können, liegt vor allem daran, dass dieses «pflanzliche Gedächtnis» aufbewahrt und gepflegt wird, sei es in Bibliotheken wie St. Gallen, wo Forscher weiter nach möglichen Wirkstoffen suchen können, oder in Projekten wie jenem von Bert Geurten in Messkirch, welche die Geschichte wieder lebendig zu machen versuchen. Denn, wie Umberto Eco in seinem Buch «Die Kunst des Bücherliebens» schreibt, ist das «Buch eine Lebensversicherung, eine kleine Vorwegnahme der Unsterblichkeit.»