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Menschen
Das Paradies nebenan
Ein Garten für die Gemeinschaft
Vor zehn Jahren hatte Reverend Heber Brown eine Eingebung, die ihn dazu inspirierte, das Black Church Food Security Network in Baltimore zu gründen. Seither ist die Stadt nicht nur grüner geworden. Seine Arbeit im Rahmen des Programms «Engage with Heart» trägt auch dazu bei, Baltimore gesünder zu machen.
Text von Goran Mijuk, Fotos und Videos von Adriano A. Biondo und Kirby Griffin.
Während wir die Liberty Heights Avenue in Baltimore entlangfahren, um Reverend Heber Brown und einige seiner Studierenden vom Black Church Food Security Network für ihr Wochenendseminar zu treffen, sind unsere Augen auf die scheinbar endlosen Reihen von ein- und zweistöckigen Häusern gerichtet, jedes mit Veranda vor dem Hauseingang und einem Fleckchen Grün, das sich in unserer Vorstellung in einen kleinen Garten mit Gurken, Paprika und Tomaten verwandelt.
Das ist zwar noch nicht Realität, könnte es aber bald werden, wenn Reverend Heber Brown sein Ziel erreicht, Baltimore in ein Urban-Farming-Paradies zu verwandeln. Seiner Vision zufolge sollen die Menschen in ihren kleinen Gärten nicht nur eigene Lebensmittel anbauen, sondern idealerweise auch ihre Beziehung zur Landwirtschaft neu definieren – eine Beziehung, die viele Afroamerikanerinnen und -amerikaner verloren haben, was angesichts der dunklen Geschichte der Sklaverei ihres Landes nicht überrascht.

Beim Betreten des Seminarraums, der sich in einem ungeheizten Nebengebäude der First Baptist Church in Baltimore befindet, werden wir nicht von kraftstrotzenden Landwirten begrüsst, sondern von einer Gruppe junger Studierender, viele von ihnen aus den Politikwissenschaften. Die meisten von ihnen sind Anfang zwanzig und sind überzeugt, dass dieses Projekt, das vor rund einem Jahrzehnt mit einer Eingebung seinen Anfang nahm, das Potenzial für wichtige Veränderungen birgt.
Eine grüne Eingebung
Es geschah irgendwann im Jahr 2014. Reverend Brown arbeitete als Pastor in der Pleasant Hope Baptist Church in Baltimore und war zunehmend besorgt über die hohe Zahl von Erkrankungen und chronischen Krankheiten in seiner Gemeinde. Er hoffte, bei den Gemeindemitgliedern eine Umstellung ihrer Ernährung anzustossen und ihnen somit langfristig zu helfen, indem er sie mit frischen Lebensmitteln vom lokalen Bauernmarkt belieferte.
Leider waren nicht nur die Preise zu hoch, auch die Bereitschaft der Händler zur Zusammenarbeit mit seiner Kirche war begrenzt. «Als ich auf diesen Markt ging und die Lebensmittelpreise und die kulturellen Unterschiede sah, wurde mir klar, dass da erhebliche Barrieren bestanden», erinnert sich Reverend Brown.
Auf dem Weg zurück hatte er keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. «Aber als ich in der Kirche angekommen war, hatte ich kurz vor dem Eingang zu unserem Kirchgemeindehaus eine Eingebung», sagt Brown. «Hatten wir nicht ein kleines Stück Land, das von der Kirche nicht genutzt wurde?»
“Warum fangen wir nicht an, das, was wir brauchen, selbst anzubauen?”
Reverend Heber Brown

Anschliessend entwickelte sich die Idee von ganz allein: «In diesem Moment, nachdem ich gerade den Lebensmittelmarkt verlassen hatte und sah, welche Hindernisse dort zu überwinden wären, schaute ich mir das Land an, das bereits unseres ist, und fragte mich: ‹Warum fangen wir nicht an, das, was wir brauchen, selbst anzubauen?›», erinnert sich Brown.
Eine weitere Erkenntnis
Seine Gemeinde nahm die Idee mit Begeisterung auf. Beim ersten Spatenstich hatte Reverend Brown eine weitere Erkenntnis, die entscheidend für die Schaffung des Black Church Food Security Network sein sollte: Viele seiner Gemeindemitglieder waren auf Farmen in den Südstaaten geboren und aufgewachsen und wussten, was zu tun war.
«Meine Scheuklappen als Pfarrer haben mich davon abgehalten, zu sehen, dass die Mitglieder meiner Gemeinde weit mehr Fähigkeiten, Genialität und Kenntnisse beim Umgang mit Ernährungsunsicherheit haben, als ich ihnen je zugetraut hätte», sagt er und erinnert sich an den Moment, als ihm klar wurde, mit welcher Kompetenz sich die Gemeindemitglieder vor Ort einbringen konnten.
Diese Erfahrung, die mich mit Dankbarkeit erfüllte, brachte mich auf eine weitere Idee: «Man geht davon aus, Menschen, die am unmittelbarsten von Armut, Krankheit oder Hunger betroffen sind, könnten nur Hilfeempfänger sein, und macht damit einen weit verbreiteten Fehler. Meine Erfahrung mit dem Anlegen eines Gartens hat diese Annahme vollständig widerlegt. Kranke haben Lösungen, um gesund zu werden. Hungrige wissen, wie man Hunger beenden kann», fasst Reverend Brown seine Erkenntnis zusammen.

Politische Arbeit
Nach diesen Ereignissen rief Reverend Brown 2015 das Black Church Food Security Network ins Leben, das in den Folgejahren gewaltige Fortschritte machte. Es inspirierte andere Gemeinden in Baltimore zum Anlegen ihrer eigenen Gärten, gab den Anstoss für einen monatlichen Markt und dehnte seine Reichweite über den Bundesstaat Maryland hinaus, um auch in anderen Teilen des Landes Fuss zu fassen.
Als Reverend Brown seine Kenntnisse über Gesundheit, Ernährung und Urban Farming vertiefte, erkannte er auch, wie politisch seine Arbeit war. Es ging nicht nur darum, das Land einiger der über 700 Kirchen in Baltimore sinnvoll zu nutzen. Es handelte sich vielmehr um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
«Während ich mich zunehmend engagierte, führten wir auch Systemanalysen zum Problem der Ernährungsunsicherheit durch. Dabei wurde mir klar, dass es bei unserer Arbeit nicht nur darum ging, einzelne Gärten in einzelnen Kirchen anzulegen. Vielmehr ging es darum, einer breiten Bevölkerungsgruppe aufzuzeigen, wie wir das mangelhafte Lebensmittelsystem der Konzerne überwinden und unser eigenes Lebensmittelsystem mitgestalten können», so Brown.
Im Seminarraum, den wir an einem sonnigen, aber eiskalten Samstagmorgen Anfang Februar besuchen, diskutieren die Studierenden nicht nur über Saatgut, Bodenqualität und Wetter. In ihren Diskussionen geht es in erster Linie um politische und historische Fakten, die zu der Situation geführt haben, in der sich viele Afroamerikaner heute befinden.
Geschichte kennen
Die Vergangenheit kennenzulernen, ist wichtig, erklären Reverend Brown und seine Mitstreiter Linneal Smith und Brahein Richardson den Studierenden. Da ist nicht nur die abscheuliche Geschichte der Sklaverei. Es gibt weitaus jüngere Ereignisse – viele von ihnen vergessen oder verdrängt –, die das moderne Amerika bis zum heutigen Tag prägen.
«Hinter der Situation der Apartheid im Bereich Ernährung und Gesundheit, wie wir sie heute erleben, stehen Absichten und Entscheidungen», sagt Reverend Brown. «Dazu gehört auch die Art und Weise, wie die Gemeinden in den Vereinigten Staaten einst in Zonen unterteilt wurden, was bis heute enormen Einfluss auf das Leben von Millionen von Menschen hat.»
Die Zonen, in die Baltimore vor etwa 100 Jahren von der Homeowners Loan Corporation in den Vereinigten Staaten unterteilt wurde und die in farbigen Karten mit erst- und zweitklassigen Immobilien festgehalten wurden, haben die Lebensumstände von Hunderttausenden von Menschen zementiert. Zonen, die als ideale Investitionsstandorte galten, wurden grün markiert, wohingegen die rot markierten Areale wenig bis gar keine Mittel anzogen und beispielsweise für Deponien genutzt wurden. Die roten Zonen sind auch diejenigen, in denen die meisten Afroamerikaner lebten und bis heute leben.
«Bücher wie The Color of Law von Richard Rothstein haben dazu beigetragen, die Geschichte der Unterteilung in Zonen genauer zu beschreiben», sagt Reverend Brown und verweist auf eines der Bücher, die er im Rahmen des Lehrplans bespricht. «Diese Karten der Ausgrenzung diktierten auch, welche Gebiete Eigenverantwortung über lebenswichtige Dinge wie Nahrung und Gesundheit haben sollten.»
Ein Jahrhundert später ist die Wirkung dieser Einzonung immer noch spürbar, da den meisten schwarzen Gemeinden die grundlegende Infrastruktur fehlt. Die Geschichte zu kennen, heisst, aus ihr zu lernen: «Wenn man erkennt, dass Absicht und Planung ein Teil dessen sind, was uns in diese Situation gebracht hat, dann wird Eigenverantwortung zu einem Teil der Gleichung, die zur Lösung führt, weil sie diejenigen stärkt, die von solchen Entscheidungen betroffen sind.»
Der Energiepegel steigt
Für viele der Studierenden, die an dem Seminar am Samstagmorgen teilnehmen, sind einige Details der Geschichte neu, während andere zum Allgemeinwissen in Baltimore gehören. Was sie hierhergebracht hat, ist allerdings nicht das Interesse an politischer Bildung, sondern die Bereitschaft, zu handeln und den Status quo zu verändern.


Linneal Smith (stehend), langjährige Unterstützerin des Black Church Food Security Network, gibt den Studentinnen und Studenten einen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten, die sie im Rahmen ihres Studienplans verfolgen können.
Die 21-jährige Politikwissenschaftstudentin Yasmine Bryant sagt, sie wolle den Menschen eine Stimme geben. «Ich habe in verschiedenen Teilen der Welt und in verschiedenen Gemeinschaften gelebt. Um die Situation zu ändern, ist es wichtig, ein Gefühl für den Ort zu bekommen und die lokalen Bedürfnisse zu verstehen», so Yasmine.
Ihre Kollegin Azaria Moore, die sich auf internationale Studien spezialisiert hat, will nicht nur mehr über die lokale Geschichte Baltimores erfahren, sondern auch mit den Menschen in Kontakt treten. «Auf diese Weise kann ich helfen und etwas bewirken», sagt sie.
Die Energie an diesem Samstagmorgen ist mit Händen zu greifen. Obwohl wir alle eine längere Pause einlegen, um Fotos zu schiessen, Donuts essen und Kaffee trinken, lassen die Studierenden nicht locker und stellen alle möglichen Fragen, um einen tiefergehenden Eindruck vom Ort zu bekommen. Zu meiner Überraschung werden sie nie verbittert oder wütend, wenn sie über die Vergangenheit sprechen. Ihr Blick ist auf die Zukunft gerichtet.
Mit der gleichen Einstellung unterstützen sie auch das Programm «Engage with Heart», ein von Novartis gefördertes Programm zur Verbesserung der Herzgesundheit in der Stadt, bei dem das Black Church Food Security Network eine zentrale Rolle spielt. «An einem solchen Programm teilzunehmen und Menschen dabei zu helfen, ihre Gesundheit durch gesunde Ernährung zu verbessern und ihr Wohlbefinden zu steigern, ist ein starker Motivationsfaktor», so Moore.


Ein erfrischender Anblick
Während die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer gerade erst in ihr Studium eingestiegen sind, gibt es in Baltimore viele Leute, die bereits mit Urban Farming angefangen haben – einige als Beruf, andere als ernsthaftes Hobby. Derzeit gibt es mehr als 30 solcher Stadtfarmen und Gärten in der Stadt, Tendenz steigend, was Jung und Alt gleichermassen anzieht.
Eine der vermutlich ältesten Stadtbauern in ganz Baltimore ist Mutter Neufville, eine 80-jährige Frau, die ursprünglich aus Jamaika stammt. Ihr kleiner Garten befindet sich auf dem Gelände der Liberty Grace Church in Baltimore, wo sie ein bescheidenes Grundstück mit allerlei Obst- und Gemüsesorten bewirtschaftet.
“Hat man kein Auto, ist die einzige Möglichkeit, sich mit Lebensmitteln zu versorgen, oft ein Billigladen oder Junkfood.”
Mutter Neufville

«Es ist ein kleiner Garten», erklärt Mutter Neufville, als wir sie in der Liberty Grace Church besuchen, die auch an «Engage with Heart» teilnimmt. «Aber für mich ist es eine Lebensweise. Jeden Tag komme ich hierher, um die Pflanzen zu versorgen und mit ihnen zu sprechen. Und nach der Ernte geniesse ich die Momente, in denen ich Lebensmittel an diejenigen verschenken kann, die sie brauchen.»
Neben Bergminze, Rosmarin und Salbei baut Mutter Neufville Schnittlauch, Frühlingszwiebeln, Bohnen und Sonnenblumen an, und im Garten gibt es sogar einen kleinen Feigenbaum. «Es ist Winter, und es sieht nicht nach viel aus. Aber im Sommer ist es ein Fest für die Augen und den Bauch.»
Mutter Neufville pflegt ihren Garten selbst, wird aber auch von Dr. Holmes und Schwester Phyllis Green unterstützt, zwei Gemeindemitgliedern, die seit Jahren die Idee von urbanen Farmen propagieren, weil sie darin einen Ausweg aus der aktuellen Lebensmittel- und Gesundheitskrise sehen, mit der Baltimore und viele andere Städte in den USA zu kämpfen haben.


«Natürlich ist Junkfood eine Möglichkeit, sich zu ernähren, wenn man nur wenig Geld hat. Aber es schafft all die Probleme, vor denen wir heute stehen, was auch mit der Art und Weise zusammenhängt, wie unsere Stadtviertel organisiert sind», so Dr. Holmes. «Hat man kein Auto, ist die einzige Möglichkeit, sich mit Lebensmitteln zu versorgen, oft ein Billigladen oder Junkfood.»
Ein Garten in der Nachbarschaft oder in einer Kirche ist ein Ausweg aus der Krise. Nicht, weil er allein die Gemeinde ernähren könnte, sondern weil er den Menschen zeigt, dass es eine Alternative gibt. «Wir hatten schon viele Freiwillige in unserem Garten. Ein kleiner Junge, er kann nicht älter als vier gewesen sein, kannte jedes Gemüse. Seine Mutter kümmert sich um die Gartenarbeit. Er ass alles frisch, direkt aus dem Garten. Das zu sehen, war sehr wohltuend.»

Für Reverend Brown sind Geschichten wie diese ausschlaggebend. «Zeichnen sich die ersten Erfolge ab, möchte man noch mehr tun. Und ja, es gibt noch viel zu tun. Wenn unser Ernährungsprogramm nicht nur dazu beiträgt, die Menschen zu ernähren, sondern sie auch zu einer gesünderen Lebensweise anhält und ihnen bewusst macht, wie man Dinge ändern kann, dann haben wir viel erreicht.»
Mit der richtigen Einstellung könnten die grünen Flecken, die sich in unserer Vorstellung in Gärten verwandelt haben, Realität werden. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie zu einer Art Paradies auf Erden werden.