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Zu Fuss gehen ist für Guillaume Canaud eine Selbstverständlichkeit. Jeden Tag geht der 45-jährige Arzt und Wissenschaftler mehrere tausend Schritte zwischen seiner Praxis am Necker-Krankenhaus und seinem Labor in einem nahegelegenen Forschungs- und Bildungszentrum der Universität Paris.
Die tägliche Routine hält ihn nicht nur fit, sondern hilft ihm auch, seine Gedanken zu ordnen, wenn er sich zwischen Forschungslabor und Krankenzimmer bewegt. Der kurze Spaziergang bietet zudem eine willkommene Pause in einem ansonsten hektischen Alltag, der sich für ihn vor rund sieben Jahren noch beschleunigt hat.
Damals behandelte Canaud, der sich ursprünglich auf Nephrologie spezialisiert hatte, einen Patienten, der neben einem Nierenleiden auch an einer seltenen Erkrankung litt, die nur bei etwa einem Dutzend von einer Million Menschen auftritt.
«Diese Begegnung im Jahr 2015 war für mich ein Wendepunkt», erinnerte sich Canaud, als wir in Paris mit ihm sprachen. «Bis dahin war ich Facharzt für Nierenheilkunde und forschte auch in diesem Bereich. Doch diese Begegnung eröffnete mir eine völlig neue medizinische Sphäre.»


Guillaume Canaud in seinem Labor.
Er diskutiert mit Forschern die neuesten Ergebnisse.
Neu gesetzter Schwerpunkt in der Forschung
Nach seinem Medizinstudium im französischen Montpellier und seiner Promotion in Boston richtete Canaud 2014 mit drei Wissenschaftlern ein Nephrologie-Labor in Paris ein. Nachdem er den besagten Patienten kennengelernt hatte, konzentrierte er sich auf dessen seltene Erkrankung, für die es keine wirkungsvolle Behandlung gab.
«Ich habe von der Nierenheilkunde in diesen neuen Bereich gewechselt, weil dieser Patient extrem gebrechlich war», erinnert sich Canaud. «Er litt an einer sehr schweren Erkrankung, und wir hatten damals keine direkte Möglichkeit, diesen Patienten zu behandeln.»
Mit dieser Realität sind die meisten Patienten konfrontiert, die an einer seltenen Krankheit leiden. Experten schätzen, dass es mehr als 7000 seltene Erkrankungen gibt, an denen rund 400 Millionen Patienten weltweit leiden und für die es nur wenige oder überhaupt keine Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Obwohl gesetzliche Änderungen dazu beigetragen haben, seit den 1970er-Jahren den Weg für die Entwicklung von mehr als 400 Therapien für seltene Krankheiten zu ebnen, ist die medizinische Lücke immer noch gross. Das biologische Wissen über viele seltene Krankheiten ist ebenfalls begrenzt.
«Ausgehend von diesem einzelnen Patienten haben wir versucht, den genetischen Auslöser der Krankheit und die zugrunde liegenden biologischen Zusammenhänge besser zu verstehen», erklärt Canaud. «Dabei haben wir von einer Substanz aus der Substanzbibliothek von Novartis erfahren.»
Experten schätzen, dass es mehr als 7000 seltene Erkrankungen gibt, an denen rund 400 Millionen Patienten weltweit leiden und für die es nur wenige oder überhaupt keine Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Obwohl gesetzliche Änderungen dazu beigetragen haben, seit den 1970er-Jahren den Weg für die Entwicklung von mehr als 400 Therapien für seltene Krankheiten zu ebnen, ist die medizinische Lücke immer noch gross.
Compassionate Use
Novartis arbeitete zur gleichen Zeit an einer Behandlung für eine andere Indikation, die auf denselben molekularen Pfad abzielte, der bei dieser Patientenpopulation mit seltenen Krankheiten eine Fehlfunktion aufwies. Da die Substanz zu dieser Zeit in frühen klinischen Studien getestet wurde, war sie noch nicht auf dem Markt erhältlich.
Um an die Substanz zu gelangen und diese zu testen, griff Canaud auf die sogenannte Compassionate-Use-Regelung zurück, die in Frankreich und in vielen weiteren Industrieländern gilt. Damit können Ärzte Unternehmen um Zugang zu Wirkstoffen bitten, die entweder noch nicht auf dem Markt sind oder bei anderen Indikationen zur Behandlung von lebensbedrohlichen Erkrankungen eingesetzt werden.
«Ausgehend von diesem Patienten entwickelten wir einige In-vivo- und In-vitro-Experimente, um zu zeigen, dass dieses Medikament wirksam sein könnte», führt Canaud aus. «Dank der überzeugenden Resultate haben wir es sehr schnell bei dem Patienten angewendet.»
Das Ergebnis war atemberaubend. Der Zustand des Patienten verbesserte sich, und das Medikament trug zur Verringerung von Schmerzen, Müdigkeit und anderen Symptomen bei. «Wir alle waren überaus begeistert von der Wirkung», so Canaud. «Deshalb haben wir uns entschieden, unsere Krankenakten bei Necker nach weiteren Patienten mit derselben seltenen Erkrankung zu durchforsten.»
Zur Überraschung von Canaud und seinem Team fanden sich mehr als ein Dutzend Patienten, die an dieser Erkrankung litten. Die durch eine genetische Mutation ausgelöste Krankheit führt dazu, dass gutartige Tumore wachsen, was bei Patienten starke Schmerzen und Entzündungen hervorrufen kann. Schwere Formen der Erkrankung können zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen.
Im Rahmen des Compassionate-Use-Programms bat Canaud Novartis erneut um Zugang zu dem Medikament. Nachdem er das Präparat erhalten hatte, begann er, damit weitere Patienten zu behandeln, die an derselben schweren und teilweise lebensbedrohlichen Erkrankung litten, die er bei dem Patienten im Necker-Krankenhaus diagnostiziert hatte.
2018 veröffentlichte Canaud die Ergebnisse, die bei der medizinischen Fachwelt auf enormes Interesse stiessen.
Managed-Access-Programme
«Als Fachkreise unsere Forschungsarbeit wahrgenommen hatten, veränderte sich mein Leben völlig», erzählt Canaud. «Ich habe tausende E-Mails von Patienten und Ärzten aus aller Welt erhalten, die mehr über dieses Medikament erfahren beziehungsweise andere Patienten behandeln wollten, die an dieser Krankheit litten.»
Um mehr Patienten mit dieser schweren und bisweilen lebensbedrohlichen Erkrankung behandeln zu können, intensivierte Canaud die Zusammenarbeit mit Novartis.
Im Rahmen der Managed-Access-Programme stellt Novartis ausgewählten Patienten bestimmte Prüfpräparate zur Verfügung. Pro Jahr erhält Novartis rund 10.000 Anfragen, einige ihrer Medikamente und Prüfpräparate an erkrankte Patienten zu liefern.
Das Unternehmen führte kürzlich eine umfangreiche Studie durch, die im Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde. Sie kam zum Schluss, dass die meisten Anfragen aus Industrieländern stammen.
Die von Paul Aliu, dem Leiter der Managed-Access-Programme des Unternehmens, geführte Studie deutet darauf hin, dass Compassionate-Use-Programme dazu beitragen können, «für Patienten mit ungedecktem medizinischem Bedarf den frühzeitigen Zugang zu neuartigen lebensrettenden Produkten zu verbessern». Betont wurde jedoch auch, dass in diesem Bereich weitere Forschungsanstrengungen erforderlich sind.
Im Rahmen der Managed-Access-Programme stellt Novartis ausgewählten Patienten bestimmte Prüfpräparate zur Verfügung.
Pro Jahr erhält Novartis rund 10000 Anfragen, einige ihrer Medikamente und Prüfpräparate an erkrankte Patienten zu liefern.
Evidenz aus der Praxis
Für Novartis ist die Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung von strategischer Bedeutung. Das Unternehmen war daher bereit, Canaud zu unterstützen, sagt Oliver Jung, Global Program Head bei Novartis, der diese Aktivitäten mit seinem Team leitete. Und weiter: «Für uns war es eine transformative Erfahrung. Wir stellten das Präparat im Rahmen unseres globalen Managed-Access-Programms bereit. Wir lernten dabei nicht zuletzt, wie man Praxisdaten zur Unterstützung der behördlichen Zulassung verwendet und so das Präparat Patienten mit einer schweren und lebensbedrohlichen seltenen Erkrankung schneller zur Verfügung stellen kann.»
Nach Einrichtung des Programms, das Ärzten aus aller Welt den Zugang zum Präparat ermöglichte und dank dessen sie von Canauds Erkenntnissen profitieren konnten, begann Novartis damit, im Rahmen ihrer sogenannten Real-World-Evidence-Initiative Patientendaten zu sammeln. Evidenz aus der Praxis bezieht sich auf medizinische Daten, die nicht im Rahmen traditionell entwickelter randomisierter Studien erhoben werden.
Noch bevor Novartis die Datenerhebung einleitete, setzte man sich seitens des Unternehmens mit den Aufsichtsbehörden in Verbindung, um zu erörtern, wie sich das Präparat zu einem regulären Arzneimittel weiterentwickeln liesse. «Durch dieses Verfahren lernten wir, beim Einrichten einer klinischen Studie den Zugang zu Arzneimitteln schneller zu ermöglichen», so Jung.
«Dank dieser Bemühungen konnte Novartis mit den Gesundheitsbehörden zusammenarbeiten, um das Medikament bedeutend früher zu den Patienten zu bringen», so Jung. Ein solches Verfahren könne Novartis und andere Unternehmen dabei unterstützen, die Bedürfnisse der Patienten effizienter zu erfüllen, ergänzte er.

Canauds Arbeit in der Klinik findet in der Regel am Morgen statt, wenn er seine Patienten zur Konsultation trifft.
Lebenswichtige Behandlung
Für viele Patienten haben die Bemühungen von Canaud und Novartis ihre Lebensperspektive verändert.
Die Mutter eines siebenjährigen Jungen, den wir in Paris kennenlernten, erzählte uns, dass ihr Sohn bereits mehrfach operiert worden sei und die meisten medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, als sie von Canauds Bemühungen erfuhr.
«Ich schrieb eine E-Mail», sagte sie, «in der Hoffnung, in Paris eine Sprechstunde zu erhalten. Keine zwei Wochen später hatten wir unseren ersten Termin. Davor hatte ich jahrelang darum gekämpft, einen Arzt zu finden, der meinen Sohn wirklich verstehen und ihm helfen würde.»
Das war vor drei Jahren. Damals konnte ihr Sohn weder gehen noch richtig sprechen, da die Krankheit seine Entwicklung behindert hatte. Dank der Behandlung kann er nun auch längere Strecken gehen und hat sogar zu reden begonnen.
Ein älterer Patient sagte uns, seine Lebensqualität wäre ohne die Behandlung viel schlechter, als sie es heute ist. «Aufgrund der Krankheit, an der ich seit meiner Kindheit leide, hatte ich immer wieder Schwellungen und Entzündungen. Die Behandlung hilft mir nun, mein Leben besser unter Kontrolle zu haben.» Im Alter von 42 Jahren hat er sich entschieden, als selbstständiger Illustrator zu arbeiten, nachdem er die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens angestellt war. «Natürlich hängt mein Schritt in die Selbständigkeit teilweise mit Arbeitsplatzveränderungen nach der Pandemie zusammen. Der andere Grund ist jedoch, dass ich mich heute selbstsicherer fühle als noch vor wenigen Jahren.»
Für viele Patienten haben die Bemühungen von Canaud und Novartis ihre Lebensperspektive verändert.
Die Mutter eines siebenjährigen Jungen, den wir in Paris kennenlernten, erzählte uns, dass ihr Sohn bereits mehrfach operiert worden sei und die meisten medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, als sie von Canauds Bemühungen erfuhr.
Das war vor drei Jahren. Damals konnte ihr Sohn weder gehen noch richtig sprechen, da die Krankheit seine Entwicklung behindert hatte. Dank der Behandlung kann er nun auch längere Strecken gehen und hat sogar zu reden begonnen.
Eine neue Dimension eröffnen
Für das Hôpital Necker-Enfants Malades sind die Erkenntnisse von Canaud der neueste Erfolg aus einer ganzen Reihe von Durchbrüchen, die vor mehr als 200 Jahren mit der Erfindung des Stethoskops durch René Laennec begannen. Ein weiterer Höhepunkt war 1953 die erste Nierentransplantation von Jean Hamburger.
Canaud werden wahrscheinlich ähnliche Ehrungen zuteil, doch sein Schwerpunkt liegt weiterhin auf der Behandlung von Patienten. «Diese Arbeit hat mein Leben verändert», fasst Canaud zusammen. «Als Arzt habe ich mich natürlich schon immer für meine Patienten eingesetzt. Doch jetzt gibt es eine spezifische Verbindung zu ihnen. Das hat meine Sicht auf die Patienten und mein Engagement, ihnen zu helfen, völlig verändert.»
Die Entwicklung des Medikaments hat auch Canauds Sicht auf die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie, den Patientenselbsthilfegruppen und den Aufsichtsbehörden verändert. «Anfangs wollten wir beim ersten Patienten eigentlich bloss die Ursache für die Fehlbildung verstehen», so Canaud. «Aber jetzt, nachdem unsere Forschungsgruppe in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist, konzentrieren wir uns darauf, den Patienten durch die Entwicklung neuer Therapien zu helfen.»
Die Forschungsgruppe von Canaud, der heute rund 20 Fachleute für Wissenschaft und Technik angehören, arbeitet derzeit daran, die zugrunde liegenden Abweichungen bei einigen Patienten zu verstehen. Sie arbeitet mit Partnern aus dem gesamten Spektrum der Gesundheitsfürsorge zusammen, um die bereits entwickelten Therapien zu verbessern.
«Seit ich Arzt und Wissenschaftler bin, wollte ich immer verstehen, wie die Dinge funktionieren», so Canaud. «Als ich an der Entwicklung einer neuen Therapie mitwirken konnte, ging für mich ein Traum in Erfüllung.» Auch für Novartis hat sich die Kooperation als überaus wertvoll erwiesen und neue Dimensionen eröffnet.
«Als führende Akteurin im Bereich des Gesundheitswesens, die sich stark für den Zugang zu Leistungen der Gesundheitsfürsorge einsetzt, waren wir schon immer daran interessiert, den betroffenen Patienten unsere Therapien anzubieten», betont Oliver Jung. «Im Rahmen unserer Kooperation mit Guillaume Canaud und den vielen anderen Ärzten, die später hinzukamen, konnten wir neue Wege ebnen und unter Beweis stellen, dass ein globales Managed-Access-Programm in Verbindung mit Real-World Evidence-Methoden dazu beitragen kann, den betroffenen Patienten neue Therapien schneller bereitzustellen. Diese Strategie möchten wir überall dort fortsetzen, wo dies sinnvoll ist.»