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Gentherapien, die einst nur von einigen wenigen spezialisierten Kliniken angeboten wurden, haben sich in den letzten zehn Jahren in der pharmazeutischen Industrie in Richtung einer alternativen Plattform zu kleinmolekularen und biologischen Arzneimitteln entwickelt. Allein in den USA sind inzwischen schon mehr als zehn Therapien zugelassen.
Trotz ihrer wachsenden Bedeutung sind Gentherapien immer noch äusserst schwierig zu entwickeln. Darüber hinaus sind sie oft teuer in der Herstellung und konzentrieren sich überwiegend auf die Behandlung seltener oder monogenetischer Erkrankungen, die nur wenige Patienten betreffen.
Während tausende Wissenschaftler weltweit lernen, wie man Entwicklungszeiten und -kosten senken kann, sind Bemühungen zur Entwicklung von Gentherapien für Krankheiten, die eine breite Patientenpopulation mit begrenzten finanziellen Mitteln betreffen, bisher selten. Genau das wollen die Gates Foundation und Novartis nun im Rahmen des neuen Projekts ändern. Ein Schwerpunkt ist die Sichelzellkrankheit, eine schwierig zu behandelnde genetische Blutkrankheit, an der vor allem Menschen in Subsahara-Afrika erkranken.
«Ziel ist es, die Gentherapie so entwickeln zu können, dass der Zugang zu ihr deutlich erleichtert wird», so Sue Stevenson, vormals Executive Director im Bereich Hämatologie bei Novartis Biomedical Research und bei Novartis bis vor kurzem für die Leitung des Forschungsprojekts zuständig. «Damit könnten wir Betroffene in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen erreichen.»
Die Entwicklung neuer Therapien für die Sichelzellkrankheit ist insofern dringend, als Millionen von Menschen auf der ganzen Welt von dieser lebensbedrohlichen Erkrankung betroffen sind. Sie verursacht chronische schwächende Symptome wie Schmerzen und Müdigkeit, aber auch Phasen mit akuten starken Schmerzen und Anämie.
Fortdauernde Gefässschäden und wiederholte Verletzungen von Blutgefässen und Organen haben ebenfalls extreme physische, finanzielle und emotionale Auswirkungen auf die Patienten und ihre Angehörigen. Dies ist insbesondere in Subsahara-Afrika der Fall, wo jährlich mehr als 300000 Kinder mit der Krankheit geboren werden.
Die Sichelzellkrankheit ist eine der ältesten Erbkrankheiten der Welt. Weltweit sind etwa 20 Millionen Menschen davon betroffen. Die meisten von ihnen, fast 80 %, leben in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara.
Es wurden bereits mehrere Therapien zur Behandlung dieser Krankheit entwickelt, und auch die Arbeit an neuartigen Gentherapien gewinnt an Fahrt. Bislang sind jedoch viele dieser Behandlungen für Patienten in ärmeren Regionen unerschwinglich.
Die Zusammenarbeit zwischen der Bill & Melinda Gates Foundation und Novartis zielt darauf ab, eine Gentherapie zu entwickeln, die auch Menschen in Subsahara-Afrika erreichen könnte.
In-vivo-Gentherapie
«Die Chancen, eine In-vivo-Therapie zu entwickeln, waren noch nie besser», erklärt Stevenson, eine Pionierin der Gentherapie mit mehr als 30 Jahren Erfahrung auf diesem Gebiet.
Vor einigen Jahrzehnten stellte man nämlich fest, dass die Sichelzellkrankheit bei Patienten mit höheren Konzentrationen von fetalem Hämoglobin – einem Globinprotein, das in ihren roten Blutkörperchen vorkommt – weniger stark ausgeprägt ist als bei Patienten mit einer geringeren Konzentration dieses Hämoglobins.
Diese wichtige Entdeckung schuf die Voraussetzungen für den Ansatz von Stevensons Team bei der Entwicklung der Gentherapie für die Sichelzellkrankheit. Dabei war die folgende Entdeckung ausschlaggebend: Spezielle Proteine wie BCL11A helfen dabei, bestimmte Gene «einzuschalten» oder «auszuschalten», indem sie an nahe gelegene DNA binden. Man stellte auch fest, dass BCL11A, ein sogenannter transkriptioneller Repressor, der Hauptregulator für den Wechsel vom fetalen Hämoglobin zum adulten Hämoglobin ist.
Ist dieser Schalter eingeschaltet, wird adultes Hämoglobin aktiviert. «Wenn wir also verhindern können, dass BCL11A an das Genom bindet, oder wenn wir den transkriptionellen Repressor selbst stören können, dann kann es zu einer Rückwandlung von adultem zu fetalem Hämoglobin kommen», stellt Stevenson fest.


Forscher in den Labors in Uganda und Tansania, ...
... wo Novartis mit der Bill & Melinda Gates Foundation an ihrem Sichelzellanämie-Projekt arbeiten will.
Die Forschungsergebnisse, die Novartis ursprünglich aus der Arbeit an einer Ex-vivo-Sichelzell-Gentherapie gewonnen hatte, lassen sich auch auf In-vivo-Therapien übertragen, die Novartis gemeinsam mit der Gates Foundation entwickeln will. Im Gegensatz zu Ex-vivo-Therapien werden die In-vivo-Therapien den Patienten direkt verabreicht. Der Aufwand für die Distribution und Verabreichung ist damit geringer.
Im Erfolgsfall würde die neue Gentherapie den Bemühungen von Novartis auf diesem Gebiet weiteren Auftrieb verleihen. Seit dem ersten Gentherapievorstoss, der sich auf die sogenannten CAR-T-Therapien (kurz für chimäre Antigenrezeptor-T-Zell-Therapien) konzentrierte, hat Novartis nicht nur die Präsenz im Bereich der Gentherapien erweitert, sondern ist auch in ganz andere Bereiche vorgestossen. Dazu zählen nuklearmedizinische sowie RNA-basierte Therapien, die im Zuge der Pandemie einen grossen Aufschwung erlebten, als Millionen von Menschen RNA-basierte Impfstoffe erhielten.
Zusammenarbeit mit der Bill & Melinda Gates Foundation
Die Gates Foundation hatte bereits vor Beginn der Zusammenarbeit mit Novartis an In-vivo-Gentherapien für HIV und die Sichelzellkrankheit gearbeitet. Das Programm wurde von Mike McCune ins Leben gerufen, der 2018 von Bill Gates gebeten wurde, eine Plattform zu entwickeln, um Methoden zur Behandlung von HIV-Patienten in Regionen mit begrenzten Ressourcen zu bringen.
McCune nahm auch die Sichelzellkrankheit ins Programm auf. «Die Erweiterung des Programms um In-vivo-Gentherapien für die Sichelzellkrankheit war unter wissenschaftlichen Aspekten und aus Sicht der Bevölkerungsgesundheit sinnvoll», erklärt McCune. «Allerdings war von vornherein klar, dass das Ziel, eine sichere, wirksame und leicht zugängliche In-vivo-Gentherapie zu entwickeln, sehr ehrgeizig war und es sich nur gemeinsam mit anderen würde erreichen lassen», ergänzt McCune.
2019 arbeitete die Gates Foundation zunächst mit den National Institutes for Health (NIH) an der Entwicklung von In-vivo-Gentherapien für HIV und Sichelzellkrankheit. Später schloss sie sich mit Novartis zusammen. «Da Novartis ganz allgemein im Bereich der Gentherapie und speziell im Bereich der Sichelzellkrankheit arbeitet und in der Lage ist, neue Therapien in die klinische Praxis einzuführen, hat sich die Gates Foundation auch an Novartis gewandt», erklärt McCune.
Für Novartis ist die Partnerschaft aus strategischer Sicht sinnvoll. «Genau wie wir ist auch die Gates Foundation der Ansicht, dass die Entwicklung einer Gentherapie für Sichelzellkrankheit helfen würde, einen grossen ungedeckten medizinischen Bedarf zu decken. Zudem könnten sich auch neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Gentherapien für andere Krankheiten ergeben», erläutert Stevenson die Gründe für die Zusammenarbeit.
Auch aus wissenschaftlicher Sicht gibt es gute Gründe für diese Partnerschaft. «Dies ist darauf zurückzuführen, dass dieselben Technologien und Innovationen, die wir bei Novartis für die Entwicklung einer kurativen Gentherapie der Sichelzellkrankheit nutzen, auch auf andere Erkrankungen angewendet werden können, die Modifikationen an Stammzellen erfordern», so Stevenson weiter.
Beginn der Zusammenarbeit
Nachdem sich Novartis und die Gates Foundation grundsätzlich auf die Zusammenarbeit geeinigt hatten, stellte Novartis 2020 bei der Foundation einen Antrag auf Förderung. Aufgrund der Pandemie kam es jedoch zu einem etwas holprigen Start.
«Wir erstellten den ursprünglichen Vorschlag, nahmen die Gespräche mit der Gates Foundation auf und beschlossen, im März 2020 ein erstes persönliches Treffen in Seattle abzuhalten», erinnert sich Stevenson. «Wir hatten unsere Flugtickets bereits gebucht, mussten aber die Flüge aufgrund von Covid-Lockdowns Anfang des Monats stornieren. So wurde aus dem geplanten Face-to-Face-Meeting mein allererstes Zoom-Meeting.»
Im Laufe des Jahres 2020 wurden Umfang und Zweck des Antrags für die Forschungskooperation präzisiert. Im Herbst 2020 ging Novartis schliesslich eine Fördervereinbarung mit der Bill & Melinda Gates Foundation ein mit dem gemeinsamen Ziel, eine neuartige In-vivo-Gentherapie zur Heilung der klinischen Manifestationen der Sichelzellkrankheit zu entdecken und zu entwickeln. Im Rahmen der Vereinbarung stellt die Gates Foundation Mittel zur Deckung der Kosten für das Forschungspersonal und die Programmkosten zur Verfügung, während Novartis Sachmittel in Form von Waren und Dienstleistungen beisteuert.
Ausserdem traf Novartis im Rahmen des Projekts eine Vereinbarung mit dem US-amerikanischen Unternehmen Precision BioSciences, mit dem Ziel, ein Protein zu entwickeln, das DNA an bestimmten Stellen schneiden kann. So lässt sich ein funktionelles Gen zur Bekämpfung der genetischen Mutation einfügen, die die Sichelform der roten Blutkörperchen hervorruft.
Zum Aufbau der klinischen Forschung sind Wissenschaftler von Novartis nach Tansania und Uganda gereist, um eine Zusammenarbeit mit lokalen Sichelzellenzentren zu beginnen.
Ziel ist es, ein Netzwerk von Wissenschaftlern und Klinikern aufzubauen, die Forschung und klinische Studien durchführen können, um die Entwicklung einer neuartigen Gentherapie zu beschleunigen.
Angesichts der hohen Krankheitslast der Sichelzellkrankheit, die schon in der Kindheit zu Hirnschlag führen kann, könnten Tausende von Patienten und ihre Betreuer von einer möglichen Therapie profitieren.
Sicherstellen des Zugangs
Neben den wissenschaftlichen Aspekten stellt die Frage, wie ein gleichberechtigter Zugang zu der Therapie gewährleistet werden kann, einen weiteren Schwerpunkt des Projekts dar.
«Es handelt sich in vielerlei Hinsicht um ein richtungsweisendes Programm», so Jonathan Spector, Leiter Global Health Strategy and Access bei Novartis Biomedical Research. «Es gibt keine oder nur wenige Präzedenzfälle für die Anwendung einer so fortschrittlichen Arzneimittelforschungstechnologie, einer hochmodernen In-vivo-Gentherapie, die gezielt eine Krankheit angeht, die am weitesten in den Teilen der Welt verbreitet ist, die nur über begrenzte Ressourcen verfügen. Und die Möglichkeit, diese Arbeit im Rahmen einer bedeutenden Forschungskooperation mit der Gates Foundation zu leisten, trägt dazu bei, ihre Erfolgschancen weiter zu verbessern.»
Spector räumt ein, dass beim Zugang zur Therapie grosse Herausforderungen bestehen, und erklärt die Strategie des Teams: «Wir bei Novartis haben den Vorteil eines Ansatzes «vom Labor zum Patienten» für die Planung des Zugangs im Bereich Global Health. So können wir parallel zur Forschung und Entwicklung frühzeitig mit der Planung der Zugangsmöglichkeiten beginnen. Wir nutzen diese Erfahrung bereits jetzt und fangen an, den Zugang direkt vom Beginn der Forschung an zu planen.»



Sue Stevenson während ihrer Forschungsreise in Uganda und Tansania.
Jonathan Spector, Tovy Ayala und Serena De Vita während ihrer Forschungsreise in Uganda und Tansania.
Das Einrichten eines gemeinsamen Forschungsprogramms mit grenzüberschreitenden Partnern erfordert einen hohen Planungsaufwand.
Die Fördervereinbarung enthält auch spezifische Bestimmungen zur Unterstützung der globalen Zugangspolitik der Gates Foundation. Diese Bestimmungen gewährleisten, dass aus dem Projekt resultierende Produkte und Innovationen den Menschen zugänglich gemacht werden, die sie in Entwicklungsländern am dringendsten benötigen.
Novartis arbeitet unterdessen auch mit Patientengruppen, Ärzten, Politikern und Wissenschaftlern in Tansania, Uganda und Ghana zusammen. «Die Therapie, die wir entwickeln, muss wirksam und sicher in Bevölkerungsgruppen sein, in denen die Krankheit sehr endemisch ist», erklärt Spector. «Um dies zu erreichen, werden wir eng mit den Gemeinschaften auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, in denen die Sichelzellkrankheit weit verbreitet ist, auch in Afrika. Durch dieses Programm werden wir nicht zuletzt das Privileg haben, einige unserer afrikanischen Forschungskollegen in unseren Laboratorien in Cambridge und Basel willkommen zu heissen, um Seite an Seite mit ihnen arbeiten zu können.»



Forscher in Cambridge arbeiten bereits an einer möglichen Sichelzell-Gentherapie.
Wissenschaftler erörtern neue Daten, die aus den jüngsten Tests hervorgegangen sind.
Erweitertes Programm
Die Bemühungen von Novartis im Bereich von In-vivo-Gentherapien sind Teil des umfassenderen Programms zur Behandlung der Sichelzellkrankheit, das das Unternehmen vor einigen Jahren gestartet hat. Der Schwerpunkt lag dabei zunächst auf der Unterstützung der Bemühungen in Ghana. Seitdem verfolgt Novartis beim Krankheitsmanagement einen umfassenden Ansatz.
Das Unternehmen ist in diesem Rahmen in mehreren afrikanischen Ländern öffentlich-private Partnerschaften eingegangen, die darauf abzielen, eine Reihe von Initiativen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu entwickeln, zu denen frühzeitige Interventionsstrategien wie Screening und Diagnose gehören.
Das Programm beinhaltet auch ein Portfolio digitaler Initiativen. So unterstützte Novartis im Rahmen des Programms in Ghana die Sickle Cell Foundation bei der Entwicklung und Einführung einer Smartphone-App, die die Erfassung und das Management von Daten im nationalen Neugeborenen-Screeningprogramm erleichtert. Bis heute wurden über 90000 Babys in der App registriert, die derzeit auch in weiteren Ländern Afrikas eingeführt wird.
«All diese Bemühungen sind entscheidend, um die Krankheitsbelastung zu verringern und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern», fügt Stevenson hinzu. «Wenn wir sichere und wirksame Gentherapien auf den Markt bringen, die auf die Ursache der Krankheit abzielen und sie beseitigen, könnte dies das Leben von Millionen von Menschen, die an der Sichelzellkrankheit leiden, zum Positiven verändern und wäre ein weiterer grosser Sieg für die Medizin.»
Gelingt es Novartis, eine In-vivo-Gentherapie zu entwickeln, könnte ein solcher Durchbruch auch eine neue Phase in der Geschichte der Gentherapien einleiten, die aufgrund der hohen Kosten, der Komplexität und der Schwierigkeit der Verabreichung bisher nur bei wenigen Patienten angewandt wurden. Eine In-vivo-Gentherapie zur Behandlung der Sichelzellkrankheit könnte also zu einem Wendepunkt werden.