Live. Magazine
Stärkung des Gesundheitssystems
Schmerz und Verlust verstehen.
Ich bin eine von ihnen
Quintonele Allen oder Q, wie sie von Freunden und Familie genannt wird, weiss, wie hart das Leben in Chicago sein kann. Die dreifache Mutter durchlitt selbst viele schwierige Situationen und bringt nun ihre Lebenserfahrung als Gesundheitshelferin in einem der Outreach-Programme des Rush ein.
Text von Goran Mijuk, Fotos von Ashley Gilbertson und Laurids Jensen, Videos von Elia Lyssy und Laurids Jensen.
Als ich im Sommer 2023 zum ersten Mal mit David Ansell sprach, sagte er etwas, das mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird: «Wenn wir an einer Wohnungstüre klingeln und uns nach gesundheitsbezogenen sozialen Bedürfnissen erkundigen, dann fragen wir zugleich auch, ob jemand in der Wohnung einen Job braucht.»
Ansells Vision beschränkte sich nicht auf die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Chicagos West Side durch das Messen und Erfassen von Gesundheitsdaten und die Unterstützung von Patienten. Mit Gründerzentren wie West Side United und dem Decken des Rush-eigenen Personalbedarfs schuf er auch Arbeitsplätze.
Quintonele Allen, die ich ein Jahr später in Chicago kennenlernte, war einer dieser Menschen. Zwar war sie nicht so zu ihrer Anstellung gekommen, wie Ansell es sich vorgestellt hatte, aber sie gehörte durchaus zu der Gruppe von Menschen, die er erreichen wollte, um ein gerechtes Gesundheitssystem zu schaffen, das auf einer fairen Wirtschaft basiert.
Allen hatte lange zu kämpfen gehabt, bevor sie eine Stelle als Gesundheitshelferin bekam. Als sie die Zusage des Rush erhielt, war ihre Zeit gekommen, etwas zurückzugeben.
Quintonele Allen vor einem Pflegeheim in der West Side von Chicago nach ihrem Besuch bei Lula Jordan.

Etwas zurückgeben
«Ich empfinde die Arbeit, die ich leiste, als wirklich wichtig», sagte sie. «Das liegt daran, dass ich einst selbst vor so vielen Schwierigkeiten und Problemen gestanden habe. Es gab Momente, in denen ich das Gefühl hatte, nicht über die nötigen Ressourcen zu verfügen. Und dann gab es da diese Momente, in denen ich Hilfe erhielt, die enorm viel veränderte.»
Es sind diese Momente der Dankbarkeit, die ihr zusätzliche Motivation für ihre Arbeit geben, oder vielmehr für ihre Berufung. Als wir sie vor ihrem neuen Zuhause, einem frisch renovierten Sozialwohnungsprojekt in der Nähe des alten Sears Tower, trafen, war sie bereit für einen arbeitsreichen Tag.
Zuerst begleiteten wir sie zu ihrem Besuch bei Lula Jordan*, einer 85-jährigen Patientin, die an verschiedenen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Problemen und Diabetes leidet und in einer kleinen betreuten Wohnung unweit des United Center lebt, der Heimspielstätte der Chicago Bulls und Blackhawks.
Q im Gespräch mit Lula Jordan, die im Mai 2025 verstorben ist. Q war einer der wenigen Menschen, die sie regelmäßig besucht haben.

Jordan, die seit vielen Jahren an ihr Bett gefesselt ist und nur selten Besuch bekommt, schätzt die Momente mit Allen sehr, nicht nur wegen der medizinischen Versorgung, sondern auch wegen der sozialen Interaktion und der darüber hinausgehenden Hilfestellungen.
Isolation beenden
Einmal etwa konnte Allen ihr helfen, nachdem Jordans Sozialversicherungsnummer gestohlen worden war. Jordan hatte keinen Zugriff mehr auf ihr Bankkonto und ihre Wohnung wäre zwangsgeräumt worden, hätte Allen nicht für sie die komplizierten bürokratischen Schritte zum Wiedererlangen ihrer Papiere erledigt.
Für Allen ist diese Art der Unterstützung genau das, was die Gesundheitshelfer so wertvoll macht. «Ich mag es, diesen Menschen mehr als nur die allernötigste Hilfe zu bieten, da sie sonst oft niemanden haben, an den sie sich wenden können. Ihre Probleme betreffen ja nicht nur die Gesundheitsversorgung, sondern auch viele andere Bereiche», so Allen.
Und Lula Jordan ist nicht die Einzige. Viele leben in ähnlichen Situationen. «Eine der grössten Herausforderungen meiner Arbeit», sagt Allen, «ist es, zu sehen, wie isoliert einige unserer älteren Patienten sind. Viele haben keine Familie und sie haben das Vertrauen in das System verloren. Ich selbst musste dieses Vertrauen von Grund auf aufbauen.»
«Ich stehe jeden Tag auf und leiste meinen Beitrag für ein besseres Chicago.»
Quintonele Allen

Allens eigene Lebenswirklichkeit hat sich deutlich verändert, seit sie vor drei Jahren zum Rush kam. Sie konnte mit ihren drei Kindern und ihrem Hund in eine neue Wohnung ziehen und hat nun die nötige Ausdauer und Geduld, um ihrer Arbeit mit noch mehr Entschlossenheit nachzugehen.
Quintonele Allen erzählt, wie schwierige Lebensphasen sie motivieren, anderen zu helfen.



Quintonele Allen geniesst hier gern ihren Starbucks-Kaffee…
Quintonele Allens Daheim ist gemütlich und strahlt Wärme aus, obwohl sie gerade erst eingezogen war, als wir sie besuchten.
Quintonele Allen mit ihrem Sohn, der einen kurzen Spaziergang mit dem Hund gemacht hat.
«Nach meiner ersten Bewerbung beim Rush wurde ich abgelehnt. Deshalb zögerte ich, es noch einmal zu versuchen, aber schliesslich tat ich es doch. Jetzt, drei Jahre später, weiss ich, dass ich hierher gehöre. Das ist die sinnvollste Arbeit, die ich je gemacht habe. Es ist nicht nur ein Job, sondern etwas Persönliches. Ich kann Menschen in meinem Viertel helfen, und darauf bin ich wirklich stolz.»
Quintonele Allen besucht das Schussopfer Marcus Kelley.

Quintonele Allen im Flur eines Chicagoer Pflegeheims.

Gefrorene Truthähne
Am Nachmittag desselben Tages, nachdem sie auch das Schussopfer Marcus Kelley besucht und seinen Fall mit dem Betreuungsteam des Rush besprochen hatte, fuhr Allen nach Moore Park im Zentrum der West Side von Chicago, wo sie zusammen mit anderen Rush-Mitarbeitenden Lebensmittelpakete verteilte.
Obwohl sich der Himmel an diesem Sommernachmittag zugezogen hatte und sich Regen ankündigte, strömten Hunderte von Kindern mit ihren Familien in den Park, um sich mit frischen Produkten und dringend benötigten Proteinen zu versorgen.
Ein Freiwilliger und ein Polizist entladen einen Lastwagen mit Lebensmitteln, die kurz darauf an die Bevölkerung verteilt werden.

Eine der Kolleginnen von Allen, Ebony Henderson, sagte, in Spitzenzeiten nähmen Hunderte von Familien den Dienst, der auch vom Einzelhändler Amazon unterstützt wird, in Anspruch. «An Thanksgiving kamen 400 Familien zu uns, weil wir gefrorene Truthähne und frisches Gemüse verschenkten.»
Wie Allen ist auch Henderson extrem motiviert und sagt, sie engagiere sich ehrenamtlich für die Verteilung von Lebensmitteln. «Was ich hier tue, geht über meine Arbeit als Gesundheitshelferin hinaus. Aber nicht nur das: Ich bringe auch meine Tochter mit, damit sie versteht, wie wichtig es ist, nicht nur hier zu sein und das Problem zu sehen, sondern zu versuchen, eine Lösung für das Problem zu finden», betont Henderson.
Stephanie Marquardt von City of Refuge Chicago möchte jungen Menschen eine sinnvolle Lebensperspektive erschliessen.
Sichere Räume
An diesem Tag ist auch der Moore Park voll, weil die örtliche Polizei ein Baseballspiel der Little League organisiert hat. Zufällig erfahren wir, dass die ehemalige Ciba-Geigy-Mitarbeiterin Stephanie Marquardt dieses Projekt vor einigen Jahren mit ins Leben gerufen hat.
Gemeinsam mit Sergeant Jermaine Harris und Pastor Steve Epting gründete Marquardt die Gruppe nicht nur, um der Polizei eine bessere Verbindung zu den Kindern und Jugendlichen im Viertel zu ermöglichen, sondern auch, um ihnen das Gefühl zu geben, gesehen zu werden und sich sinnvoll zu betätigen.
Um dies zu verdeutlichen, erzählt uns Marquardt von einem Vorfall, der sich kurz vor Beginn der Veranstaltung ereignet hatte, als eine Gruppe Jugendlicher in einen heftigen Streit geriet. Nachdem Marquardt einen der Jungs um Hilfe gebeten hatte, beruhigte sich die Lage schnell.
„Viele von ihnen leben bei ihren Großeltern, die oft frustriert von ihnen sind“, sagte sie. „Wir versuchen, ihnen einen sicheren Raum zu geben, in dem sie sich entfalten können. Und wenn sie das erst einmal erlebt haben, wollen sie meist noch mehr.“
Während Q und ihre Kollegen die Lebensmittelpakete verteilen und die Jungen sich auf ihr Baseballspiel konzentrieren, genießen wir den friedlichen Nachmittag, der leicht zu einer Tragödie hätte werden können, wenn die Jungen nicht die Gelegenheit zu einer sinnvollen Beschäftigung gehabt hätten.
Grosse Nachfrage nach Lebensmitteln und anderen Artikeln des täglichen Bedarfs.

Der Armut entfliehen
Beim Geniessen des Anblicks erinnerte ich mich an eine weitere Bemerkung von David Ansell, als er über die West Side von Chicago mit ihrer armen schwarzen Bevölkerungsmehrheit und die angrenzenden Stadtteile sprach, die sowohl wirtschaftlich als auch sozial zu kämpfen haben.
«Es gibt durchaus auch viele arme Weisse in Chicago, aber es gibt keinen einzigen armen weissen Stadtteil», unterstrich Ansell. «Ein armes weisses Kind in Chicago lebt wahrscheinlich in einem Stadtteil, in dem es mehr soziale Unterstützung, eine Lehrkraft, eine Bibliothek und mehr Möglichkeiten für das Kind gibt. Hier ist der Nächste, den du triffst, immer genauso arm wie du.»
Ansell hat in der West Side von Chicago damit begonnen, Inseln des Wohlstands und sichere Räume zu schaffen, um die Konzentration wirtschaftlicher Benachteiligung zu überwinden, und Menschen wie Stephanie Marquardt, Ebony Henderson und Quintonele Allen arbeiten ebenfalls daran.
Für ein Kind in der West Side von Chicago kann es fast unmöglich sein, einen Weg zu Wohlstand und Gesundheit zu finden, da sich Armut und Kriminalität so weit erstrecken, wie das Auge sieht, sagt David Ansell.
Viele der Sozialarbeiter sind sich dessen bewusst und bleiben auch in schwierigen und manchmal gefährlichen Situationen fröhlich und unbeschwert. Schliesslich ist die Kriminalität in Chicagos West Side nach wie vor hoch, und die Polizeisirenen bilden zuweilen eine unheimliche Geräuschkulisse.
Potenzial für Veränderungen in den ärmeren Stadtteilen Chicagos sieht Quintonele Allen trotz der schwierigen Situation.
«Wenn ich Menschen helfe», sagt Allen abschliessend, «dann aus dem Wissen heraus, was sie gerade durchmachen. Ich weiss, wie frustrierend es ist, sich zwischen dem Kauf von Lebensmitteln und dem Bezahlen von Rechnungen entscheiden zu müssen. Es bedeutet mir sehr viel, Menschen bei der Bewältigung solcher Probleme helfen zu können – vor allem, weil ich eine von ihnen bin.»
*Lula Jordan ist im Mai 2025 vor Veröffentlichung dieses Artikels verstorben.
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Stärkung des Gesundheitssystems
4. Ich bin eine von Ihnen
Empathie als Ausweg aus der Krise.
Epilog: Eine Erfolgsmeldung
E3 ist bereit Chicago zu verändern.
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