Das Kryo-Elektronenmikroskop wirkt wie eine futuristische Telefonzelle. Seine Fähigkeit, präzise Bilder von Proteinen zu erzeugen, ist verblüffend.
Publiziert am 19/12/2022
«Wenn man eine Proteinstruktur entdeckt, ist das so, als würde jemand das Licht einschalten», sagt Christian Wiesmann, der auf dem Novartis Campus in Basel eines der weltweit modernsten Mikroskopielabore leitet. «Wenn man Glück hat, kann man plötzlich verstehen, wie ein ganzes biologisches System funktioniert», erläutert er.
Viel von seinem Enthusiasmus ist dem Kryo-Elektronenmikroskop (Kryo-EM) zu verdanken. Dieses Bildgebungsinstrument, dessen Erfinder mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, erscheint Laien wie eine altmodische Telefonzelle mit einem Gewirr von Kabeln. Das Hightech-Mikroskop liefert jedoch hochauflösende Bilder von Proteinen und unterstützt die Wissenschaft dabei, diese biologischen Bausteine des Lebens, deren Kenntnis für die Medizin von grosser Bedeutung ist, besser zu verstehen. Mithilfe der chemischen Biologie können Forscher dann massgeschneiderte chemische «Werkzeuge» entwickeln, die in die Taschen und Furchen von Proteinoberflächen passen und biologische Erkenntnisse sowie Ansatzpunkte für neue Medikamente liefern.
Zusammen mit seinem Team, zu dem eine Handvoll Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR) zählen, konzentriert sich Wiesmann darauf, die Form von hochkomplexen und hochmolekularen Proteinen zu erfassen – ein Unterfangen, das mit herkömmlichen bildgebenden Verfahren noch vor wenigen Jahren gar nicht möglich war.
«Dank des Kryo-EM haben wir jetzt Zugang zu so vielen wichtigen Proteinen, die wir mit anderen Methoden nicht untersuchen konnten. Seit der Inbetriebnahme unserer Anlage 2016 hat das Kryo-EM bereits einen grossen Beitrag zu unserer Arzneimittelforschung geleistet», so Wiesmann.
Ein langer Weg
Proteine, die für die meisten biologischen Prozesse unentbehrlich sind und im Falle einer Fehlfunktion sogar Krankheiten auslösen können, geben der Wissenschaft seit langem Rätsel auf. In der frühen Geschichte der modernen Medizin waren Proteine meist noch gar nicht auf dem Radar der Arzneimittelforschung, die routinemässig die Wirkung medizinischer Präparate an Zellen, Tieren und Patienten testete, ohne jedoch über ein molekulares Verständnis von diesen Strukturen und deren Funktionsweise im Körper zu verfügen. Erst mit der Entwicklung der Röntgentechnik, die an der Wende zum 20. Jahrhundert entdeckt wurde, erkannte die Wissenschaft allmählich die Bedeutung der Proteine und begann, mehr über deren Verhalten zu lernen. Diese Technik ermöglicht es, in Sekundenbruchteilen in Strukturen vorzudringen, die ebenso geheimnisvoll wie schön und unabdingbar für das Leben auf unserem Planeten sind.
Es bedurfte mehr als 50 Jahre harter Arbeit und einer Reihe von Technologien, die mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, bevor die moderne Wissenschaft in der Lage war, zu erkennen, wie Proteine tatsächlich aussehen und welche Funktion sie haben. Einer der ersten Durchbrüche war die Röntgenkristallographie, für die die Forscher Max Perutz und John Kendrew 1962 den Nobelpreis erhielten. Diese Technologie ermöglichte es, Proteine in kristalliner Form zu untersuchen, um ein Verständnis für deren Form zu bekommen und deren Funktion zu studieren.
Die Röntgentechnik benötigte jedoch noch Jahre der Feinabstimmung, bis die Forscher damit beginnen konnten, einige der fast 30000 Proteine zu katalogisieren, die es allein im menschlichen Körper gibt. Die Technik ist jedoch nach wie vor mit Herausforderungen behaftet. «Zu Beginn meines Berufslebens habe ich die Kristallographie kennengelernt, und als ich 1996 promovierte, konnte die Entdeckung einer einzigen Kristallstruktur Jahre dauern und reichte dafür aus, den Doktortitel zu erhalten», erinnert sich Wiesmann. «Die grösste Herausforderung besteht darin, genügend Protein zu erhalten und das Protein dazu zu bringen, Kristalle zu bilden. Dabei kennt die Forschung zahlreiche Beispiele von Proteinen, die sie seit Jahrzehnten erfolglos zu kristallisieren versucht.»