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Jörg Eder, Wissenschaftler an den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR), erinnert sich noch genau daran, als ihn sein Kollege Mark Keating eines Nachmittags anrief und ihn aus heiterem Himmel fragte, ob das Projekt, an dem er arbeitete, überhaupt noch sinnvoll sei.
Das war 2009. Rund vier Jahre zuvor hatten Eder und sein Team das Projekt gemeinsam mit der Abteilung für Augenheilkunde gestartet, in der Keating tätig war. Das Projekte fusste auf einem wissenschaftlichen Durchbruch, der den zugrunde liegenden genetischen Mechanismus einer Augenerkrankung erhellte.
Die Ergebnisse, die 2005 in drei voneinander unabhängigen Artikeln in Science veröffentlicht wurden und sich auf den sogenannten alternativen Komplementweg des Immunsystems konzentrierten, hatten nicht nur Novartis dazu veranlasst, sich diesem Bereich zu widmen. Ein ganzes Heer grösserer und kleinerer Biotechnologieunternehmen war ebenfalls in das Feld vorgestossen, was einen harten Wettbewerb in der Branche auslöste.
«Bis dahin waren wir auf einem ziemlich erfolgreichen Weg. Dann fragte Mark Keating mich, ob dieses Projekt meiner Meinung nach gelingen werde», erinnert sich Eder – ein erfahrener Arzneimittelforscher, der seine wissenschaftliche Laufbahn bei Sandoz begonnen hatte – an den Moment, in dem er derart von seinem Kollegen konfrontiert wurde.
Er wusste, worauf Keating mit seiner Frage hinauswollte. Novartis arbeitete gleichzeitig an verschiedenen Strategien, um die Krankheit zu bekämpfen. Neben klassischen kleinmolekularen Verbindungen, mit deren Entwicklung das Team von Eder beschäftigt war, verfolgte das Unternehmen auch Projekte im Bereich grossmolekularer Biopharmazeutika. Keating benötigte Ansatzpunkte für Investitionen. «Ich wusste, dass es keine Erfolgsgarantie gibt, wenn es um die Forschung geht», sagt Eder. «Aber ich war fest davon überzeugt, dass unser Ansatz wissenschaftlich fundiert ist. Deshalb stand meine Antwort fest: Ja, wir können es schaffen.»
Keating, ein Genetiker, befolgte Eders Rat. Doch trotz seiner Unterstützung geriet Eders Team wenige Jahre später in eine Sackgasse, als Novartis beschloss, das Programm für niedermolekulare Verbindungen aufzugeben und stattdessen in das Biologikaprojekt zu investieren, um diese Wirkstoffe in klinischen Studien zur Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration zu testen.
«Das war ein harter Schlag für uns alle, die wir uns bei diesem Projekt engagierten», sagt Eder. «Doch es war klar, dass Novartis eine Entscheidung treffen musste, da das Unternehmen nicht alle Wirkstoffe klinisch testen konnte. Es ging um einen strategischen Schritt, den wir akzeptieren mussten.»
Gegen die Wand …
2011 hatte das Team um Eder zwar einen vielversprechenden Wirkstoff gefunden. Da die Tür zum Testen des experimentellen Medikaments verschlossen war, fehlte nun aber eine klinische Strategie. Schlimmer noch: Die von Eder geleitete Proteaseplattform mit über 80 Wissenschaftlern, die zu den wichtigsten Triebkräften des Projekts zählte, wurde aufgelöst. Kurz gesagt war das Projekt dazu verdammt, in Vergessenheit zu geraten.
Doch Eder, der in die Immunologie-Abteilung wechselte, gab so schnell nicht auf. «Ich war wirklich davon überzeugt, dass wir wissenschaftlich alles richtig gemacht hatten und dass die bis dahin entwickelten Wirkstoffe den Bedürfnissen der Patienten gerecht werden könnten», so Eder. «Also machten wir weiter und versuchten, eine neue Indikation zu finden, an der wir arbeiten konnten.»
Bei der Entwicklung einer neuen klinischen Strategie wurde Eder unter anderem von Wissenschaftlern wie Dick Harris, Anna Schubart und Stefanie Flohr unterstützt, die bereit waren, das Projekt von der Augenheilkunde auf einen neuen, noch zu definierenden Krankheitsbereich zu lenken.
Lohnenswerte Ausdauer
Dieser Richtungswechsel erforderte weitere Ausdauer für das Projekt. Schon vom ersten Tag an war grosses Durchhaltevermögen gefragt. Kurz nach der Veröffentlichung in Science hatte das Team bereits eine Reihe von Hochdurchsatz-Screenings durchgeführt, um potenzielle Leitwirkstoffe zu finden, die als Ausgangspunkt für die beiden in den Forschungsarbeiten identifizierten Ziele dienen könnten.
Doch zur Enttäuschung des Teams war kaum etwas mit spürbarer Aktivität zu finden: «Wir haben mehrere Hochdurchsatz-Screenings mit den über eine Million Wirkstoffen aus unserer Bibliothek durchgeführt. Doch alles, was wir fanden, waren ein paar wenige Wirkstoffe, die nur geringe Aktivität zeigten», so Eder.
Bis zu einem gewissen Grad war das keine Überraschung. Die in Science identifizierten Ziele waren, gelinde gesagt, schwierig. Den Proteinen – Faktor D und Faktor B, die Teil des sogenannten alternativen Komplementwegs sind, einer Art erster Abwehrlinie des Immunsystems – fehlt ein klar identifizierbares aktives Zentrum. Dort greifen Wissenschaftler normalerweise an, indem sie taschenartige Einbuchtungen suchen, um eine krankheitsauslösende Verkettung im Körper zu neutralisieren.
«Die Tatsache, dass die beiden Proteine, die wir anvisieren wollten, kein voll ausgebildetes aktives Zentrum hatten, machte unsere Arbeit von Anfang an sehr schwierig», so Eder. «Dass wir in unserer Wirkstoffbibliothek fast nichts gefunden hatten, machte die Fortführung des Projekts fast unmöglich.»
Eders Team gab jedoch nicht auf und kam auf eine geniale Idee. Anstatt auf das einzige Molekül zu bauen, das die stärkste Aktivität zeigte, wählte das Team Elemente aus mehreren Molekülen, die eine gewisse Aktivität zeigten, und nutzte diese dann zum Aufbau des Wirkstoffs: Es verwendete von jedem Molekül mit einer gewissen Bindungskapazität eine Reihe von Atomen.

Jörg Eder
Als Forscher war es immer mein Traum, bei der Entwicklung eines Medikaments zu helfen, das es auf den Markt schaffen würde.
Diese neue Strategie, die sie als «Integrated Lead Discovery» bezeichneten, war zwar sehr komplex und zeitintensiv. Doch laut Eder war dies der einzige sinnvolle Weg für Faktor D und auch ein hilfreicher Ansatz für Faktor B.
Nach jahrelanger harter Arbeit lieferte ihre Strategie schliesslich mehrere vielversprechende Wirkstoffe für beide Ziele. Dieser Erfolg war das Ergebnis einer engen Kooperation von Chemikern, Strukturbiologen und Biologen an verschiedenen NIBR-Standorten.
«Den Ausschlag für diesen Erfolg gab, dass wir auf beiden Seiten des Atlantiks sehr kooperativ waren», so Flohr. «Unsere Zusammenarbeit umfasste nicht nur virtuelle Meetings. Wir konnten uns auch persönlich treffen. Während der Covid-19-Pandemie ging dieser Austausch dann verloren. Doch vorher war er sehr wichtig gewesen. Ich denke, das hat das Projekt vorangebracht.»
Neue Indikation
Mit diesen Substanzen ausgestattet, erhielt Eder Unterstützung von Dick Harrison, einem Experten für Komplementsystembiologie, um neue Indikationen zu identifizieren und eine neue klinische Strategie zu entwickeln. Sie identifizierten eine seltene Blutkrankheit und mehrere seltene Nierenerkrankungen, bei denen ebenfalls eine Fehlregulation des Komplementsystems die Krankheitsaktivität steuert.
«Die Verschiebung der Indikationen war zwar eine grosse Veränderung, doch ich war noch immer überzeugt davon, dass die Wissenschaft der Wirkstoffe für einen solchen Schritt stark genug ist», führt Eder aus. «Ausserdem durften wir einen Teil unserer Zeit weiterhin in das Projekt investieren, obwohl unser Forschungsprojekt damals für das Unternehmen nicht mehr im Vordergrund stand.»
Weitere Kollegen, die in diesem Stadium an dem Projekt mitarbeiteten, waren Anna Schubart, die neue Assays entwickelte, um die Validität der Wirkstoffe im neuen Setting zu testen, sowie Stefanie Flohr, die ursprünglich einige der Wirkstoffe chemisch optimierte.
Anna Schubarts Team entwickelte zellbasierte Tests, um die Wirksamkeit der Verbindungen gegen neue Krankheitsbilder zu prüfen.
Dank eines Hämatologiespezialisten war das Team in der Lage, auf Patientenproben zuzugreifen.
Die Medizinchemikerin Flohr räumt ein, dass sie anfangs im Team von der Komplexität der zugrunde liegenden biologischen Zusammenhänge etwas überwältigt war. Doch dank Anna Schubart kam sie relativ schnell mit dem Komplementsystem zurecht, und beide machten sich daran, die neue klinische Strategie durch interne Arbeit und ein Netzwerk externer wissenschaftlicher Kooperationen weiter zu untermauern.
Zellen von Patienten
Schubarts Hauptaugenmerk lag auf der Entwicklung neuer Assays, mit denen sie die Aktivität des Wirkstoffs bei den neuen Krankheitsindikationen demonstrieren konnte. «Mein Labor hat viel Zeit investiert, einen In-vitro-Test zur Nachahmung der seltenen Blutkrankheit aufzubauen. Wir konnten damit zeigen, dass das Präparat den Auslöser unserer Krankheit sehr stark blockiert», so Schubart.
Ihr fehlte jedoch eine wichtige Zutat: «Trotz unserer robusten Tests konnten wir das Unternehmen nicht wirklich überzeugen», sagt sie. «Assays können gute Ergebnisse zeigen. Doch um zu beweisen, dass die Substanz wirkt, und um das Management vom Sinn des Weitermachens zu überzeugen, braucht man Patientenproben. Das ist der heilige Gral.»


Anna Schubart
Die Entwicklung des perfekten Assays.
Stefanie Flohr
Ein atomarer Blick auf die Medizin.
Gerade bei einer seltenen Indikation ist es selbst für ein internationales Unternehmen wie Novartis aber alles andere als einfach, geeignete Patientenproben zu erhalten. Doch das Team hatte das Glück, in Dr. Antonio Risitano einen Förderer zu finden. Der führende Hämatologe ist auf jene seltenen Blutkrankheiten spezialisiert, auf die sich das Team konzentriert hatte.
Nachdem er die positiven Ergebnisse gesehen hatte, war er nicht nur bereit, Wirkstoffe anhand seiner Patientenproben zu testen, sondern auch dazu, an den klinischen Studien mitzuwirken und diese zu leiten. «Das hat die Sache ins Rollen gebracht», so Schubart. «Mit Antonio Risitano hatten wir einen passionierten Befürworter unserer Sache gefunden.»



Das Verständnis von Verbindungen auf molekularer Ebene ist eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Novartis.
Flohrs Labor trug dazu bei, die molekulare Spur in einen Wirkstoff umzuwandeln, der für die klinische Entwicklung reif war.
Leistungsstarke Wissenschaft und menschliche Unterstützung
Die Beteiligung von Risitano war wichtig. Einen noch entscheidenderen Einfluss hatte die Abteilung Global Drug Development: «Wir hatten zwar überzeugende Daten geliefert, doch das allein hätte nicht gereicht, um das Projekt von der Entdeckung zur Entwicklung zu bringen», so Anna Schubart. «Die Tatsache, dass sich unsere Kollegen von Global Drug Development für unseren Wirkstoff interessierten, verlieh der Sache viel Dynamik, und wir konnten sehr eng mit ihnen zusammenarbeiten.»
Die Abteilung Global Drug Development von Novartis, in der mehr als 21000 Mitarbeitende an klinischen Studien arbeiten, zeigte Interesse an dem Wirkstoff, da das Unternehmen auf der Suche nach neuen Behandlungsmethoden für Patienten mit seltenen Blutkrankheiten und anderen Indikationen war.
Dass die chemische Verbindung das Komplementsystem hemmt, das bei mehreren anderen Erkrankungen eine Rolle spielt, wurde als grosser Vorteil im Hinblick darauf angesehen, die Reichweite des Wirkstoffs auch auf andere Indikationen zu erweitern. Dass der niedermolekulare Wirkstoff oral eingenommen werden konnte, wurde ebenfalls als Vorteil betrachtet.
Die Ergebnisse der darauffolgenden Experimente waren überwältigend positiv und trieben das Projekt für das Entwicklungsteam voran.
Zwar blieben noch Fragen zur Dosierung und zu möglichen Nebenwirkungen des Wirkstoffs. Dennoch machte das Projekt rasch Fortschritte, als Marty Lefkowitz und Thomas Holbro von Global Drug Development in den Prozess einbezogen und zusätzliche Ressourcen eingesetzt wurden.
Das Projekt wurde so zusammen mit NIBR beschleunigt, um den Wirkstoff in frühen Studien zu testen. Es befindet sich jetzt im Spätstadium der klinischen Erprobung bei mehreren neuen Indikationen.
«Als ich begann, das Projekt zu beobachten, flog es sozusagen unter dem Radar», erinnert sich Anna Schubart. «Ohne den Drive der Entwicklungsabteilung wären wir nicht so weit gekommen. Im Grunde bedeutet das, dass es Leute braucht, die an die Wissenschaft glauben und die dich dabei unterstützen, die nächste Stufe zu erreichen», sind sich Schubart und Flohr einig.



Das Team konzentrierte sich auf eine seltene Blutkrankheit, bei der es die grössten Erfolgsaussichten für den Ansatz sah.
Eine wichtige Komponente fehlte allerdings: Um überzeugende Daten zu sammeln, benötigte das Team Zugang zu Patientenproben.
Sophie Sarret im Labor mit Anna Schubart.
Für Jörg Eder war ebenfalls die Kombination aus Forschungskompetenz und menschlicher Unterstützung der entscheidende Faktor: «Wenn ich heute zurückblicke», schliesst Eder, «kann ich nur sagen, dass alles, was Novartis so gross macht, bei diesem Projekt zusammenkam: die Bereitschaft, der wissenschaftlichen Forschung zu folgen, die Bereitschaft, funktionsübergreifend zusammenzuarbeiten, die Bereitschaft, Neues zu testen und Risiken einzugehen – und natürlich die Bereitschaft, notleidenden Patienten mit bestmöglichen wissenschaftlichen Leistungen zu helfen.»