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Das schlimmste ist die Anspannung

Fitnesstrainer J.P. García musste sein ganzes Leben umkrempeln, als seine Mutter an Alzheimer erkrankte. Heute betreut er sie rund um die Uhr und gehört damit zur wachsenden Zahl von Menschen, die ein krankes Familienmitglied pflegen. Ihre Arbeit ist wichtig, aber für die Pflegenden auch sehr belastend.

 von Stephen Baker

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Der enge Kontakt und die täglichen Aktivitäten...

Publiziert am 19/10/2020

Freitagabend geht der 41-jährige J.P. García tanzen. Aus einem Arbeitervorort von Madrid fährt er mit der U-Bahn ins Stadtzentrum, wo ein befreundeter DJ auflegt. «Beim Tanzen kann ich alles hinter mir lassen», sagt er. Für J.P. García ist diese Auszeit kostbar. Fast rund um die Uhr kümmert er sich um seine 81-jährige Mutter Antonina Hernández, die an Alzheimer leidet. Ihren geistigen Abbau bemerkte der Fitnesstrainer erstmals vor vier Jahren, als sie ihm am Telefon jeden Tag die gleichen Gerichte aufzählte, die sie gegessen hatte. Bei einem Blick in ihren Kühlschrank stellte er fest, dass er so gut wie leer war. Sie verlor immer mehr ihr Zeitgefühl und vergass, zu essen. Kurz darauf diagnostizierte ein Neurologe Alzheimer, eine Krankheit, von der schätzungsweise 44 Millionen Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. Anfangs kam sie noch allein zurecht, wenn J.P. García, der nebenan wohnt, regelmässig bei ihr vorbeischaute.

Aber vor zwei Jahren bemerkte er, dass sie bei einfachsten Aufgaben Hilfe brauchte. Er zog zu ihr in ihre Dreizimmerwohnung, gab die meisten seiner Fitnesskunden auf und übernahm ihre Vollzeitpflege.

Damit gehört J.P. García zum stetig grösser werdenden Kreis von privaten Pflegerinnen und Pflegern, die sich um ein Familienmitglied kümmern. Allein in den USA gibt es rund 15 Millionen Menschen, die einen Familienangehörigen pflegen, der an Alzheimer oder einer anderen Demenzkrankheit leidet. Wie viele andere privat Pflegende sucht J.P. García im Internet unablässig nach Informationen. Am wichtigsten sei es, für seine Mutter alltägliche Gewohnheiten zu schaffen, um sie stärker in den Alltag einzubinden.

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Lange Spaziergänge in der Natur...

«Wenn ich koche, lasse ich sie das Gemüse schälen, und wenn ich Geschirr spüle, trocknet sie ab», berichtet er. «Das dauert viel länger, als wenn ich allein kochen würde.» Aber die Beschäftigung lenkt sie von den zunehmenden Erinnerungslücken ab, die Frustration, Wut und Verzweiflung auslösen können. Er erstellt täglich einfache Arbeitsblätter und lässt sie Wörter einkreisen oder eine Linie durch ein Labyrinth ziehen. Er führt ihr auch Gymnastikübungen vor, die sie mit kleinen, pinkfarbenen Gewichten in den Händen nachmacht. Antonina Hernández ist sich ihrer eigenen Situation nur vage bewusst. Sie kann sich nur schwer an einfache Wörter erinnern und schämt sich, wenn ihr bewusst wird, wie viel sie vergisst. Oft hat sie Halluzinationen und meint, auf dem Bauernhof in der Kleinstadt Villatoro nordwestlich von Madrid zu sein, wo sie aufgewachsen ist. Dann sorgt sie sich, ob sie die Hühner gefüttert hat, und selbst an heissen Sommertagen packt sie sich warm ein wie in den kalten Gebirgsnächten ihrer Kindheit. Wie so viele andere Pflegepersonen fühlt sich J.P. García alleingelassen und ausgeliefert. «Das Schlimmste ist die Anspannung», betont er. Er befürchtet ständig, seine Mutter könnte aus der Wohnung entwischen und sich verlaufen oder einen Unfall erleiden, wenn er gerade nicht aufpasst. «Man ist 24 Stunden in Alarmbereitschaft», berichtet er weiter.

Alzheimer wird die Gesellschaft in Zukunft noch stärker belasten, wenn die bei Novartis und anderen Unternehmen laufenden Forschungsaktivitäten keinen Durchbruch in der Behandlung bringen. Da die Weltbevölkerung immer älter wird, dürfte die Zahl der Alzheimer­erkrankungen rasant zunehmen. Bis 2030 werden voraussichtlich 65 Millionen Menschen davon betroffen sein. Dafür werden deutlich mehr Pflegepersonen benötigt, die mit zunehmendem Stress und ihren eigenen medizinischen Problemen zurechtkommen müssen. Nach Angaben der Alzheimer’s Association berichten rund 40 Prozent der Pflegepersonen, unter Depressionen zu leiden. Dazu kommen finanzielle Sorgen, da viele ihre Arbeit aufgeben, um sich um ihre Angehörigen kümmern zu können.

Das ist auch eine der Herausforderungen, mit denen J.P. García zu kämpfen hat. Er bringt gerade genug Geld zusammen, um seine Mutter für ein paar Stunden pro Woche in ein von der Stadt betriebenes Therapiezentrum zu bringen. So gewinnt er etwas Zeit, um Fitnesskurse zu geben. Ausserdem verdient er sich mit dem Verkauf von Comicbüchern auf eBay etwas dazu. Seine Vollzeitbeschäftigung ist jetzt aber die Pflege seiner Mutter. Antonina Hernández steht mit einem Geschirrtuch und abwesendem Gesichtsausdruck am Spülbecken. Sie wartet darauf, dass er ihr Tomaten zum Waschen oder Geschirr zum Abtrocknen gibt.

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