Sichtbare Abwesenheit
Hölle oder Paradies
Der Hund
Geschlossene Ladentüren in Basel.
Menschen
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Gespenstische Zeiten

Roland Schmid, ein Schweizer Fotograf, der regelmässig für das live-Magazin arbeitet, hat die bizarren Folgen des Lockdowns für Basel, einen der wichtigsten Pharma-Standorte weltweit, dokumentiert. Er hat das Bilddokument eines Ereignisses geschaffen, das die Menschen über Jahre, ja sogar Jahrzehnte, beschäftigen dürfte.

Text von Patrick Tschan, Fotos von Roland Schmid

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Theater Basel: keine Dialoge, keine Aufführungen, keine Schauspieler, keine Zuschauer und kein Pausensekt.

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Publiziert am 05/06/2020

Eine Stadt unter Lockdown ist eine gespenstische Stadt. Sie erinnert an Filme mit verwaisten Grossstadtszenerien. Plätze und Strassen sind nahezu menschenleer. Eiserne Rollläden verbergen die Auslage, und Ladenbesitzer informieren Passanten mit Zetteln an den verschlossenen Türen über den Grund der vorübergehenden Schliessung: CORONA.

An den Schulen wird nicht unterrichtet. Der Lärm der Pausenhöfe, das Oh-my-God-Gekreische der Backfische ist verstummt und das Imponiergeschwätz der Halbstarken ist auch nicht zu vernehmen. Man hört niemanden ins Smartphone brüllen. Die plötzliche, ungewohnte Leere öffentlicher Plätze macht uns leise und wirft uns auf uns selbst zurück. Wir üben uns in ungewohnter Zurückhaltung und beachten, wie verordnet, den vorgeschriebenen Mindestabstand.

 

Das ist sie jetzt: die neue Welt

Der Satz Das ist sie jetzt: die neue Welt auf dem Leuchtband stammt von einer Produktion des Theaters Basel. Es ist, als würde der Satz die Stadt mit einem Schleier belegen; er zieht wie ein böser Geist durch die Alleen, Strassen und Gassen und löst die gewohnte Freiheit in Luft auf. Die Dämmerung macht die Stadt noch verletzlicher, noch einsamer. Sie mutet wie eine von heute auf morgen verlassene Goldgräberstadt an. Auch wenn keine Zeichen der Zerstörung zu sehen sind, fühlt man, dass die Seele der Stadt angegriffen wurde.

Die Menschen in Basel müssen zu Hause bleiben. Bisweilen finden sich Zeugnisse dieser verletzten Seele, zum Beispiel in Form weggeworfener Schutzmasken. Einsame Schatten huschen an Mauern entlang. Wer Glück hat, sieht einige Menschen, die das warme und sonnige Wetter geniessen. Ist der Preis, den sie dafür zu bezahlen haben, ein schlechtes Gewissen?

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In seiner Sage Argonautika erzählt der antike griechische Dichter Apollonios von Rhodos, dass die Amazonen, Töchter von Ares und Harmonia, brutal und erbarmungslos auftraten und im Krieg ihren einzigen Lebensinhalt sahen.

Sicht­ba­re Ab­we­sen­heit

Nachts sind nur selten Menschen auf den Strassen anzutreffen. Doch tagsüber sieht man die Zeichen der Ausgrenzung, die mehr und mehr die Stadt erobern: Absperrbänder, Plakate mit Sicherheits- und Hygieneregeln, leere Tische mit Bezahlterminals oder Abstandsmarkierungen vor der Suppenküche. Der Skulptur Amazone mit Pferd des Schweizer Bildhauers Carl Burckhardt an der Mittleren Rheinbrücke hat jemand eine Schutzmaske, auf die ein rotes Herz gezeichnet wurde, um den Hals gehängt. Bleibt die Frage, ob die antike Kämpferin gegen Corona in den Krieg zieht oder die Maske all jenen gewidmet ist, die nun auf den Intensivstationen gegen das Virus kämpfen. Handelt es sich um ein scheues Zeichen der Hoffnung? Oder um einen schlechten Scherz?

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Nicht zu nahe am Rand liegen.

Höl­le oder Pa­ra­dies

Basel ist eine Stadt, die auf offene Landesgrenzen angewiesen ist. Tag für Tag passieren mehr als 35 000 Menschen aus Deutschland und Frankreich auf dem Weg zu ihrem Basler Arbeitsplatz die zahlreichen Grenzübergänge. Viele von ihnen sind auch bei Novartis beschäftigt. Wenn die Grenzen geschlossen werden, muss etwas Ernstes passiert sein. Ältere Menschen aus der Region, die von den Zeiten des Zweiten Weltkriegs erzählen, schildern, wie Hölle und Paradies nur durch einen Stacheldrahtverhau getrennt waren. Wo sich die Hölle befand und wo das Paradies lockte, hing davon ab, auf welcher Seite der Grenze man während des Kriegs lebte.

Durch COVID-19 sind die Grenzen auch für die meisten von uns geschlossen. Nur wer einer unverzichtbaren Tätigkeit nachgeht, darf sie noch überqueren. Beispielsweise die zahlreichen Pharma-Mitarbeitenden in Laboren und Produktionsstätten der Region Basel. Liebe hingegen ist keine unverzichtbare Tätigkeit. Lieben sich zwei Menschen dies- und jenseits der Grenze, müssen sie sich durch die Zwischenräume des Zauns hindurch küssen. Existieren nun Hölle und Paradies auf beiden Seiten der Grenze?

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Der Hund. Im Niemandsland zwischen den Landesgrenzen.

Der Hund

Was wird uns von dieser Zeit im Gedächtnis bleiben? Was wird uns zum Nutzen gereichen? Was zum Schaden? Werden wir jemals zur Normalität zurückkehren oder werden diese bizarren Zeiten die neue Normalität? Werden normale Zeiten die Menschen künftig erschrecken? Werden wir an einem Strang ziehen, um bestimmte Dinge zu ändern? Werden all die COVID-19-Experten verschwinden oder weiter die öffentliche Meinung prägen? Werden sie der alten, pulsierenden Seele der Stadt eine Rückkehr gestatten? Werden wir unsere Erinnerungen eines Tages unseren Enkeln schildern? Eines ist sicher: Auf der anderen Seite der Grenze wartet ein Hund, der unbedingt den Fotografen kennenlernen will. Trotz aller Widerstände sehnt sich das Leben wieder nach Normalität.

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