Wissenschaft
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Die Klinik kommt zum Patienten

Bis vor Kurzem waren medizinische Diagnosegeräte nur ein Nischensegment bei Novartis. Nun könnten sich aber digitale Diagnosetools durch neue Möglichkeiten in der Softwareentwicklung zu einem wachstumsstarken Geschäftsfeld erweitern. Sie bringen sozusagen die Klinik zum Patienten nach Hause, um das Krankheitsmanagement zu verbessern und klinische Studien effizienter zu machen.

Text von Goran Mijuk, Illustration von Philip Buerli, Foto von Laurids Jensen

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Mithun Ratnakumar, Ingenieur; Norbert Lauber, Team Head PDD2; Sonja Lederhilger, Ingenieur; Dominik Ziegler, Global Head of Packaging and Medical Device Development.

Publiziert am 01/06/2020

Medizinprodukte wie Kernspintomografen oder Röntgengeräte sind in der Regel grosse Apparate von mehreren Hundert Kilogramm Gewicht. Dank der rasanten digitalen Entwicklung entsteht aber jetzt eine neue Klasse leichter, schicker Tools auf Softwarebasis, die per iPhone oder iPad oder auf anderen mobilen Geräten betrieben werden können. Sie bieten diverse Vorteile wie ein besseres Krankheitsmanagement und eine schnellere Durchführung klinischer Studien.

Zu den Vorreitern dieses Trends zählt bei Novartis die Gruppe Packaging and Medical Device Development unter Leitung von Dominik Ziegler. Sein Team entwickelt derzeit mehrere mobile Apps für verschiedene Bereiche wie etwa Lungen- und Augenkrankheiten und arbeitet dazu eng mit Teams aus dem Marketing und anderen Disziplinen zusammen.

Relativ weit fortgeschritten ist ein Projekt für Presbyopie, zu Deutsch Alterssichtigkeit, bei der die Betroffenen nahe Objekte nicht mehr fokussieren können. Eine klinische Studie für einen experimentellen Wirkstoff wird von einer App unterstützt, mit der die Patienten ihre Sehschärfe selbst beurteilen können und Entscheidungshilfe bekommen, wann sie für einen weiteren Behandlungszyklus zum Arzt gehen sollten. 

Die App kann dabei vieles vereinfachen: Alterssichtige Patienten lesen beim sogenannten Landolt-Sehtest eine Tafel, die in mehreren Reihen in absteigender Grösse offene Ringe in Form des Buchstabens C zeigt, deren Öffnungen in verschiedene Richtungen weisen. Während früher die Patienten für diesen Test in die Klinik gehen mussten, können sie ihn jetzt mithilfe der App zu Hause durchführen und die Ergebnisse an ihren Arzt übermitteln. 

Die App ist allerdings mehr als nur eine digitale Umsetzung des klassischen analogen Tests. Im Gegensatz zur klassischen Methode in der Klinik beziehungsweise Arztpraxis müssen die Patienten bei der App nicht mehr alle Buchstabenreihen bis zur untersten Zeile komplett durchgehen. Stattdessen zeigt die Software dem Patienten eine optimierte Anzahl von Symbolen an, was die Diagnose deutlich effizienter macht.

Eine neue Klasse medizinischer Produkte

Die App namens UMA gehört zu einer neuen Klasse innovativer Medizinprodukte, die durch die rasante Entwicklung digitaler Technologien hervorgebracht wurden. «Die neue Kategorie ‹Software als Medizinprodukt› (Software as medical device) ist ein aufstrebender Bereich», erklärt Dominik Ziegler, der schon seit fast zehn Jahren auf diesem Gebiet arbeitet und seine Gruppe seit 2017 leitet. «Ich habe hautnah verfolgt, wie die bisherigen Computer- und Softwarelösungen von diesen neuen softwarebasierten Medizinprodukten abgelöst werden, die Patienten auf ihrem Smartphone oder Tablet selbst anwenden können.»  

Das Gebiet ist noch jung. Doch regulatorische Eckpunkte wurden schon festgelegt, wie zum Beispiel, dass Softwarehersteller den medizinischen Nutzen ihrer Apps sehr detailliert beschreiben und validieren müssen.

Lifestyle-Apps mit Rezeptvorschlägen zum Abnehmen werden zum Beispiel nicht als Medizinprodukt anerkannt, weil sie keine medizinischen Empfehlungen geben. Wenn eine App aber übergewichtigen Patienten hilft, ihren Body-Mass-Index zu senken und entsprechende Messdaten zu dokumentieren, gilt sie als «Software als Medizinprodukt», weil die App einen medizinischen Zweck hat, medizinische Empfehlungen gibt und auf jedem kompatiblen Gerät zu installieren ist. Diese drei Kriterien wurden von den Regulierungsbehörden als konstituierende Merkmale für eine «Software als Medizinprodukt» definiert.  

Neue Kompetenzen

Obwohl bei Zieglers Gruppe die Digitalisierung im Zentrum steht, verbringt das Team viel mehr Zeit mit der Planung und Entwicklung von Systemen als mit der Programmierung. Ihre grösste Anforderung besteht darin, eine Brücke zwischen der medizinischen und der digitalen Welt zu schlagen. «Wir konzentrieren uns auf die Rolle als Integrator», erklärt Ziegler. «Wir lassen die Software extern programmieren und legen unseren eigenen Fokus darauf, dass das Produkt die Bedürfnisse von Patienten, Ärzten, Marketing und klinischer Forschung erfüllt und allen Regulierungsvorschriften entspricht.» 

Im ersten Prozessschritt beschäftigen sich Ziegler und sein Team mit den potenziellen Nutzern der App und erstellen eine grobe Produktbeschreibung. Anschliessend entwickeln sie die Softwarefunktionen – sogenannte User-Stories – entlang denen die Patienten in der App navigieren. Um dieses neue Vorgehen umzusetzen, hat die Gruppe ihre Kompetenzen aufgestockt und die interne und externe Zusammenarbeit verstärkt.

«Unser Schwerpunkt lag früher auf der Verpackungs- und Geräteentwicklung, aber jetzt haben wir es mit völlig neuen Herausforderungen zu tun. Deshalb brauchten wir zusätzliche Fähigkeiten von erfahrenen Medizinprodukte-Experten, die ein fundiertes Software-Know-how mitbringen», erklärt Teamchef Norbert Lauber.

Einer von ihnen ist Mithun Ratnakumar. Er entwickelt Engineering-Prozesse, um die medizinische und die digitale Welt miteinander zu vereinen. Er war unter anderem an der Entwicklung einer App beteiligt, die anhand von Gesundheitsfragen eine Differenz­ial­diagnose zwischen Asthma und COPD gibt, die in manchen Fällen schwer voneinander zu unterscheiden sind. 

«Die Kollegen aus dem Lungenbereich haben uns Input gegeben, und unsere Aufgabe war es dann, ihr Differenzierungsmodell in eine solide Software zu übersetzen. Dieser Prozess hat viel Ähnlichkeit mit dem Vorgehen zur Formulierung eines Medikaments – wobei aus der Forschung ein neues Molekül kommt, das in ein Medikament umgesetzt werden muss, welches man produzieren und mit dem man Patienten behandeln kann», erklärt Ratnakumar.

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Den Anwender fest im Blick

Dass dieser Entwicklungsansatz bislang erfolgreich ist, liegt unter anderem daran, dass sich Zieglers Team konsequent auf die An­wenderbedürfnisse konzentriert. «Die Nutzererfahrung ist ein Schlüsselfaktor für die erfolgreiche Produktentwicklung», erklärt Sonja Lederhilger, die bei jedem Softwareprojekt dafür zuständig ist, den «Faktor Mensch» zu berücksichtigen.    

Vor Entwicklungsbeginn erstellt das Team zunächst Machbarkeitsstudien, um die Marktbedürfnisse zu verstehen und Hypothesen mit Anwendern zu testen, bevor man viel Zeit und Geld in die Softwareentwicklung steckt. Diese frühzeitige und regelmässige Nutzerforschung rückt den Anwender ins Zentrum der Arbeit und gewährleistet optimale Produkteigenschaften.

«Durch Nutzerforschung verstehen wir die Gewohnheiten und Bedürfnisse der Anwender und lernen etwas über ihr Umfeld und ihre Erfahrung», erklärt Lederhilger. «Wenn wir Smartphones oder Tablets einsetzen, müssen wir zum Beispiel dafür sorgen, dass auch ältere Menschen mit der Handhabung zurechtkommen. Aus früheren Projekten wissen wir, dass schon «einfache» Schritte wie das Herunterladen einer App für ältere Patienten schwierig ist und sie mehr Hilfestellung dabei benötigen.»

Zukunftsvision

Die UMA-App leistet in der Presbyopie­studie gute Dienste. Die Patienten führen in der Studie ihre Sehtests teils in der Klinik und teils selbstständig zu Hause durch. Anschliessend werden die Testergebnisse von Heimanwendung und klassischem Verfahren miteinander korreliert.

Die nächste Version der App soll zudem eine Funktion enthalten, mit der Klinikteams die Nahsicht von Patienten im Studienverlauf überwachen können. «Wenn alles gut geht, können die Patienten mit der nächsten kommerziellen Version ihre Symptome selbst beobachten und entscheiden, wann sie zur nächsten Behandlung zum Augenarzt gehen müssen», erklärt Lauber.

Auch wenn noch offen ist, ob die App diese nächste Stufe erreicht, ist sich das Team sicher, dass Apps wie UMA die Diagnose und Überwachung von Patienten in Zukunft verändern werden. 

Nach ihrer Überzeugung vereinfachen und beschleunigen solche Apps langwierige klinische Studien, die für viele Patienten eine Belastung darstellen, wenn sie mit langen Anfahrtswegen zur Diagnose und Behandlung verbunden sind. Ausserdem können mit den Apps zusätzliche Daten erhoben werden, die heute noch nicht verfügbar sind. Dies könnte aus Sicht von Zieglers Team die Diagnose, Behandlung und Prognose bei gängigen wie auch bei seltenen Krankheiten verbessern. Bessere Ergeb­nisse wären zum Beispiel dadurch möglich, dass Patienten eine Warnung erhalten, wenn sich bestimmte Werte verändern und einen Klinikbesuch ratsam machen. Zudem können sie häufigere Messungen durchführen und zusätzliche Parameter wie etwa ihre Mobilität erheben.

«Die neue Kategorie ‹Software als Medizinprodukt› kann grossen Einfluss darauf haben, wie Krankheiten in Zukunft diagnostiziert und überwacht werden und wie wir klinische Studien strukturieren und organisieren. Diese digitalen Werkzeuge bringen die Studien zum Patienten nach Hause», meint Ziegler. «Wir stehen zwar erst am Anfang, aber das Gebiet hat enormes Potenzial. Wir glauben, dass wir zusammen mit unseren Partnern die klinische Praxis neu definieren können.»

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