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«Imagine»

Man findet sie zwar noch nicht auf Instagram, aber die gestochen scharfen Aufnahmen von Proteinen und Zellstrukturen mittels der neuen Kryo-Elektronenmikroskopie verbreiten sich in der Forschungsgemeinschaft «viral». Im Kampf gegen drei Infektionskrankheiten hat sich die Präzision der Bilder bereits als nützlich erwiesen.

Text von Goran Mijuk und K.E.D. Coan, Fotos von Christian Jaggi

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Forscher von Novartis und dem FMI bereiten eine Probe vor, die später im Kryo-Elektronenmikroskop analysiert wird.

Publiziert am 02/11/2020

Es war ein grosser Tag für die Wissenschaft und ein besonderer Moment für die Schweiz, als Jacques Dubochet aus dem kleinen Städtchen Morges 2017 den Nobelpreis für Chemie erhielt.

Gemeinsam mit Joachim Frank und Richard Henderson, mit denen er sich die Auszeichnung teilt, hatte der emeritierte Professor der Universität Lausanne in jahrelanger harter Arbeit den Grundstein für die Kryo-Elektronenmikroskopie gelegt.

Bei der Kryo-EM, wie sie unter Wissenschaftlern bezeichnet wird, handelt es sich um ein neues Bildgebungsverfahren, das beeindruckende Detailaufnahmen von komplexen molekularen Strukturen wie Proteinen liefert.

Den Nobelpreis für Dubochet und seine Kollegen hatte man schon seit einigen Jahren erwartet, da sich die Auflösung und somit die Bildqualität innerhalb kurzer Zeit enorm verbessert hatte.

Noch vor zehn Jahren waren die mithilfe der Kryo-EM entwickelten Bilder von Proteinen völlig verschwommen und wurden von Insidern oft als «Kleckse» abgetan.

Doch rasante Fortschritte in der Digitaltechnologie und deutlich leistungsfähigere Kameras ermöglichten bald 3-D-Bilder in atemberaubender Schärfe und Einblicke in die Schönheit der Natur von bisher nie da gewesener Klarheit.

Frühere Verfahren wie die Protein-Kristallografie und die Kernspinresonanzspektroskopie, die als das Nonplusultra gegolten hatten, verblassten regelrecht im Vergleich zur neuartigen Kryo-EM.

Forscher rund um den Globus konnten ihre Begeisterung kaum zügeln.

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Unterschied zwischen der herkömmlichen Darstellung von Proteinstrukturen und derjenigen mithilfe eines Kryo-Elektronenmikroskops.

Auch Nico Thomä vom Friedrich Miescher Institute for BioMedical Research in Basel war sprachlos, als er 2014 erstmals eines der kristallklaren 3-D-Bilder zu sehen bekam. Er erkannte sofort das Potenzial dieses innovativen Werkzeugs, mit dem eine Proteinprobe schockgefroren und dann wiederholt von Elektronen abgetastet wird, so dass sich schliesslich ein 3-D-Abbild des Molekularkomplexes erstellen lässt.

«Als mir zum ersten Mal klar wurde, was die Kryo-Elektronenmikroskopie alles leisten kann, hat es mich regelrecht aus den Socken gehauen», erinnert sich Thomä. «Es stand fest, dass wir es mit einem revolutionären Verfahren zu tun hatten, das uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnete.»

Wenngleich Thomä keinen Zweifel am Potenzial der Kryo-EM hatte, musste er zunächst einige Hürden überwinden, bevor er tatsächlich mit einem solchen Gerät arbeiten konnte. Erstens sind Kryo-Elektronenmikroskope alles andere als billig. Zweitens sind sie nicht gerade einfach in der Handhabung. Und drittens war der Nutzen des neuen 3-D-Bildgebungsverfahrens für die medizinische Forschung und Wirkstoffentdeckung vor einigen Jahren nicht ganz offensichtlich.

Zu den Forschern, die das enorme Potenzial der Technologie jedoch früh erkannten, zählte auch Sandra Jacob, eine Strukturbiologin, die als geschäftsführende Direktorin die Abteilung Protein Sciences an den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR) in Basel leitet.

Nachdem Thomä mit ihr Kontakt aufgenommen hatte, ersuchten die beiden gemeinsam sowohl Novartis als auch das FMI um die nötigen Finanzmittel für ein Labor, in dem sich Forscher beider Einrichtungen die neue Technologie zunutze machen können.

Eine solche Zusammenarbeit, argumentierten sie, könnte zur Entdeckung unbekannter biologischer Strukturen beitragen und die Entwicklung neuer Wirkstoffe beschleunigen. «Die besten Forschergruppen der Welt wechseln alle zur Kryo-EM, aber für einen Alleingang wäre die Investition viel zu hoch – sogar für die meisten Pharmakonzerne», so Jacob. «Aber als Nico Thomä uns kontaktierte, sahen wir die Chance, zusammenzuarbeiten und voneinander zu lernen.»

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Die Schönheit der Wissenschaft
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Die Vorbereitung der Proben ist zeitintensiv...

Obwohl die beiden anfänglich auf Skepsis stiessen, zahlten sich ihre Bemühungen aus. Die Zusammenarbeit zwischen den zwei Partnern wurde 2015 initiiert und ein Jahr später offiziell aufgenommen. Laut Jacob handelt es sich zwar nur um eine von über 300 Forschungspartnerschaften von ­Novartis, dafür aber um eine ganz besondere, da sich beide Parteien ein gemeinsames Labor teilen – eine Seltenheit in der Branche.

Diese «Labor-WG» hat sich schon jetzt ausgezahlt, denn die ersten Ergebnisse haben alle Erwartungen übertroffen: Dem Team ist es gelungen, hochauflösende Abbilder biologischer Komplexe darzustellen, und es wurden sogar Fortschritte in der Wirkstoffentdeckung gemacht, da die neue Technologie auch scharfe Bilder von Verkettungen mehrerer zusammenarbeitender Proteine erstellt.

Das Proteasom ist ein solcher Komplex. Diese lebenswichtige Proteinstruktur, mit der Organismen ungewollte oder fehlgefaltete Proteine abbauen, hatte das Genomics Institute der Novartis Research Foundation (GNF) bereits zuvor als potenzielles Ziel zur Behandlung verschiedener Krankheiten etabliert.

Forscher des GNF hatten zusammen mit Wissenschaftlern von NIBR ein Molekül gefunden, das das Proteasom von drei tropischen Parasiten ausschaltet, nämlich die Erreger von Leishmaniose, der Chagas- und der Schlafkrankheit.

Da der experimentelle Wirkstoff die Funktion des menschlichen Proteasoms nicht beeinträchtigt, hatten die Forscher gehofft, dass es so möglich sein wird, selektiv Parasiten in einem menschlichen Wirt unschädlich zu machen.

Trotz dieser Erkenntnisse hatte das GNF aber kein klares Bild davon, wie der neue Wirkstoff das Proteasom der Parasiten unschädlich macht. Somit tappten sie auch im Hinblick auf die Entwicklung eines Medikaments im Dunkeln.

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Cryo Podcast
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Das Kryo-Team: Forscher von Novartis und FMI arbeiten schon lange zusammen. Eine gemeinsame Einrichtung ist jedoch Neuland. Von links nach rechts: Andreas Schenk, Christel Genoud, Srinivas Honnappa, Simone Cavadini, Sandra Jacob, Celine Be, Alexandra Graff, Nico Thomä, Chris Wiesmann.

Dies blieb so, bis Christian Wiesmann auf den Plan trat. Dem Novartis-Leiter des Kryo-EM-Zentrums, der als Forscher auf jahrelange Erfahrung in der Röntgenkristallografie zurückblicken kann, gelang mit seinem Team die Erfassung der tatsächlichen Proteasomstruktur. Damit war der Weg frei für einen potenziellen medizinischen Wirkstoff, der vielleicht eines Tages zur Behandlung der tödlichsten Tropenkrankheiten beitragen wird.

«Wir hatten mehrere Proteasom­modelle, konnten das richtige aber nicht mit Sicherheit bestimmen. Mit der Kryo-EM lag die Antwort plötzlich klar auf der Hand.» Für die Zukunft erhofft sich das Team weitere Durchbrüche dieser Art. Ein besseres Verständnis der Signal­wege von Krankheiten und der eigentlichen Struktur von krankheitsauslösenden Zellkomplexen könnte den Forschern die Entwicklung von Wirkstoffen erleichtern, die sich nahtlos in diese Strukturen einpassen, und die jeweilige Krankheit schon in ihren molekularen Anfängen stoppen.

«Seit wir das Instrument in Betrieb genommen haben, verspüren wir alle den Drang, uns noch stärker ins Zeug zu legen. Schliesslich ist das scheinbar Unmögliche jetzt offenbar doch möglich», so Thomä. «Diese Momente, in denen plötzlich hochgesteckte Ziele in greifbare Nähe rücken, gibt es im Leben eines Wissenschaftlers nicht oft, und wir sind wirklich froh über die Zusammen­arbeit mit Novartis.» Die Kooperation wird sicher auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen und vielleicht auch neue Formen annehmen.

Am Ende seiner Nobelpreisvorlesung hielt Jacques Dubochet seine Forschungskollegen an, sich eine Welt vorzustellen, in der Wissen auf innovative und uneingeschränkte Weise untereinander geteilt wird. Genauso wie Dubochet seine Vorstellungskraft nutzte, um beeindruckende Aufnahmen von winzigsten Strukturen zu erschaffen, sollte auch seine Zuhörerschaft zu den Klängen von John Lennons Imagine am Ende der Vorlesung die Grenzen des Vorstellbaren überwinden und eine neue visionäre Welt der Wissenschaft und Medizin entstehen lassen.

Bleibt zu hoffen, dass sich Dubochets Ideen eines Tages so rasant verbreiten werden wie seine Bilder.

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