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Publiziert am 22/08/2022

Vor dem Hintergrund des sich beschleunigenden politischen, wirtschaftlichen und technologischen Wandels wird die sektorübergreifende Zusammenarbeit immer wichtiger, so Gwenaelle Nicolas. In ihrer derzeitigen Funktion unterstützt die erfahrene Neurowissenschaftlerin im Rahmen der Innovative Health Initiative (IHI) Wissenschaftler von Novartis bei der Suche nach Partnern aus Industrie und dem öffentlichen Sektor.

«Angesichts der Geschwindigkeit der Globalisierung und des technologischen Wandels müssen die Unternehmen, der öffentliche Sektor sowie der Hochschulbereich zusammenarbeiten, um die kollektive Stärke des Gesundheitswesens zu nutzen», so Nicolas weiter.

Die Antwort der Europäischen Union auf diese Entwicklung ist die IHI, die weltweit grösste öffentlich-private Partnerschaft im Gesundheitswesen. Sie ist Teil des europäischen Forschungsprogramms Horizon Eu­rope, das über ein Investitionsvolumen von 95,5 Milliarden Euro verfügt.

Seit ihrer Gründung vor fast zwanzig Jahren, als sie noch die Bezeichnung IMI für Innovative Medicines Initiative führte, hat die IHI ihren Namen mehrmals geändert und ihre Aufgabenbereiche erweitert. Darüber hinaus hat sie sich auch zu einem Innovationszentrum in Bereichen entwickelt, die für einzelne Akteure zu komplex bzw. zu umfangreich wären.

«Die Grundidee dieser öffentlich-privaten Partnerschaft ist es, Ressourcen, talentierte Fachleute und Fachkompetenz in jenen Gebieten zu bündeln, die das Know-how verschiedener spezialisierter Akteure erfordern», erläutert Nicolas. «Da diese Kooperation auch politische und behördliche Gremien sowie Patientengruppen umfasst, ist sie das ideale Terrain, um Herausforderungen anzugehen, die für den gesamten Sektor von immenser Bedeutung sind.»

Gemeinsam mit Salah-Dine Chibout und Stephan Korte hat Nicolas in den vergangenen Jahren Wissenschaftler von Novartis dabei unterstützt, Projektpartner innerhalb der IHI und ihrer Vorgängerorganisationen zu finden. Bislang hat das Trio die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von Novartis bei mehr als 70 verschiedenen Forschungsprojekten tatkräftig unterstützt.

«Aus öffentlich-privaten Partnerschaften wie der IHI entstehen wichtige Vernetzungen zwischen gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern aus dem Hoch­schulbereich und Partnern aus der Industrie, die wertvolle Chancen bieten, gesundheitspolitische Themen von gemeinsamem Interesse zu erörtern, etwa die Überarbeitung der Arzneimittelgesetzgebung bzw. der Richtlinien zu seltenen Krankheiten und der Orphan-Drug-Bestimmungen», so Salah-Dine Chibout.

Die Projektpartnerschaften haben es Novartis ermöglicht, in einem breiten Spektrum von Gesundheitsbereichen wichtige Grund­lagenarbeit zu leisten. Diese reichen von der Entwicklung von Lösungen für die Identifizierung von Biomarkern für schwer zu behandelnde Krankheiten wie Psoriasis-Arthritis bis hin zum Aufbau digitaler Plattformen, die zur Erhöhung der Sicherheit in den Lieferketten und zur Verbesserung klinischer Studien beitragen – immer mit einem ganzheitlichen Blick auf den kompletten Sektor.

Die IHI und ihre Vorgängerorganisationen wurden genau für solch gross angelegte Projekte gegründet, als die öffentlich-private Partnerschaft 2008 im Rahmen der intensivierten Forschungsförderung der Europäischen Union ins Leben gerufen wurde. Wie schon bei der IMI ist auch bei der IHI das «öffentliche» Mitglied der Kooperation die Europäische Union, vertreten durch die Europäische Kommission. Sie unterstützt die an der Kooperation beteiligten Hochschuleinrichtungen, Krankenhäuser, Aufsichtsbehörden und Patientenorganisationen finanziell.

Privatunternehmen schliessen sich in der Regel über Branchenverbände an. Dazu zählt etwa die European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations, die es Novartis ermöglicht, am Programm teilzunehmen, obwohl die Schweiz vom Forschungsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union teilweise ausgeschlossen wurde, was vor allem die akademische Welt hart trifft. Darüber hinaus nehmen jetzt auch das European Coordination Committee of the Radiological, Electromedical and Healthcare IT Industry sowie EuropaBio und MedTech Europe an der IHI teil, da das Spektrum der Initiative über die Pharmaunternehmen hinaus erweitert wurde.

«Mit der neuesten Auflage ist die IHI zu einer sektorübergreifenden Kooperationsplattform geworden, die auch Akteure aus dem Bereich der Medizintechnik einschliesst», so Nicolas. «Dies ist eine wichtige Erweiterung, da Unternehmen aus der Diagnostik, aber auch aus dem digitalen Bereich nun intensiver mit traditionellen Pharmaunternehmen zusammenarbeiten können.»

In ihrer jetzigen Form ist die Laufzeit der IHI bis 2032 mit einem Budget von 2,4 Milliarden Euro vorgesehen. Ihr Ziel ist es, «die Gesundheitsforschung und Innovationen für die Patienten und die Gesellschaft nutzbar zu machen und sicherzustellen, dass Europa an der Spitze der interdisziplinären, nachhaltigen und patientenzentrierten Gesundheitsforschung bleibt».

Obwohl ihr Leitbild relativ allgemein gehalten ist, sind die IHI und ihre Vorgängerorga­nisationen akribisch und streng, wenn es um die Bewertung und Wirkungsanalyse ihrer verschiedenen Projekte geht. Jedes einzelne ihrer Projekte wird offengelegt.

Was die konkreten Resultate betrifft, so sind bisher mehr als 500 Assets hervorgegangen, darunter Biomarker und Wirkstoffkandidaten. Ausserdem wurden bisher etwa 7000 Forschungsarbeiten in einigen der weltweit führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht.

Zwar bestehen weiterhin Zweifel an solchen Grossprojekten, doch die allgemeine Meinung des Markts ist positiv, insbesondere seit dem Ausbruch des Coronavirus. Die Gesundheitskrise hat gezeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit ist: Impfstoffe und Medikamente wurden in Rekordzeit entwickelt und bereitgestellt.

Vor diesem Hintergrund sagte Carmine Di Sibio, Chairman und CEO der Unternehmensberatung Ernst & Young, dass die Welt angesichts der Lehren aus der COVID-19-Pandemie die Kooperation begrüssen, ja aktiv vorantreiben sollte. Er bezeichnet sie als «radikale Zusammenarbeit», die auch die Kooperation mit Konkurrenten einschliesst, um grosse Herausforderungen wie den Klimawandel und die soziale Ungerechtigkeit zu bewältigen.

Diese Logik hat die IHI seit ihren Anfängen angetrieben und wird wohl auch in Zukunft ihre wichtigste Triebfeder bleiben. Die Initiative entwickelt sich zu einem immer wichtigeren Innovationsmotor für die Gesundheitsbranche, da alle beteiligten Partner bestrebt sind, ganzheitliche Antworten auf einige der weltweit schwierigsten medizinischen Fragen zu entwickeln. Stephan Korte gibt sich überzeugt, dass «die IHI die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Bereich der biopharmazeutischen Innovationen stärken und Europa als attraktiven Standort für die pharmazeutische Forschungs- und Entwicklungstätigkeit weiter fördern wird».

Gwenaelle Nicolas, Sie gehören zum Führungsteam von Novartis, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei unterstützt, im Rahmen der Innovative Health Initiative (IHI) und ihrer Vorgängerorganisationen wie der Innovative Medicines Initiative (IMI) Projekte zu lancieren. Wie kam es dazu?

Ich begann als Expertin für translationale Medizin im Bereich der Neurowissenschaften an IMI-Projekten zu arbeiten, als ich noch für Unternehmen wie Roche und Boehringer Ingelheim in der Forschung tätig war. Es war eine faszinierende Zeit, in der ich mein wissenschaftliches Fachwissen vertiefte, aber auch viel über die Bedeutung der Zusammenarbeit erfuhr und überdies die Herausforderungen und Möglichkeiten beim Aufbau von Kooperationsstrukturen und Teams kennenlernte. Als ich zu Novartis kam, fragte mich Salah-Dine Chibout, ob ich bereit sei, Wissenschaftler zu unterstützen, die sich an IMI-Projekten beteiligen wollten. Chibout war zusammen mit Stephan Korte schon seit Jahren in diesem Bereich aktiv und brauchte Unterstützung. Also trat ich dem Team bei.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?

In der Regel kommen Wissenschaftler mit einer Projektidee zu mir, für die sie externe Partner benötigen – sei es finanzielle Unterstützung, wissenschaftliches oder aufsichtsrechtliches Fachwissen und vieles andere mehr. Meine Aufgabe ist es dann, mit anderen Pharmaunternehmen Kontakt aufzunehmen und in Erfahrung zu bringen, ob Interesse an einer solchen Kooperation besteht und ob potenzielle Partner bereit wären, Arbeit und Ressourcen in ein bestimmtes Programm zu investieren.

Um welche Art von Projekten handelt es sich?

Dies können im Grunde Projekte jeglicher Art sein. Es kann sich um Arzneimittelentwicklungsprojekte in der Frühphase, Programme zur Identifizierung von Zielmolekülen oder die Festlegung spezifischer klinischer Endpunkte handeln. Ausserdem gibt es Projekte, die einen viel breiteren Rahmen abdecken. Seit der Gründung der IHI und ihrer Vorgängerorganisation IMI hat sich Novartis an 77 Konsortien beteiligt, die insgesamt mehr als 400 Partner umfassten. Insgesamt haben wir 22 Projekte geleitet.

Welchen Umfang hat diese öffentlich-private Partnerschaft?

Während der als IMI bezeichneten Projektphase von 2008 bis 2020 belief sich das Gesamtbudget auf über fünf Milliarden Euro. Novartis steuerte rund 160 Millionen Euro zu den Projekten bei, an denen wir beteiligt waren – das sind mehr als 6 Prozent der von Pharmaunternehmen stammenden Gesamtmittel. Dies spiegelt unsere aktive Teilnahme an diesem Programm und die Stärke unserer Unterstützung für die branchenübergreifende Zusammenarbeit wider.

Wer spielt hier noch mit?

Während der IMI-Projektphase waren 39 Patientenorganisationen, 19 Aufsichtsbehörden, 120 Pharmaunternehmen, 312 Hochschuleinrichtungen und 280 kleine und mittelständische Unternehmen am Programm beteiligt. Rund 10000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahmen an diesen Projekten teil. Ein wichtiger Punkt ist, dass etwa 60 Prozent der Projekte unter Einbeziehung von Patienten durchgeführt wurden.

Was sind die Aufgabenbereiche der IHI?

Das Nachfolgeprogramm IHI ist erst vor Kurzem angelaufen und verfügt über ein voraussichtliches Budget von rund 2,4 Milliarden Euro. Der Aktionsradius ist jedoch grösser, da auch Akteure aus der Medizintechnik und dem digitalen Bereich einbezogen werden. Dies ist eine sehr wichtige Erweiterung, da es viele innovative Ideen aus dem Daten- und Digitalbereich gibt, die das Potenzial besitzen, komplexe Abläufe in der Pharmaindustrie zu vereinfachen und zu rationalisieren.

Kann sich Novartis an IHI-Projekten betei­ligen, nachdem die Schweiz aus Horizon Europe ausgeschlossen wurde?

Ja. Obwohl die Schweiz ebenso wie Gross­britannien jetzt den Status eines Drittstaates hat, können Unternehmen wie Novartis sich an allen Projekten beteiligen und sogar leiten. Allerdings gibt es einige Beschränkungen hinsichtlich der Höhe der Sachleistungen von Unternehmen aus Nicht-EU-Ländern, die für einen Ausgleich durch die Europäische Kommission in Frage kommen.

Wird dies die Attraktivität von Novartis als Projektpartner verringern?

Bislang können wir das nicht erkennen. Wir haben zahlreiche Projekte in der Pipeline. Es wäre jedoch sehr zu begrüssen, wenn die Schweiz wieder am Horizon-Programm teilnehmen könnte, das vor allem für die Wissenschaftler des Landes aus dem Hochschulbereich wichtig ist. Diese trifft es mitunter hart. Da die Schweiz nun ein nicht-assoziiertes Drittland in den Förderprogrammen von Horizon Europe ist, wird dies die Teilnahme von Schweizer Forschern an diesen Projekten stark einschränken und die Attraktivität der Schweizer Hochschulen als Forschungspartner deutlich verringern. Dies ist eine «lose-lose» Situation, die behoben werden muss.

Wann benötigen Wissenschaftler Ihre Unterstützung?

In der Regel wenden sie sich an uns, wenn sie Projekte planen, die zu umfangreich oder zu komplex sind, als dass Novartis sie allein durchführen könnte, oder die für die gesamte Branche von Nutzen sein könnten. Ein Beispiel hierfür ist PharmaLedger, ein Projekt, das wirklich sektorübergreifend ist, da es nicht nur andere Pharmaunternehmen, sondern auch Unternehmen aus dem Technologiesektor einschliesst.

Können Sie uns mehr dazu sagen?

Das Projekt konzentriert sich auf die Blockchain-Technologie, die heute in vielen anderen Branchen wie etwa dem Finanzwesen eingesetzt wird, wo sie das Rückgrat digitaler Währungen wie Bitcoin bildet. Unsere Kolleginnen und Kollegen hatten die Vision, diese Technologie für die Lieferketten und im Bereich klinischer Studien einzusetzen. Sie überlegten, wie sich die Technologie für die gesamte Pharmabranche nutzbringend einsetzen liesse. Viele Unternehmen zeigten Interesse; PharmaLedger hat sich seitdem zu einem riesigen Projekt entwickelt. Zu den Ideen, die sie untersuchten, zählte die Erarbeitung von Lösungen zur Abschaffung der Beipackzettel aus Papier und zur sicheren Produktkennzeichnung, um das Fälschungsrisiko zu verringern.

Was ist bisher dabei herausgekommen?

Das Projekt hat in den genannten Bereichen erhebliche Fortschritte erzielt und könnte grosse Einsparungen bringen, wenn die Zulassungsbehörden die heute noch vorgeschriebenen Beipackzettel aus Papier abschaffen würden. Das Projekt ist jedoch auf drei Jahre befristet und endet im Dezember 2022. Das Team will das Projekt allerdings weiterführen und arbeitet an der Gründung eines Vereins mit Sitz in der Schweiz. Dies beweist nicht nur das Engagement des Teams, sondern auch die Tatsache, dass wir an wirklich nachhaltigen, langfristigen Projekten arbeiten.

Können Sie weitere Beispiele nennen, die eine ähnliche Wirkung erzielt haben?

Mit dem Projekt WEB-RADR konnten wir eine App entwickeln, die es Patienten ermöglicht, Nebenwirkungen von Medikamenten zu melden. Nicht zuletzt war die Industrie damit von der Verpflichtung befreit, die sozialen Medien aktiv nach solchen Meldungen zu durchforsten. In einem anderen Fall hat die Europäische Arzneimittelagentur neue klinische Endpunkte für Sarkopenie validiert. Ausserdem haben wir von den europäischen und US-amerikanischen Zulassungsbehörden Unterstützung für die weitere Evaluierung von Sicherheits-Biomarkern für Leber-, Nieren- und Gefässschäden erhalten.

Hätte Novartis dies nicht auch selbst tun können?

Vielleicht. Doch nicht auf so kostengünstige und zeitsparende Weise. Öffentlich-private Partnerschaften sind eine hervorragende Chance für Pharmaunternehmen, Ressourcen zu bündeln und in einem vorwettbewerblichen Umfeld zu arbeiten, in dem alle Akteure mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Durch die Bündelung von Ressourcen und Fachwissen haben wir eine bessere Chance, einige der grössten Herausforderungen zu bewältigen.

In welchem Bereich möchten Sie als Nächstes etwas bewirken?

Wie bereits gesagt, wird die IHI ein breiteres Spektrum abdecken und kann zu vielen positiven Überraschungen führen. Künftige IHI-Projekte werden derzeit erörtert. Novartis ist federführend in der Diskussion darüber, wie man gesundheitliche Ungleichheiten durch integrative klinische Studien angehen kann. Im Rahmen dieses Projekts planen die Wissenschaftler, neue Technologien und Ansätze in klinischen Studien zu erproben und die Aufnahme unterversorgter Patientengruppen zu beschleunigen. Darüber hinaus werden wir auch daran arbeiten, neue Protokolle zu definieren, die für die Patienten letztlich den Zugang zu den Studien wesentlich erleichtern. Es wird eine schwere Aufgabe sein, doch sie ist es wert, unter dem Dach der IHI durchgeführt zu werden. Genau für solche Projekte wurde die IHI geschaffen, und wir müssen sie im Interesse der Patienten und der Medizin nutzen.

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