Live. Magazine

2018 stiessen Andrew Bushell und Elizabeth Pavlakos, beide Führungskräfte der Abteilung Drug Development, auf einen experimentellen Wirkstoff, der die Arzneimittelentwicklung in der Abteilung für immer verändern sollte. Sie arbeiteten im neu formierten Team Early Portfolio und suchten nach vielversprechenden Projekten zur Entwicklung von Medikamenten. Dabei stiessen sie auf XXB750, einen Wirkstoffkandidaten gegen Bluthochdruck, der ein erhebliches Potenzial aufwies, den Blutdruck zu senken und unterversorgten Patienten weitere Vorteile zu bieten.

Der Wirkstoff befand sich allerdings noch in einem sehr frühen Stadium. Bislang war nur eine Studie mit gesunden Probanden durchgeführt, aber noch nicht abgeschlossen worden. Das Potenzial, das Bushell und Pavlakos in diesem Wirkstoff sahen, überzeugte das Management in Forschung und Entwicklung trotzdem so sehr, dass sie sofort eine Prozessbeschleunigung in Angriff nahmen, die es bei Novartis so bisher noch nicht gegeben hatte.

«Es war absolut klar, dass XXB750 genau das Potenzial besass, nach dem wir gesucht hatten», so Bushell. «Wir beschlossen, etwas ganz Neues zu wagen, nämlich ohne Vorliegen einer erfolgreichen Proof-of-Concept-Studie ein Produkt von der Forschung in die Entwicklung zu überführen und ein Phase-II-Programm einzurichten.»

Darauf folgte eine Reihe ambitionierter Schritte, die darauf abzielten, die Entwicklungszeitpläne nicht bloss um Monate, sondern um Jahre zu verkürzen. Dies führte auch zu einem strategischen Umdenken, das es dem Team um Bushell und Pavlakos ermöglichte, das riesige Talentreservoir von Novartis zu erschliessen und die Weichen für die Zukunft zu stellen.

Andy Bushell

Andy Bushell:
Gemeinsam sind wir stärker.

Chancen und Herausforderungen

Das Beschleunigen der Arzneimittelentwicklung ist ein schwieriges Unterfangen. Unternehmen wie Novartis erproben seit Jahren neue Wege zur Straffung der Arzneimittelentwicklung. Von digitalen Bemühungen wie dem Einsatz von künstlicher Intelligenz bis hin zur Zusammenarbeit mit externen Partnern nutzt Novartis wie die meisten Unternehmen der Branche alle erdenklichen Technologien, um die Entwicklung neuer Wirkstoffe zu beschleunigen.

Bis aus einem Prüfpräparat ein marktfähiges Medikament wird, dauert es im Schnitt bis zu zehn Jahre. Bei Kosten, die 1,5 Milliarden US-Dollar oft übersteigen, ist auch die Finanzierung der Medikamentenentwicklung im Laufe der Zeit teurer geworden. Bushell und Pavlakos waren sich dessen von Anfang an bewusst. Ihr Ziel war es daher nicht, ihre Arbeit zu intensivieren, sondern die Eigenschaften des Wirkstoffs zu nutzen, um sich einige übliche, aber nicht unbedingt notwendige Entwicklungsschritte zu ersparen.

Sie hatten den Plan, direkt zu Phase-II-Studien überzugehen, obwohl weder klinische Patienten- noch Mehrfachdosen-Daten vorlagen. Dass dieses Vorgehen den üblichen Prinzipien der Zulassungsbehörden widerspricht, war ihnen klar. Doch sie sahen ihre Chancen.

Bevor die Zulassungsbehörden den Start einer klinischen Studie genehmigen, prüfen sie verschiedene präklinische Studiendaten sowie Daten aus Proof-of-Concept-Studien. Dies beinhaltet auch, dass ein Wirkstoff im zeitlichen Verlauf mit unterschiedlichen Dosierungen auf Aspekte wie Sicherheit getestet wird. Kurz gesagt: Die Zulassungsbehörden benötigen Daten von Patienten, die zeigen, dass es keine überraschenden Nebenwirkungen geben wird.

«Angesichts der Tatsache, dass sich das Projekt noch in der Frühphase befand, konnten wir über die Auswirkungen im zeitlichen Verlauf, die Akkumulation oder andere Aspekte, die Ethikkommissionen und Zulassungs­behörden einfordern, noch keine Aussagen machen», so Bushell. Er und sein Team liessen nicht locker, da sie überzeugt waren, genügend Daten für den Start der Phase-II-Studie liefern zu können. «Die Daten, die wir aus den ersten Tests mit gesunden Probanden hatten, waren sehr aussagekräftig», so Bushell. «Normalerweise beobachtet man bei gesunden Freiwilligen keinen solchen Blutdruckabfall, weil sie eine wirklich gesunde Arterienstruktur haben.»

Ein weiterer positiver Faktor ist, dass der Wirkstoffkandidat ein Antikörper ist. Im Gegensatz zu klassischen chemischen Verbindungen führt er in der Regel zu keinen Nebenwirkungen. Diese können bei chemischen Verbindungen oft für Überraschungen im Sicherheitsprofil sorgen. «Es war ein Vorteil, dass es sich um ein Biologikum handelt, denn das Sicherheitsproblem, nach dem man sucht, ist eine übermässige Blutdrucksenkung. Wenn man es jedoch mit einer zu Bluthochdruck neigenden Patientengruppe zu tun hat, ist das eigentlich kein Problem, sondern ein Ziel», so Pavlakos.

Ein dritter Pluspunkt war, dass die Forschungsteams von Novartis tief in die Biologie eintauchten und über zahlreiche präklinische Daten verfügten, die das Team nutzen und den Zulassungsbehörden präsentieren konnte.

Die Strategie ging auf. Obwohl es dem Team an herkömmlichen Datensätzen fehlte, billigten die meisten Zulassungsbehörden und Ethikkommissionen die Argumente, sodass das Projekt fortgeführt werden konnte. «Insgesamt sind wir davon überzeugt, dass wir mit diesem Schritt die Entwicklungszeit um einige Jahre verkürzen konnten», so Bushell.

Studien und Auslöser

Als die behördliche Zulassung für den Start der Phase-II-Studien erteilt war, hatten Bu­shell, Pavlakos und ihre Kollegen keine Zeit, sich auszuruhen. «Unser Ziel ist es, rund 300 Patienten in unsere Studie aufzunehmen», so Pavlakos. «Jetzt starten wir in den ersten Zentren. Doch das bedeutet nicht, dass es einfacher geworden ist, nur weil wir die Zulassungen erhalten und die ersten Studien gestartet haben.» Einer der Gründe dafür ist, dass XXB750 ein Wirkstoffkandidat gegen resistente Hypertonie ist – eine Erkrankung, zu der es bei Novartis bisher nur wenige eigene klinische Studien gab, obwohl das Unternehmen umfangreiche Studien zur klassischen Hypertonie durchgeführt hat. «Die Zentren, auf die wir bisher setzten, konnten nicht genügend Probanden anwerben», so Pavlakos. «Deshalb beschlossen wir, mit dem Erschliessen von Nephrologiezentren neue Wege zu gehen.»

Der Grund für diesen Schritt ist, dass bei Nierenspezialisten häufiger Patienten mit resistenter Hypertonie vorsprechen, da sie einer der Hauptauslöser für Niereninsuffizienz ist. Das Team prüft derzeit neue Zentren, die das Unternehmen dabei unterstützen könnten, Patienten zu rekrutieren und in die klinische Studie einzubeziehen.

Die grenzenlose Strategie ist entscheidend

Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren auf dem bisherigen Weg ist die Art und Weise, wie Bu­shell und Pavlakos ihr Team organisieren. Nach Übernahme der Verantwortung für die Entwicklung von XXB750 begannen sie sofort, ein Team zusammenzustellen, das nicht durch Organisationsgrenzen eingeschränkt war. So entstand, was sie heute als «Denken ohne Grenzen» bezeichnen.

«Weil wir viele verschiedene Jobprofile in unsere Entscheidungsfindung und Planung einbinden mussten, wollten wir Mitarbeitende aus der gesamten Forschungs- und Entwicklungsorganisation sowie aus dem kaufmännischen Bereich einbeziehen, auch wenn dieser zu der Zeit noch gar keine Ressourcen bereitstellen musste», so Bushell.

Während das siebenköpfige Kernteam an strategischen Fragestellungen arbeitet, nimmt sich die erweiterte Expertengruppe der täglichen Herausforderungen an. «Novartis verfügt über ein herausragendes Fundament an Wissen und Kompetenzen», so Bushell. «Wir setzen also gewissermassen auf ein grenzenloses Team, das im Prinzip aus rund 100000 Personen besteht.»

Wenn Mitarbeitende im Team benötigt werden, gehen Bushell und Pavlakos auf geeignete Kandidaten zu und sprechen mit ihnen. «Wir bringen die richtigen Leute zusammen, die die richtigen Fragen zur richtigen Zeit beantworten können», so Pavlakos. «Wir überfordern die Leute also nicht. Die Grösse unseres Teams ist denn auch dynamisch», so Pavlakos. Wobei das Konzept ohne Grenzen nicht ohne Rechenschaftspflicht und Ermächtigung funktioniert: «Das eine geht nicht ohne das andere», erläutert Bushell. «Es geht um angemessene Entscheidungsprozesse, angemessene Ermächtigungen, Rechenschaftspflicht, das richtige Verständnis für das Denken ohne Grenzen und Menschen mit Unternehmergeist. All diese Faktoren müssen miteinander verschmelzen.»

Weiter gefasste Ziele

Die Strategie hat bereits zu Erfolgen innerhalb der Abteilung Technical Research & Development (TRD) von Novartis geführt, die für die Formulierung von Medikamenten im klinischen Stadium und die Vorbereitung der Massenproduktion zuständig ist.

Tim-Robert Soellick

Tim-Robert Soellick:
Funktionale Grenzen überwinden.

Im Rahmen ihrer Zusammenarbeit konnten Bushell und TRD-Projektleiter Tim-Robert Soellick und weitere Kollegen von TRD schon früh eine innovative Lösung für die kontinuierliche Produktion entwickeln, mit der sich das Medikament in einem Arbeitsgang herstellen lässt, anstatt aufgeteilt auf verschiedene Produktionsschritte und an verschiedenen Orten.

«Wenn man grosse Stückzahlen produzieren will, profitiert man dank des kontinuierlichen Produktionsprozesses von mehr Flexibilität für das betreffende Zugangs- und das Geschäftsmodell», so Bushell. «Dies beinhaltet auch, dass wir frühzeitig darüber nachdenken, wie wir die Pläne zusammenstellen, nicht nur um 10 Millionen Menschen mit diesem Medikament zu erreichen, sondern damit Hunderte Millionen Menschen und ihre Familien davon profitieren können.»

Die TRD-Organisation wird auch künftige Medikamentenentwicklungsprojekte unterstützen, beispielsweise die Entwicklung einer langwirksamen Version von XXB750 sowie eines oral zu verabreichenden Ersatzwirkstoffs und eines Reversal Agent.

Dank der veränderten Denkweise lassen sich möglicherweise noch weiter reichende Ergebnisse erzielen: «Wir haben uns dieses Denken ohne Grenzen zu eigen gemacht, weil wir mehr als nur einen Plan für XXB750 vorlegen möchten», so Bushell. «Wir arbeiten an einem Plan, mit dem Novartis den gesamten Bereich dominieren kann. Das ist Mehrwert in einer ganz neuen Dimension.»