Gibt es Beispiele dafür, dass Beiträge von Patientinnen und Patienten einen signifikanten Einfluss auf den Forschungsverlauf hatten?
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Gut leben mit fortgeschrittenem Brustkrebs

Vor etwa zehn Jahren wurde bei Claire Myerson Brustkrebs festgestellt. Diese Diagnose veränderte ihre Sicht auf das Leben, aber ihren Kampfgeist hat sie dabei nie verloren.

Text von David Woodruff, Fotos von Adriano A. Biondo

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In einer der Patientenstationen im Novartis Pavillon wird Myersons Geschichte nacherzählt. Ihr Vater und ihre Kinder sind auch dabei.

Publiziert am 01/06/2020

Wenn Claire Myerson über ihre Brustkrebserkrankung spricht, fallen zwei Dinge auf: ihre Lebensfreude und ihre Offenheit in Bezug auf die körperlichen und emotionalen Herausforderungen, die das Leben mit dieser Krankheit mit sich bringt.

Die 53-Jährige lebt unweit von Oxford, in Grossbritannien. Ihre Krebsdiagnose erhielt sie vor zehn Jahren. Die Krankheit hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. Claire Myerson war bereits mehrere Jahre in Behandlung, als sie erfuhr, dass sich der Krebs auf ihre Knochen ausgedehnt hatte. Sie traf daraufhin die schwierige Entscheidung, ihren Job als Chief Information Officer bei einem britischen Pharmaunternehmen aufzugeben. Seither verwendet sie ihre Energie darauf, ihr Leben zu geniessen und sich für Frauen einzusetzen, die mit derselben Krankheit konfrontiert sind.

Dank ihrer Erfahrung als IT-Expertin in der Pharmaindustrie bringt Claire Myerson einzigartige Perspektiven in unterschiedliche Interessenvertretungen ein. Sie arbeitet mit Patientenorganisationen in Grossbritannien zusammen, um Krebserkrankungen zu entmystifizieren und ihnen das Stigma zu nehmen. Sie sammelt Spenden für die Krebsforschung. Sie unterstützt Forschende bei der Konzeption klinischer Studien, damit experimentelle Therapien an Patienten getestet werden können. Und sie teilt die Geschichte über ihr Leben mit dem Krebs mit anderen Patientinnen, den sie behandelnden Ärzten und Krankenschwestern sowie Forschenden, die an der Entwicklung neuer Therapien arbeiten.

Ihre Geschichte wird auch in der Ausstellung «Wonders of Medicine» im Novartis Pavillon präsentiert. Anlässlich eines Besuchs im Pavillon sprach Claire Myerson unlängst über das Thema Krebs, ihr Engagement und ihre Sicht auf das Leben. Hier eine Zusammenfassung des Gesprächs, das sie mit Branchenexperten im Rahmen einer Podiumsdiskussion führte.

Wie hat sich die Krebserkrankung auf Ihr Leben ausgewirkt?

Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich kompliziert. 2013 wurde bei mir ein HER2-positives Mammakarzinom diagnostiziert. 2015 musste ich leider der Tatsache ins Auge sehen, dass der Krebs auch meine Knochen befallen hatte. Er sitzt also in meinem Becken, meinen Rippen und meiner Wirbelsäule.

Seit dieser Diagnose habe ich die gesamte Bandbreite der verfügbaren Behandlungen erhalten: Chemotherapie, Strahlentherapie, Mastektomie und rekonstruktive Operationen. Seit nunmehr acht Jahren werden mir Krebsmedikamente intravenös verabreicht. Ich gehe alle drei Wochen ins Krankenhaus nach Oxford, wo ich eine gezielte Krebstherapie bekomme. Und ich werde diese Therapie fortsetzen, so lange sie funktioniert. Im Moment tut sie das; sie verhindert, dass die Krebserkrankung fortschreitet.

Durch die vielen Wiederholungen ist die Behandlung allerdings psychisch und körperlich anstrengend. Ich habe wirklich Mühe mit dem Einschlafen. Ich habe oft Schmerzen. Manchmal ruft die Behandlung Symptome hervor wie in den Wechseljahren. Manchmal kann ich aus Sorge und Angst vor dem, was mit mir passiert, nicht schlafen. Das Medikament schlägt mir auf den Magen und verursacht grosse Übelkeit. Es hat schlimme Auswirkungen auf meine Nägel und meine Haut. Meine Augen tränen, meine Nase läuft und ich habe seltsame Nervenschmerzen in den Füssen und Händen. Es fühlt sich an, als würde ich von tausend Bienen gestochen.

Aber trotz alledem bin ich immer noch hier. Die Nebenwirkungen des Medikaments sind auszuhalten. Entscheidend ist: Es hält mich am Leben. Und meine grösste Hoffnung war immer, lange genug am Leben zu bleiben, bis die Wissenschaft etwas anderes findet, das mich noch länger am Leben hält.

Das ist einer der Gründe, warum ich mich so intensiv für die Patientenvertretung engagiere. Indem ich über meine Erfahrungen spreche, hoffe ich, die Forschenden weiter zu inspirieren und ihre Arbeit zu unterstützen, die es mir ermöglicht, weiterzuleben. Das hat mir wirklich wertvolle Lebenszeit geschenkt und lässt mich für die Zukunft weiter hoffen.

Sie bringen auch Ihre Erfahrung als Krebspatientin in die Forschung ein. Was treibt Sie an?

Ich wollte mich einbringen, weil ich glaube, dass es sehr wichtig ist, Klartext zu reden, damit die Patientinnen und Patienten die Therapie und ihre wahrscheinlichen Auswirkungen vollumfänglich verstehen. Sie können also – wenn ihnen die Möglichkeit geboten wird, an einer klinischen Studie teilzunehmen – ihre Einwilligung geben; sie können ja (oder nein) sagen: «Ich bin damit einverstanden, diese Behandlung zu erhalten, weil ich weiss, was mit mir geschehen wird.»

Wenn das unser Ziel ist, dann müssen wir direkt am Anfang ansetzen: wenn das Medikament noch nicht viel mehr als eine Idee ist. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist, in jeder Phase der Entwicklung eines Medikaments auf die Stimme der Patientinnen und Patienten zu hören und die Vorgehensweise der Forschenden während des gesamten Prozesses immer wieder anzupassen. Umso grösser und effek­tiver wird schliesslich die Wirkung auf die Krebs­erkrankung und die Patientinnen und Patienten sein.

Zu den Nebenwirkungen und zur Einwilligung kann ich Ihnen einige persönliche Erfahrungen schildern: Wenn Sie beispielsweise so starken Durchfall haben, dass Sie buchstäblich nicht nach draussen gehen und nichts unternehmen können, weil Sie die ganze Zeit in der Nähe der Toilette bleiben müssen, dann ist das, würde ich sagen, keine akzeptable Lebensqualität.

Wenn man zusätzliche Medikamente gegen Durchfall nehmen muss und dann so stark unter Verstopfung leidet, dass man sich jeden Tag schlecht fühlt, und wenn man diese Prozedur – monate- oder jahrelang – alle drei Wochen durchmachen muss, kann man mit Recht sagen: «Nein, danke. Das ist nichts für mich.»

Ein weiteres Beispiel ist die Gewichtszunahme. Ich habe kürzlich an einer klinischen Panelstudie teilgenommen, die sich mit der Nebenwirkung eines experimentellen Medikaments befasste. Glauben Sie mir, wenn Sie sich einer Krebstherapie unterziehen und Ihre Haare ausfallen und Ihr geschwächtes Immunsystem Sie anfällig für jeden Husten, jede Erkältung und jede Grippe macht, dann ist Ihnen Ihre körperliche Erscheinung sehr wichtig. Bei einem Medikament, das gegen Ihre Krebserkrankung wirkt, aber eine enorme Gewichtszunahme verursacht, geraten die Patientinnen und Patienten definitiv ins Grübeln.

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Bei einer Veranstaltung im Novartis Pavillon sprach Myerson darüber, wie wichtig es ist, bei der Entwicklung neuer Medikamente die Patientenperspektive einzubeziehen.

Gibt es Bei­spie­le da­für, dass Bei­trä­ge von Pa­ti­en­tin­nen und Pa­ti­en­ten ei­nen si­gni­fi­kan­ten Ein­fluss auf den For­schungs­ver­lauf hat­ten?

Es gibt ein Medikament gegen Brustkrebs, das während der klinischen Studien mithilfe einer riesigen Nadel verabreicht wurde und noch dazu kalt sein musste. Die Spritze kam direkt aus dem Kühlschrank. Wenn ein kaltes Medikament durch eine riesige Nadel läuft, ist das sehr schmerzhaft. Die Patientinnen sollten es sich zudem selbst injizieren.

Letztlich kamen wir zum Schluss, dass die Patientinnen das nicht selbst zu leisten vermochten. Dafür wäre eine spezialisierte Pflegefachperson nötig, was sehr teuer wäre. Das Medikament an sich war wirklich sehr wirksam, aber die Art der Verabreichung war ein Totalausfall.

Dieses Feedback zur klinischen Studie veranlasste die Forscher nochmals über die Bücher zu gehen. Sie entwickelten schliesslich eine Kombination aus Pille und Hautpflaster, die nicht nur äusserst kostengünstig, sondern für die Patientinnen auch sehr einfach anzuwenden ist. Und die tatsächlich funktioniert.

Es geht also bei den Tests nicht nur um das Medikament und die Nebenwirkungen. Es kommt auch darauf an, wie praktikabel die Verabreichung des Medikaments ist. Nehmen wir einmal an, dass ein Medikament im Kühlschrank aufbewahrt werden muss. Ich habe viele Freunde mit kleinen Kindern. Für sie kommt die Aufbewahrung von Medikamenten zu Hause im Kühlschrank absolut nicht infrage.

Einen separaten Kühlschrank haben sie aber auch nicht. Wie geht man in solchen Fällen vor und was kostet das?

Es gibt vieles zu bedenken. Gerade deshalb ist der Einbezug der Patientinnen und Patienten und ihrer Praxiserfahrung besonders nützlich.

Müssen sich Patientinnen und Patienten, die Wissenschaftler bei ihren Studien unterstützen möchten, mit der Arzneimittelentwicklung und der Durchführung klinischer Studien auskennen? Oder können sie auch ohne spezifisches Grundwissen teilnehmen?

Ich denke, eine Mitarbeit ganz ohne Vorwissen ist ziemlich schwierig, aber nicht unmöglich. Sie brauchen dann jemanden, der Erfahrung mit der Patienteneinbindung hat und Ihnen helfen kann, Ihr Feedback zu kanalisieren.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass mir meine Tätigkeit in der Pharmaindustrie sehr geholfen hat. Pharmafirmen sind Unternehmen; Studienteilnehmende müssen sich also zu einem gewissen Grad in diesem Umfeld bewegen können. Sie müssen Compliance- und regulatorische Fragen nachvollziehen können. Manche Menschen bringen dafür bessere Voraussetzungen mit als andere. Aber wenn alles gut passt, funktioniert das wirklich sehr gut.

Was haben Sie gelernt aus Ihrer Erfahrung, mit dem Krebs zu leben?

Mit einer Krebserkrankung geht nicht nur Angst und Schrecken einher: Ich habe auch sehr viel Trost und Unterstützung von der Familie und vor allem von meinen Kindern erfahren. Durch meine Krebsdiagnose mussten meine Kinder viel schneller erwachsen werden und sind emotional reifer als ihre Altersgenossen.

Wir alle mussten Wege finden, mit der ungebetenen Situation umzugehen. Besonders wichtig war es, in der Familie über die Krankheit und unsere Gefühle zu sprechen. Dadurch sind wir uns heute sehr viel näher als vor meiner Krebserkrankung. Und das ist doch eine sehr gute Sache.

Der Brustkrebs hat mir auch Freiheit und die Chance gegeben, mutig zu sein, Risiken einzugehen, Hemmungen zu verlieren und mich für die Zukunft zu rüsten.

Die wohl grösste Herausforderung bei all dem war, die eigenen Erwartungen ständig neu zu justieren. Aber ich habe gelernt, meine Energie nur noch für Dinge einzusetzen, die mir am Herzen liegen. Ich achte darauf, viel Zeit mit den Menschen zu verbringen, die ich liebe. Und ich habe gelernt, so viel wie möglich in der Gegenwart zu leben und dafür zu sorgen, dass jeder Tag ein besonderer Tag wird. Diese Einstellung versuche ich zu behalten, so gut es geht.

Ich trage immer meine schönste Unterwäsche. Immer. Wer nicht seine schönste Unterwäsche trägt, soll sie aus dem Schrank holen und sie spätestens am nächsten Tag anziehen. Das Leben ist einfach zu kurz. Und wenn ich ein Glas Wein trinke, achte ich immer darauf, dass es ein guter Wein ist.

Ich weiss, dass ich eines Tages sterben werde. Aber bis dahin will ich unbedingt leben, und zwar gut. Mein Rat ist daher: Geniess dein Leben in vollen Zügen! Hol deine beste Unterwäsche aus dem Schrank! Trink deinen besten Wein! Und gib dein Bestes!

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