Das Gehirn neu denken
Fruchtfliegen
Erinnerungen einen Kontext geben
Der Genotyp der mutierten Fliegen lässt sich mit externen Markern visuell identifizieren, was eine einfache und effiziente Anwendung des reichhaltigen genetischen Werkzeugkastens von Drosophila ermöglicht.
Wissenschaft
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Die Schaltkreise des Gehirns ergründen

Das Friedrich Miescher Institute für Biomedizinische Forschung (FMI), das 1970 von den Novartis-Vorgängerunternehmen Ciba und Geigy gegründet wurde, um die Grundlagenforschung zu fördern und die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Industrie zu vertiefen, hat sich zu einem führenden Forschungszentrum entwickelt, das 2020 sein 50-jähriges Bestehen feierte. Einer der wichtigsten Forschungsbereiche sind die Neurobiologie, mithilfe derer die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des FMI die neuronalen Schaltkreise erforschen, die unser Verhalten, unser Lernen und unser Gedächtnis steuern.

Text von K.E.D. Coan, Fotos von Björn Myhre

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Fliegen können darauf trainiert werden, in einem Trainingsgerät, dem T-Labyrinth, einen Geruch mit der Auslösung eines Elektroschocks zu assoziieren. Sie vermögen die daraus resultierenden Geruchserinnerungen mehrere Tage lang zu speichern und abzurufen.

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Publiziert am 29/03/2022

Was ist das Gedächtnis?

Auf diese grundlegende Frage gibt es noch keine klare Antwort. Das Forschungsteam des Friedrich Miescher Institute in Basel hat jedoch entscheidend dazu beigetragen, unser Wissen über die Funktionsweise des Gehirns – und insbesondere des Gedächtnisses – zu erweitern. Sein grösster Beitrag, der dem Team weltweite Anerkennung einbrachte, war der bahnbrechende Ansatz, das Gehirn in Bezug auf neuronale Schaltkreise zu untersuchen.

«Eine der grössten Herausforderungen in den Neurowissenschaften – und für die neurologische und psychiatrische Therapie – besteht darin, dass wir immer noch über kein vollständiges mechanistisches Verständnis der neuronalen Schaltkreise des menschlichen Gehirns verfügen», sagt Andreas Lüthi, Senior Group Leader und Spezialist für die Schaltkreise, die für das Lernen und das Gedächtnis verantwortlich sind. «In den vergangenen 20 Jahren hat die Neurowissenschaft enorme Fortschritte dabei gemacht, zu verstehen, wie neuronale Schaltkreise Erinnerungen, die Bewegung und das Verhalten steuern. Im Zentrum dieser Entwicklung stand das FMI.»

Die Milliarden von Neuronen, die das Gehirn ausmachen, haben unterschiedliche Aufgaben; sie interagieren in Zehner-, Tausender- oder noch grösseren Gruppen. Diese Interaktionen bilden die Schaltkreise des Gehirns, die alle unsere Sinne, Handlungen und Erinnerungen verwalten. Die Neurobiologiegruppe des FMI gehörte zu den Ersten, die ihren Schwerpunkt auf diesen anspruchsvollen Forschungsbereich setzten. Sie hat die vergangenen 20 Jahre damit verbracht, die verborgene «Sprache» des Gehirns zu entschlüsseln.

Die Forschung in diesem Feld ist zwar noch weit von klinischen Anwendungen entfernt, aber ihre Ergebnisse bilden die Grundlage für künftige Therapien neurodegenerativer Krankheiten wie Alzheimer und amyotropher Lateralsklerose (ALS) sowie psychiatrischer Störungen, darunter Angstzustände, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.

Grundlegende Erkenntnisse

Die Grundlagenforschung auf dem Gebiet schwer zu behandelnder Erkrankungen ist genau die Aufgabe des FMI. «Als das Institut 1970 gegründet wurde, bestand sein ursprüngliches Ziel darin, Ciba und Geigy neue Wege zu eröffnen, um Innovationen voranzubringen, also ausgehend von dem in der Grundlagenforschung gewonnenen Wissen marktfähige Produkte zu entwickeln», erläutert Jörg Reinhardt, Präsident des Verwaltungsrats. «Das FMI hat bewiesen, dass es in der Lage ist, die traditionelle Kluft zwischen Industrie und Wissenschaft zu überbrücken.» Das FMI habe allerdings noch viel mehr geleistet: «Das Institut hat erfolgreich neue Formen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit aufgebaut und eine einzigartige Ausbildungsplattform geschaffen, die vielversprechenden Wissenschaftlern die Möglichkeit gibt, ihre Kompetenzen in der Grundlagenforschung zu vertiefen und gleichzeitig mehr über die pharmazeutische Industrie zu lernen – was beide Seiten stärkt.»

Von zentraler Bedeutung für das FMI ist die Zusammenarbeit mit den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR): Seit 1998 wurden über 400 Kooperationsprojekte zwischen Wissenschaftlern des FMI und jenen von Novartis umgesetzt. Zudem ist das FMI auch in der akademischen Landschaft gut etabliert: Das FMI ist ein der Universität Basel angegliedertes Institut, an der die meisten der heutigen Group Leader Professuren innehaben und lehren, aber auch intensiv mit Fakultäten in aller Welt in den Bereichen Neurobiologie, Epigenetik und quantitative Biologie zusammenarbeiten.

Durch die Zusammenarbeit mit paneuropäischen Wissenschaftsinitiativen wie EU-Life und LifeTime hat das FMI ein starkes Wissensnetzwerk geschaffen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des FMI veröffentlichen ihre Ergebnisse regelmässig in den renommiertesten Fachzeitschriften und sind äusserst erfolgreich bei der Einwerbung hart umkämpfter Drittmittel, wie etwa der prestigeträchtigen ERC-Stipendien. All dies trägt dazu bei, einige der talentiertesten Nachwuchswissenschaftler der Welt anwerben zu können.

Die Tatsache, dass das Institut über 80 Postdocs und 80 Doktoranden aus über 40 Ländern beherbergt, zeugt eindrucksvoll von seiner internationalen Attraktivität als Exzellenzzentrum für Spitzenforscher, unter anderem in der Gehirn- und Gedächtnisforschung.

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Indem wir die Intensität der Elektroschocks steuern, können wir untersuchen, wie die Fliegen gelernte Informationen neu bewerten. Erleben die Fliegen, dass eine erwartete Bestrafung ausbleibt, wird dies als Belohnung kodiert, ähnlich wie bei Mäusen und Menschen.

Das Ge­hirn neu den­ken

Es war für das Institut jedoch keine leichte Aufgabe, zur Spitzeneinrichtung auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung zu werden. Das Gebiet entstand zwar schon in den 1960er-Jahren, machte aber selbst während des Booms der Molekular- und Zellbiologie in den 1980er- und 1990er-Jahren nur langsam Fortschritte. Damals war die Neurobiologiegruppe des FMI noch relativ klein. Doch ihre Leistungen waren beeindruckend.

Einer der ersten Durchbrüche des FMI in den Neurowissenschaften ist Andrew Matus zu verdanken, der von 1978 bis 2007 Group Leader war. Matus hat schon früh neue Technologien eingesetzt, um die verschiedenen Teile von Neuronen sichtbar zu machen – zum Beispiel die langen, leitfähigen Axone und die sich verzweigenden Dendriten, die Informationen zwischen Neuronen übertragen. In den späten 1990er-Jahren machte er Videoaufnahmen, um zu zeigen, dass kleine Ausläufer dieser Dendriten, die sogenannten Stacheln, sogar «tanzen».

«Seine Entdeckung erregte grosses Aufsehen unter den Neurowissenschaftlern, auch weil sie nachwies, dass sich diese Stacheln bewegen und das Zytoskelett der Neuronen beeinflussen», führt Senior Group Leader Pico Caroni aus, der 1989 zum FMI wechselte. «Damals war die Möglichkeit, dass sich Neuronen strukturell verändern könnten, nur eine Idee auf dem Papier. Dies war jedoch einer der frühesten Beweise dafür, dass strukturelle Veränderungen möglich sind.»

Die faszinierende Erkenntnis, dass Neuronen ihre Strukturen und Verbindungen verändern können, wurde zu einem von Caronis fachlichen Schwerpunkten. Er und die Leitung des FMI erkannten allerdings bald, dass die molekularbiologischen Ansätze der 1990er-Jahre nicht ausreichten, um die zugrundeliegende Funktionsweise des Gehirns wirklich zu verstehen. «Damals dachte man in der Fachwelt, die Molekularbiologie könne die Neurowissenschaften im Wesentlichen erklären. Doch wir erkannten, dass dies nicht ausreichte, um tiefgreifende Erkenntnisse zu gewinnen», so Caroni. «Als Matus und einige andere in den Ruhestand gingen, bauten wir unsere neurowissenschaftliche Gruppe neu auf, und zwar wesentlich grösser als zuvor und mit einem völlig anderen Schwerpunkt, von dem wir annahmen, er werde die Zukunft des Fachgebiets darstellen: Schaltkreise.»

Talente anwerben

Seitdem hat das FMI Dutzende bahnbrechender Entdeckungen veröffentlicht, die zeigen, welche Rolle die Neuronen spielen und wie Erinnerungen im Gehirn gespeichert werden. Die Arbeit von Caroni hat zum Beispiel dazu beigetragen, aufzuzeigen, dass strukturelle Veränderungen in Neuronen für das Lernen und das Gedächtnis entscheidend sind. Seine Gruppe entdeckte neuronale Netze, die ihre Verbindungen in Abhängigkeit davon ändern, ob sie zum Lernen ein- oder ausgeschaltet werden.

Einer der ersten Forscher, der sich der wachsenden Hirnforschungsgruppe des FMI anschloss, war Andreas Lüthi, Experte für die neuronalen Schaltkreise der Emotionen, insbesondere der Angst. «Das Erlernen von Angst ist ein sehr gutes Modell für das Lernen und das Gedächtnis, denn das Überleben eines Tieres hängt von der Angst und der Erinnerung an potenzielle Gefahren ab», erläutert Lüthi. «Doch das sind auch dieselben Systeme, die es ermöglichen, positive Dinge zu lernen, zum Beispiel, wie man Nahrung bekommt und Partner findet.»

Lüthis Gruppe konzentriert sich auf die Amygdala, einen Teil des Gehirns, der als zentraler Knotenpunkt beim emotionalen Lernen fungiert. Seine Gruppe hat bahnbrechende Erkenntnisse über die neuronalen Schaltkreise in der Amygdala veröffentlicht und dabei vor allem die Netzwerke genau identifiziert, mit denen die Angst erlernt und kontrolliert wird.

Die Spezialisierung des FMI auf Schaltkreise hat dazu beigetragen, dass das Institut einige der besten Talente der Welt rekrutieren konnte, darunter Spezialisten auf dem Gebiet der Schaltkreise für Bewegung und intelligentes Verhalten. Johannes Felsenberg, der 2019 hinzukam, ist Experte darin, Erinnerungen bis hin zu bestimmten Neuronen zu verfolgen und zu untersuchen, wie sie sich bei jedem Gebrauch verändern. «Wir verfolgen am FMI vielfältige Ansätze, und das ist ein grosser Vorteil, denn jeder hat seine eigenen Stärken und Schwächen», so Felsenberg. «Wir profitieren nicht nur von den verschiedenen Modellsystemen, sondern auch von den Erkenntnissen und Konzepten, die wir durch die Betrachtung unserer Forschungsfragen aus unterschiedlichen Perspektiven gewinnen.»

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Fliegenstämme mit unterschiedlichen genetischen Parametern lassen sich leicht im Labor halten und ermöglichen die Manipulation und Überwachung von Signalwegen und Aktivitäten bestimmter Neuronen.

Frucht­flie­gen

Die Neurobiologiegruppe des FMI bedient sich verschiedener Modellsysteme – wie etwa Fliegen, Zebrafische und Mäuse –, die in Bezug auf die Anzahl der Neuronen unterschiedlich komplex sind. Felsenberg nutzt bei seiner Arbeit das einfachste dieser Systeme, nämlich das Gehirn der Fruchtfliege, das nur 200 000 Neuronen aufweist. Dank dieser relativ geringen Anzahl an Neuronen (im Vergleich zu 90 Milliarden beim Menschen) haben die Forscherinnen und Forscher die Funktionen fast aller dieser Neuronen ermittelt.

«Sie kennen jedes Neuron mit Namen», scherzt Lüthi über seine Kollegen. Felsenbergs Gruppe hat Instrumente entwickelt, mit denen sich das Verhalten eines einzelnen Neurons bzw. eines kleinen Netzwerks genau untersuchen lässt, sodass die Forscher einzelne Erinnerungen lokalisieren und kontrollieren können. Seine Gruppe interessiert sich vor allem für die Erkenntnis, dass sich Erinnerungen bei jedem Zugriff verändern, beispielsweise verstärkt werden oder neue Verbindungen mit anderen Erinnerungen eingehen können.

«Bei der Fruchtfliege wissen wir genau, wo ihr einfaches Gedächtnis gespeichert ist, und wir können den Prozess gezielt aktivieren oder hemmen», so Felsenberg weiter. «Für mich sind die faszinierendsten Fragen, wie wir das Gedächtnis verändern können und ob wir dadurch auch unser Denken und Verhalten zu beeinflussen vermögen.»

Zwar gilt die Fruchtfliege nicht als repräsentativ für grössere Tiere, aber das Team fühlt sich durch die Häufigkeit bestätigt, mit der es ähnliche Prozesse in verschiedenen Organismen beobachtet. «Es ist faszinierend zu sehen, wie oft wir übereinstimmende Gesetzmässigkeiten finden», sagt Lüthi. «Johannes Felsenberg untersucht mehr oder weniger dieselben Fragen wie wir bei Mäusen, und obwohl es Unterschiede bei den Details gibt, entdecken wir viele grundlegende Aspekte, die genau gleich sind.»

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Andreas Lüthi, Senior Group Leader am Friedrich-Miescher-Institut - "In den letzten 20 Jahren hat die Neurowissenschaft enorme Fortschritte gemacht, um zu verstehen, wie neuronale Schaltkreise Erinnerungen, Bewegung und Verhalten programmieren, und das FMI war wirklich im Zentrum dieser Entwicklung."

Er­in­ne­run­gen ei­nen Kon­text ge­ben

Einer der neuesten Ansätze innerhalb des FMI besteht darin, die Methoden um theoretische Modelle und computergestützte neuronale Netze zu erweitern. Friedemann Zenke, Experte im Bereich Computational Neuroscience, der seit 2019 beim FMI tätig ist, arbeitet zusammen mit Felsenberg und Lüthi an der Entwicklung künstlicher neuronaler Netze, die Ähnlichkeit mit denjenigen Netzen aufweisen, die die Basis für künstliche Intelligenz bilden. Damit möchten sie Fragen nachgehen, die sich im Labor nicht testen lassen.

«Das Hin und Her zwischen Neurowissenschaften und Computermethodik inspiriert beide Bereiche gegenseitig», so Felsenberg. «Mithilfe von Computern können wir enorm viele Hypothesen prüfen, Millionen und Abermillionen, die wir in unseren Labors niemals testen könnten.»

Das Team ist besonders daran interessiert, die Rolle des Kontexts für das Gedächtnis und die Schaltkreise des Gehirns zu verstehen. Der Zugang zu Erinnerungen ist in hohem Masse kontextabhängig. Beispielsweise ist es für eine Maus wichtiger zu wissen, wo sich Futter befindet, wenn sie hungrig ist, als wenn sie vor einer Katze flieht. Wie wichtig der Kontext sein kann, zeigt sich auch bei Alzheimerpatienten, wenn ein bestimmter Ort, ein Lied oder eine Routine Momente mit auffallend klaren Erinnerungen auslöst.

Beobachtungen wie diese deuten darauf hin, dass es Erinnerungen gibt, die zwar vergessen scheinen, aber unter den richtigen Bedingungen doch noch abrufbar sind. Mit künstlichen Netzen kann Zenke kontextbezogene Informationen einsetzen, um im Verhalten und in den neuronalen Schaltkreisen nach Mustern zu suchen, deren Identifizierung für die Forscher auf andere Weise zu komplex sein könnte.

Die Untersuchung von Gedächtnisschaltkreisen im menschlichen Gehirn ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, so dass künstliche Netze Erkenntnisse liefern könnten, die sich derzeit nicht experimentell ermitteln lassen. Insbesondere Lüthis Erkenntnisse zur Angst korrelieren mit psychiatrischen Erkrankungen wie Angststörungen und Phobien, und künftige Arbeiten in diesem Bereich dürften zur Verbesserung von Verhaltenstherapien beitragen. Darüber hinaus deuten Gedächtnisstörungen auf psychische Erkrankungen hin, die mit abnormen sozialen Interaktionen einhergehen, etwa Störungen des Autismus-Spektrums. In diesem Zusammenhang arbeiten mehrere FMI-Gruppen, darunter die von Lüthi, Caroni und auch die von Friedrich, in Kooperationsprojekten mit NIBR zusammen, die grundlegende Erkenntnisse zutage gefördert haben.

«Es ist nicht einfach, unsere Arbeit in die Klinik zu übertragen. Doch die Auswirkungen neuronaler Schaltkreise auf Krankheiten sind enorm, und unser langfristiges Ziel ist es, Wege zu finden, diese Schaltkreise so zu verändern, dass psychische Störungen vermieden und stattdessen funktionale Muster gefördert werden», legt Lüthi dar. «Erinnerungen definieren, wer wir sind und wer wir sein werden. Sie bestimmen, wie wir uns verhalten und mit der Gesellschaft interagieren. Wir arbeiten also daran, die grundlegenden Bausteine unseres alltäglichen Verhaltens und unserer Gesellschaft zu verstehen.»

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