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Das kreisförmige Kirchenschiff der Mount Pleasant Church in Baltimore zu betreten, war wie Baden in Energie. Der Gesang des Chors, das Licht der Buntglasfenster und die Freundlichkeit der Kirchgänger hoben unvermittelt meine Stimmung.

Überwältigt vom ersten Eindruck setzte ich mich auf die Empore, um die Szene besser zu überblicken: Der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen. Unten sprachen die Leute miteinander und Kinder liefen herum.

Auf der Bühne vor dem Altar sang eine Gruppe junger Gospelsänger. In den Kirchenbänken sangen einige mit, andere summten und tanzten, wieder andere sassen da, wie ich, und genossen den Moment, der in scharfem Kontrast zur trockenen Winterlandschaft mit ihren kahlen Bäumen, den braunen Rasenflächen und den grauen Gebäuden stand, über die ein kühler Wind strich, der die Sonnenstrahlen zerstreute.

Schon bald sollte der Gottesdienst einsetzen, die Gemeinde mit We Shall Overcome die Luft mit einem Gefühl von Freude und Optimismus elektrisieren. Ich erkannte, dass das notwendig war, um die Krise zu überwinden, die ausserhalb der Mount Pleasant Church herrscht.

Ein fröhlicher roter Alarm

Am Sonntag meines Besuchs, dem 4. Februar 2024, war der Gottesdienst noch aus einem anderen Grund aussergewöhnlich: Alle Frauen trugen rote Kleider und die meisten Männer eine purpurrote Krawatte, was dem Raum eine zusätzliche freudige Atmosphäre verlieh.

Die Gemeindemitglieder bereiten sich auf den Gottesdienst vor.

Jung und Alt genossen den National Wear Red Day.

Mit ihrem strahlenden einfarbigen Look würdigten die Teilnehmer den National Wear Red Day, der Anfang Februar gefeiert wird. Diesen Tag widmet die medizinische Fachwelt Amerikas der Herzgesundheit, um das Bewusstsein für eines der grössten Gesundheitsprobleme in den Vereinigten Staaten und anderswo zu schärfen.

Die Herzgesundheit stellt die meisten Probleme der Gesundheitsfürsorge in Bezug auf Umfang und finanzielle Belastung in den Schatten. Weltweit sind über 500 Millionen Menschen von Herzerkrankungen betroffen, an denen jährlich rund 18 Millionen sterben. In den Vereinigten Staaten liegt die Zahl nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention bei rund 700000, was bedeutet, dass etwa jede halbe Minute jemand an einer Herzkrankheit stirbt. Auch die jährlichen Kosten sind mit 216 Milliarden US-Dollar enorm. Hinzu kommen 147 Milliarden US-Dollar Produktivitätsverluste.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Alterung der Gesellschaft, Bewegungsmangel, ungesunde Lebensmittel und mangelnder Zugang zu Medikamenten und Gesundheitsfürsorge.

Das Problem auf den Punkt bringen

Noch schlechter sieht die Situation für Afroamerikanerinnen und -amerikaner aus, deren Sterblichkeitsrate um rund 20 Prozent höher liegt als bei anderen ethnischen Gruppen. Lange Zeit war die medizinische Fachwelt der Meinung, die Genetik spiele eine entscheidende Rolle bei dieser Diskrepanz. Doch Forscher wie David A. Ansell vom Rush University Medical Center und andere konnten belegen, dass der massive Unterschied vor allem sozialen Faktoren geschuldet ist: Zugangsbarrieren, die Millionen Menschen von den modernsten Gesundheitsleistungen des Landes fernhalten. Vereinfacht gesagt: Armut und ethnische Grenzen halten die Afroamerikaner von grundlegenden Leistungen der Gesundheitsfürsorge fern, was zu den unterschiedlichen Sterblichkeitsraten unter den Bevölkerungsgruppen beiträgt.

David A. Ansell, Rush University Medical Center Foto von Ashley Gilbertson.

Bei Brustkrebs beispielsweise ergab eine im International Journal of Environmental Research and Public Health veröffentlichte Studie, dass die Sterblichkeitsrate bei weissen Frauen seit 1990 signifikant gesunken ist, bei schwarzen Frauen jedoch nicht. Zwischen 2015 und 2019 lag die Sterblichkeitsrate bei schwarzen Frauen um 41 Prozent höher als bei weissen Frauen.

Ein ähnliches Bild zeichnet sich im Kardiologiebereich ab. Während die Sterblichkeitsraten sowohl bei schwarzen als auch bei weissen Erwachsenen zwischen 1999 und 2019 gesunken sind, sterben laut einer in Circulation veröffentlichten Studie jährlich rund 426 von 100000 Afroamerikanern an Herzerkrankungen, aber nur 326 von 100000 weissen Amerikanern.

«Die anhaltende Kluft bei der kardiovaskulären Mortalität zwischen schwarzer und weisser Bevölkerung ist vermutlich auf systemische Ungleichheiten und strukturellen Rassismus zurückzuführen», so der leitende Studienautor Rishi Wadhera. «Schwarze Erwachsene sind in unverhältnismässig hohem Masse sozialen, wirtschaftlichen und umweltbedingten Hindernissen ausgesetzt, die einer optimalen Gesundheit im Wege stehen. Auf politischer Ebene sind weitere Initiativen erforderlich, um die systemischen Ungleichheiten, die zu anhaltend schlechten kardiovaskulären Ergebnisse bei schwarzen Erwachsenen führen, direkt anzugehen.»

Ein sozialer Ausweg

Auch wenn genetische Unterschiede zu gesundheitlichen Ungleichheiten beitragen, werden zunehmend strukturelle, von rassistischen Vorurteilen gestützte Hürden als Hauptursache identifiziert. Zwar wurden viele Anstrengungen unternommen, um Afroamerikanern den Zugang zur Gesundheitsfürsorge über lokale und staatlich geförderte Programme zu erleichtern, doch einen potenziell entscheidenden Akteur erkannte der Gesundheitssektor lange nicht, nämlich die Kirchen der schwarzen Community.

Das änderte sich während der Coronapandemie, als die Black Church mit ihrem massiven gesellschaftlichen Einfluss entscheidend dazu beitrug, ihren Gemeindemitgliedern im ganzen Land Zugang zu Impfstoffen zu verschaffen und Aufklärung über Gesundheitsfürsorge zu leisten. Daraufhin sank auch die Sterblichkeitsrate der Schwarzen erheblich, die zu Beginn des Ausbruchs auf einem Rekordniveau gelegen hatte.

Unter Nutzung des Kirchennetzwerks hat die in den USA ansässige Denkfabrik Global Coalition on Aging das Programm «Engage with Heart» in Baltimore ins Leben gerufen, das lokale Kirchen, Gemeindezentren und andere Akteure zusammenbringt, um die Herzgesundheit in der Stadt zu verbessern. An dem von Novartis unterstützten Programm nehmen auch die städtische Gesundheitsbehörde von Baltimore, das Black Church Food Security Network und die Johns Hopkins School of Nursing teil, wobei Letztere Leistungen zur Überwachung der Herzgesundheit anbietet.

Zu den vier Kirchen der schwarzen Community, die Teil des Programms sind, gehört auch die Mount Pleasant Church, eine der grössten Kirchen der Stadt mit der höchsten Zahl von Gemeindemitgliedern. Die 1930 gegründete Kirche hat viele schwierige Zeiten erlebt, aber auch gelernt, den Stürmen zu trotzen, indem sie überzeugende Sozialprogramme zur Unterstützung ihrer Gemeinde ins Leben rief.

Das macht die Kirche zu einem idealen Partner für «Engage with Heart». Das Programm nutzt das Vertrauen und das Netzwerk der Kirche, um die Menschen über die Vorbeugung von Herzerkrankungen zu informieren. Dazu gehören regelmässige Vorsorgeuntersuchungen, eine gesunde Ernährung und Sport als Teil der Alltagsroutine.

Wir werden es schaffen

Etwa zehn Minuten nachdem ich meinen Platz auf der Empore der Mount Pleasant Church eingenommen habe, beginnt der Gottesdienst. Die beiden Pastoren gehen auf die Bühne, predigen aber nicht aus der Bibel. Stattdessen sprechen sie über Herzgesundheit.

Gospelsängerinnen und -sänger sorgen für die passende Stimmung beim Gottesdienst.

Neben der Aufklärung der Gemeinde über die Gefahren von Herzerkrankungen und die besondere Verletzlichkeit der Afroamerikanerinnen und -amerikaner – insbesondere in Baltimore, wo mehr als 25 Prozent aller Todesfälle auf Herzerkrankungen zurückzuführen sind – sprechen sie auch über «Engage with Heart» und die Möglichkeit für die Gemeindemitglieder, ihr Herz im Anschluss an den Gottesdienst untersuchen zu lassen.

Mit ihrer Art zu singen, ihrer ganz eigenen Intonation und ihren Bewegungen auf der Bühne geben sie den Worten eine neue Bedeutung. Auch beim Informieren der Gemeinde über Sterblichkeitsraten und andere medizinische Fakten und Zahlen bleiben sie in bester Stimmung, wo andere in einen düsteren und ernsten Ton verfallen würden. Sie vermitteln die positive Seite: Du kannst jetzt etwas ändern.

Als der Kirchenchor anfängt, den Gospel We Shall Overcome zu singen, und die Gemeindemitglieder mit einstimmen, stehe ich auf, lausche dem Lied und spüre, dass das, was ich erlebe, der Aufbruch zu etwas Neuem sein könnte, mit dem Potenzial, einen Teil der amerikanischen Gesundheitsfürsorge in Ordnung zu bringen.

Cholesterin und Grünkohl

Zwei Stunden später ist der Gottesdienst zu Ende. Viele Gemeindemitglieder bleiben in ihren Kirchenbänken sitzen, unterhalten sich mit ihren Nachbarn und winken anderen zu. Ich gehe indessen zu einem anderen Teil der Kirche, um mit Krankenpflegerinnen der Johns Hopkins School of Nursing zu sprechen, während sie die Ausrüstung für die Gesundheitschecks vorbereiten, die im Rahmen von «Engage with Heart» angeboten werden.

Eine der Freiwilligen ist Faith Metlock, die für ihre Doktorarbeit nach Baltimore zog. «Ich wusste, dass ich immer Teil der Gemeinde sein wollte», sagt sie. «Ich wollte meinen Doktortitel erlangen, damit ich Untersuchungen und Studien für die Gemeinde entwickeln kann, die wirklich auf die Bedürfnisse gefährdeter Bevölkerungsgruppen eingehen, welche von entsprechenden Leistungen tatsächlich profitieren würden.»

Freiwillige der Johns Hopkins School of Nursing bei der Vorsorgeuntersuchung in der Mount Pleasant Church in Baltimore.

In Baltimore suchte Faith Metlock aktiv nach Möglichkeiten, sich in der Gemeinde zu engagieren. Eines der Projekte sah die Teilnahme an «Engage with Heart» vor. «Es gefiel mir sehr, mit den Kirchen der Gemeinde zusammenzuarbeiten und gemeinsam mit den Menschen ein Programm zu konzipieren, das nachhaltig ist, das sie mitgestalten können und das auf ihre speziellen Bedürfnisse eingeht.»

Als die ersten Gemeindemitglieder nach dem Gottesdienst eintreffen, bittet sie sie, sich an die Tische zu setzen, wo die Freiwilligen unter anderem Cholesterin- und Blutdruckmessungen anbieten. Neben den Vorsorgeuntersuchungen stellen Faith Metlock und ihre Kollegen den Gemeindemitgliedern auch allgemeine Fragen zur Herzgesundheit und ob sie bereits wegen Herz-Kreislauf-Problemen in Behandlung sind.

Eines der Gemeindemitglieder ist Brenda Pryor, eine 78-jährige Frau aus Baltimore. Sie lässt ihr Herz zwar regelmässig untersuchen, aber die Möglichkeit, dies in der Kirche zu tun, sei ein grosses Plus, sagt sie. Auch Stephanie Watkins, eine 62-jährige Rentnerin aus dem Umland, nimmt das Angebot an, ebenso wie Leslie Cash, eine 68-jährige ehemalige Lehrerin aus der Stadt. «Ich treibe in meinem Alter keinen Sport und esse gerne gut, deshalb ist es wichtig, mein Herz zu überprüfen», sagt sie mit einem breiten, ein wenig verwegenen Lächeln.

Die Mehrheit derer, die den angebotenen Service nutzen, sind ältere Frauen, viele von ihnen mit bestehenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck, erhöhtem Cholesterinspiegel und Diabetes. Auch Männer kommen zu den Vorsorgeuntersuchungen, allerdings nicht besonders viele. «Das ist sicherlich eine unserer Herausforderungen», räumt Faith Metlock ein. «Aber wir hoffen, dass wir mit der Ausweitung unseres Angebots auch mehr Männer ansprechen können.»

Auch Community Health Ambassador Terri Shannon nützt die Gelegenheit für einen Gesundheitscheck.

Faith Metlock und ihre Kolleginnen nehmen sich Zeit für jedes Gemeindemitglied und stellen ihre Fragen anhand eines speziell entwickelten Fragebogens, der die Privatsphäre respektiert und dennoch genügend Informationen liefert, um ein aussagekräftiges medizinisches Bild zu erhalten, das bei Bedarf helfen kann, weitere Untersuchungen durchzuführen.

Während dieser Begegnungen, die sich bis zum späten Nachmittag erstrecken und mit Lachen und Witzen gespickt sind, weisen die Krankenpflegerinnen und -pfleger auch auf die Essensstände hin, die von den Organisatoren des National Wear Red Day und «Engage with Heart» in der Halle nebenan aufgestellt wurden. Neben dem Angebot gesunder Snacks als Alternative zur Fast-Food-lastigen Ernährung, die in den USA allgegenwärtig geworden ist, spricht ein Ernährungswissenschaftler auch über Möglichkeiten, den Fast-Food-Konsum zu reduzieren.

Nach dem Gottesdienst wurde gesundes und schmackhaftes Essen serviert, um die Gemeindemitglieder dazu zu inspirieren, neue Rezepte zu Hause auszuprobieren.

Obwohl das Essen, das Grünkohl- und Hühnersalate sowie ein Obstdessert beinhaltet, lecker ist, fällt es vielen Teilnehmern schwer, ihre Ernährung zu ändern, aus persönlichen, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen. «Ich lebe allein und esse meistens Fertiggerichte», sagt Stephanie Watkins, als eine der Freiwilligen ihr die eben gemessenen Werte erklärt, die einen erhöhten Cholesterinspiegel anzeigen. «Aber der Hühnersalat war sehr lecker. Den könnte ich auch mal zu Hause ausprobieren.»

Es wird ein langes Spiel werden

Faith Metlock und ihre Kolleginnen sind sich bewusst, dass ihre Gemeindearbeit keine schnelle Lösung darstellt. Die Dinge ändern sich nicht von heute auf morgen. Aber das Team hat sich auf ein langes Engagement vorbereitet und ist sich sicher, die bevorstehenden Herausforderungen zu meistern.

Alle sind hochmotiviert, vor allem nach der Veranstaltung in der Mount Pleasant Church, die rund 50 Gemeindemitglieder zur Vorsorgeuntersuchung geführt hat.

Mandy Sandkuhler von Mended Hearts informiert die Mount-Pleasant-Gemeinde darüber, wie wichtig es ist, die Essensgewohnheiten anzupassen.

Angesichts des grossen Einflusses der Lebensmittelindustrie ist aus ihrer Sicht der einzige Weg zu gesunden Ernährungsgewohnheiten, direkt mit den Menschen in Kontakt zu treten.

«Wir hoffen, dass wir durch unsere Präsenz in den Gemeinden, durch unsere Erreichbarkeit und das Bereitstellen der kostenlosen Untersuchungen zu einem proaktiveren Umgang mit der Gesundheit beitragen können», sagt sie. «Wir möchten mit diesen Veranstaltungen den einzelnen Menschen helfen, bevor sie mit Beschwerden oder künftigen Gesundheitsproblemen konfrontiert werden.»

Für die schwarze Bevölkerungsgruppe, vor allem aber für Frauen, zählt jeder dieser Schritte, da sie einem noch höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten ausgesetzt sind als afroamerikanische Männer oder weisse Frauen. Nach Angaben der American Heart Association sind 49 Prozent der afroamerikanischen Frauen ab 20 Jahren von Herzerkrankungen betroffen und haben ein beinahe doppelt so hohes Schlaganfallrisiko wie Weisse.

Das ist die Realität ausserhalb der Mount Pleasant Church, eine Realität, die für einen kurzen Moment verschwand inmitten der Freude und des Optimismus des Gottesdienstes und der Arbeit der Freiwilligen der Johns Hopkins School of Nursing und aller Partner von «Engage with Heart». Gemeinsam mit den Gemeindemitgliedern, den Pastoren und den Liedern der Gospelsänger erheben sie ihre Stimme gegen Herzkrankheiten, den tödlichsten – und stillsten – Mörder in den USA und im Rest der Welt.