Daten und digitale Technologie zusammenführen
Eine unerwartete Wendung
content-image
00

Ein cleverer Partner im Kampf gegen die Malaria

Als Novartis um die Jahrtausendwende eine Malaria-Initiative startete, um die Krankheit in Afrika und Asien einzudämmen, war künstliche Intelligenz höchstens ein Traum. Zwei Jahrzehnte später könnte sich die Technologie im Kampf gegen die Krankheit, an der noch immer jährlich mehr als 400 000 Menschen – zumeist Kinder – sterben, als nützlich erweisen.

Text von Goran Mijuk, Fotos von Janet Delaney

scroll-down
Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon
content-image
Enter fullscreen

«Obwohl wir bereits zwei Wirkstoffe in der klinischen Testphase haben, wollte ich im Rahmen einer Proof-of-Principle-Studie untersuchen, ob das System von Godinez für die Herstellung eines Leitwirkstoffs nützlich sein und ob uns künstliche Intelligenz im Kampf gegen Malaria künftig unterstützen könnte.» - Armand Guiguemde

arrow-rightDaten und digitale Technologie zusammenführen
arrow-rightEine unerwartete Wendung

Publiziert am 17/03/2022

Armand Guiguemde, Wissenschaftler am Novartis Institute for Tropical Diseases (NITD), ist von Haus aus skeptisch, vor allem wenn es um seine Forschungsarbeit im Bereich Malaria geht, die vor der immerwährenden Herausforderung steht, neue Wirkstoffe zur Bekämpfung der Krankheit zu entwickeln.

Ich lernte Guiguemde Ende 2020 kennen. Wir sprachen dabei zunächst über die Ausformulierung eines seiner Zitate, mit dem er etwas Mühe bekundete, als wir auf künstliche Intelligenz (KI) zu sprechen kamen und er mir von einem Projekt erzählte, an dem er zusammen mit dem Datenwissenschaftler William Godinez von den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR) arbeitete.

Godinez ist Programmierer und hat seit seinem Eintritt bei Novartis vor fünf Jahren, als das Unternehmen seine digitalen Aktivitäten vorantrieb, eine Reihe von Forschungsprojekten ins Leben gerufen. Im Sommer 2019 entwickelte er ein KI-Programm, dessen Ziel darin bestand, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Rekordzeit neue, qualitativ hochwertige Ideen für Wirkstoffe zu liefern und so dazu beizutragen, die üblichen Laufzeiten von Arzneimittelforschungsprojekten zu verkürzen und die damit verbundenen Kosten zu senken.

Das Projekt von Godinez war Guiguemde bei einem der regelmässigen Wissenschaftlertreffen in Emeryville, wo beide arbeiten, im Herbst 2019 aufgefallen. «Das Programm von Godinez lernte ich bei einer unserer Postersitzungen kennen», erinnert sich Guiguemde. «Ich wollte mehr darüber erfahren und es testen.»

Der Kampf gegen Resistenzen

Guiguemdes Neugierde war vor allem von der Komplexität der Malariaforschung und der Notwendigkeit getrieben, ständig neue Wirkstoffe entwickeln zu müssen. Da Malaria eine durch Mücken übertragene, aber von einem Parasiten verursachte Krankheit ist, verlieren alle Therapien mit der Zeit ihre Wirkung: Der Erreger entwickelt eine Resistenz gegen die Medikamente.

Dieses Phänomen ist im Lauf der Geschichte immer wieder aufgetreten. Ein Extrakt aus der Rinde des Chinarindenbaums war fast 300 Jahre lang die Standardtherapie gegen Malaria, bevor Anfang des 19. Jahrhunderts Chinin eingesetzt wurde. Später wurde Chinin durch Chloroquin ersetzt. Doch genauso wie die späteren Medikamente, darunter Mefloquin und Atovaquon, verloren alle diese Therapien nach und nach ihre Wirksamkeit.

Ende der 1990er-Jahre befürchtete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Teile Afrikas und Asiens könnten unbewohnbar werden. Die Krankheit forderte jährlich mehr als eine Million Todesopfer, da die Standardtherapien ihre Wirkung verloren hatten.

An dieser Stelle kam Novartis ins Spiel. Das Unternehmen hatte damals das Malariamittel Coartem® entwickelt und arbeitete gemeinsam mit der WHO daran, die Malaria-Initiative ins Leben zu rufen. Das Novartis Institute for Tropical Diseases wurde gegründet, um neue Wirkstoffe zu entwickeln und sich auf zukünftige Resistenzen vorzubereiten.

Diese Investition hat sich im Hinblick auf die Weltgesundheit ausgezahlt. Seit 2001 haben Patienten in den endemischen Ländern mehr als eine Milliarde Coartem-Packungen erhalten. Dies hat zur Eindämmung der Krankheit beigetragen und die Vereinten Nationen bei ihren Anstrengungen unterstützt, eines ihrer Ziele im Rahmen des Millennium-Programms zu erreichen. Ausserdem testet das NITD zusammen mit mehreren Partnern derzeit drei neue Malariamittel in der Klinik – das Ergebnis von 20 Jahren ununterbrochener Forschung.

content-image
Enter fullscreen

«KI kann in der Computertechnik Herausragendes leisten. Wenn es dem Programm jedoch an sauberen, strukturierten Datenpunkten mangelt, sind die Ergebnisse oft enttäuschend.» - William J. Godinez

Da­ten und di­gi­ta­le Tech­no­lo­gie zu­sam­men­füh­ren

«Obwohl wir bereits zwei Wirkstoffe in der klinischen Testphase haben, wollte ich im Rahmen einer Proof-of-Principle-Studie untersuchen, ob das System von Godinez für die Herstellung eines Leitwirkstoffs nützlich sein und ob uns künstliche Intelligenz im Kampf gegen Malaria künftig unterstützen könnte», so Guiguemde. Seine Hoffnungen seien anfangs nicht besonders gross gewesen.

Guiguemdes Mischung aus Neugier und Skepsis war wohlbegründet. Die künstliche Intelligenz (KI) hat in den vergangenen zehn Jahren einen rasanten Aufstieg erfahren und in fast allen Branchen, von den sozialen Medien bis zum Finanzwesen, ihre Spuren hinterlassen. Durchbrüche in der Arzneimittelforschung und -entwicklung gab es bisher jedoch nur wenige.

Das liegt an den Besonderheiten der KI. Damit ein KI-basiertes Programm aussagekräftige Ergebnisse liefern kann, muss es mit riesigen Datenmengen trainiert werden, an die man vor allem im Bereich der Arzneimittelforschung und -entwicklung nur schwer gelangt.

Darüber hinaus müssen die Daten strukturiert werden, damit der Computer sie lesen kann, was oft zeit- und kostenintensiv ist, insbesondere im Gesundheitswesen. «KI kann in der Computertechnik Herausragendes leisten. Wenn es dem Programm jedoch an sauberen, strukturierten Datenpunkten mangelt, sind die Ergebnisse oft enttäuschend», erläutert Godinez. «Die Leistungsfähigkeit der KI kommt erst dann zum Tragen, wenn wir ihr saubere, strukturierte Daten liefern.»

Ein deutscher «Wirkstoffjäger»

Godinez ist sich zwar der Herausforderungen bewusst, die mit der KI einhergehen. Er ist aber davon überzeugt, dass die Technologie dem Gesundheitswesen langfristig nutzen wird.

Während seiner Tätigkeit in verschiedenen NIBR-Abteilungen hat er KI-Funktionen in traditionelle Bereiche der Arzneimittelforschung eingebracht, beispielsweise in die Analyse von Zellbildern und in die Bakteriologie, Bereiche, in denen KI heute zunehmend zu einer zentralen Forschungskomponente avanciert.

Doch er hat kühnere Ziele, vor allem wenn es um die Herstellung von Wirkstoffen geht. Als er von einem Open-Source-Programm hörte, das am Massachusetts Institute of Technology entwickelt wurde und das Design von Wirkstoffkandidaten automatisieren soll, rief Godinez zusammen mit seinem Kollegen Eric Ma ein Projekt ins Leben, um das Programm an die Bedürfnisse von Novartis anzupassen.

Das Ergebnis ihrer Anstrengungen war ein Programm namens JAEGER (eine Abkürzung des etwas sperrigen Begriffs Junction-Tree Variational Auto-Encoder GenERative Modeling) – eine Hommage an die Studienzeit von Godinez an der Universität Heidelberg sowie an alle Aktivitäten der «Wirkstoffjagd» bei Novartis.

«Die Anpassung des Programms gelang uns recht schnell», erläutert Godinez. «Doch was uns wirklich fehlte, waren Daten. So beschlossen wir, unser Projekt bei einer unserer Postersessions vorzustellen. Wir waren überglücklich, dass Armand Guiguemde Interesse an einer Zusammenarbeit mit uns zeigte und bereit war, uns seine Daten bereitzustellen.»

Guiguemde sass auf einer wahren Goldgrube. «Wir verfügen über sehr umfangreiche Daten von mehr als 60 000 Wirkstoffen aus der Malariaforschung, die etwa 20 Jahre zurückreichen, in die Zeit, als das Novartis Institute for Tropical Diseases gegründet wurde», so Guiguemde. «Warum diese Daten also nicht nutzen und sehen, was dabei herauskommt?»

content-image
Enter fullscreen
Eine un­er­war­te­te Wen­dung

Guiguemdes Machereinstellung und seine Bereitschaft, mit seinen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, erwiesen sich als goldrichtig, denn JAEGER kam zu einem Ergebnis, das alle überraschte.

Das Programm zur Wirkstoffsuche generierte innerhalb weniger Stunden erste Wirkstoffkandidaten. Das Ergebnis überzeugte darüber hinaus die Chemiker insofern, als die von der KI entwickelten Verbindungen vielversprechend aussahen und sich möglicherweise tatsächlich würden synthetisieren lassen.

Dieses Ergebnis hatte wirklich niemand erwartet. Fehlen geeignete Daten und Algorithmen, spucken KI-Programme oft unbrauchbare Ergebnisse aus. Entweder sind die vorgeschlagenen Wirkstoffe zu komplex, um sie zu synthetisieren, oder sie sind für die Anwendung beim Menschen zu toxisch. In manchen Fällen ergeben von KI entwickelte Wirkstoffe einfach gar keinen Sinn.

«Ehrlich gesagt, war ich über das Ergebnis erstaunt», räumte Guiguemde ein. «JAEGER war in der Lage, sehr schnell hochwertige Wirkstoffe vorzuschlagen. Normalerweise dauert es Monate, wenn nicht Jahre, bis wir auf eine vielversprechende Verbindung stossen. Die Synthese und die experimentelle Validierung in den Laboren des NITD haben ausserdem gezeigt, dass die Wirkstoffe eine ausgezeichnete Wirksamkeit gegen Malaria aufweisen, was unsere Proof-of-Principle-Studie zu einem vollen Erfolg macht.»

Perspektiven der KI

Godinez und Armand, die ihre Erkenntnisse inzwischen in Nature Machine Intelligence publiziert haben und die auch in der News and Views Rubrik von Nature besprochen wurden, sind mittlerweile davon überzeugt, dass KI in Zukunft noch mehr leisten kann. «Mit unserem JAEGER-Programm konnten wir im Prinzip zeigen, dass KI chemisch realisierbare Strukturen und neuartige chemische Stoffe mit den gewünschten physikochemischen und bioaktiven Eigenschaften generieren kann. Dies wird uns bei unserer zukünftigen Arzneimittelforschung unterstützen,» so die beiden.

Zu diesem Zweck ist Godinez auch an einer Zusammenarbeit von ganz Novartis mit Microsoft beteiligt, um diese Technologien unternehmensweit einsetzen zu können. Die Zusammenarbeit zwischen dem IT- und dem Pharmariesen, die 2019 angekündigt wurde, ist eine mehrjährige Allianz, die mithilfe von Daten und KI die Entdeckung, Entwicklung und Vermarktung von Medikamenten grundlegend verändern wird.

Aber Godinez ist davon überzeugt, dass KI noch mehr leisten kann: «Viele unserer Prozesse in der Arzneimittelforschung und -entwicklung werden heute bereits von KI-Tools unterstützt, mit deren Hilfe wir schneller entscheiden können. Ich kann mir vorstellen, dass die Zusammenführung dieser Systeme uns dabei zu unterstützen vermag, die Wirkstoffe nicht nur schneller zu entwickeln, sondern auch die anschliessenden Entwicklungsschritte in Rekordzeit durchzuführen.»

Dies werde jedoch ein harter Kampf bleiben und die klassische Wissenschaft und die herkömmliche Datenerfassung nicht ersetzen, ergänzt Godinez: «KI wird nur dann optimal funktionieren, wenn wir sie mit sauberen, strukturierten Daten trainieren können und wenn wir die wissenschaftliche Forschung weiterhin so betreiben, wie wir das schon immer gemacht haben. Wir hoffen jedoch, dass uns dies mithilfe von KI viel schneller als in der Vergangenheit gelingen wird.»

icon

Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon