Die Grenzen der Philanthropie
Streben nach Nachhaltigkeit
Prinzipien im Wandel
Illustration von Fahrradfahrer mitten in Kenias Natur.
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Mit Konventionen brechen

Novartis hat bereits viel für einen verbesserten Zugang zur Gesundheitsversorgung geleistet. Das Unternehmen begann schon vor über 50 Jahren damit, Projekte für wohltätige Zwecke zu unterstützen. Seither wurden die entsprechenden Aktivitäten ständig ausgeweitet und in jüngster Zeit ins klassische Geschäftsmodell des Unternehmens integriert.

Text von Goran Mijuk, Illustrationen von Haley Tippmann

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Vor über 50 Jahren eröffnete J. R. Geigy in Tansania ein Ausbildungszentrum für medizinisches Fachpersonal. Inzwischen hat sich das Zentrum zu einer der wichtigsten Ausbildungsstätten Ostafrikas entwickelt.

Vor über 50 Jahren eröffnete J. R. Geigy in Tansania ein Ausbildungszentrum für medizinisches Fachpersonal. Inzwischen hat sich das Zentrum zu einer der wichtigsten Ausbildungsstätten Ostafrikas entwickelt.

Am Anfang war die Wohltätigkeit.

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Publiziert am 07/07/2020

Als Lutz Hegemann 2011 die Leitung der Novartis-Einheit Established Medicines übernahm, zu deren Aufgaben der Verkauf bereits seit Längerem im Markt verfügbarer verschreibungspflichtiger Medikamente zählte, war der erfahrene Wissenschaftler bereit, den Weg für eine ganz neue Strategie freizumachen.

«Als ich die Stelle bekam, stand ich vor der Wahl: Sollen wir alles beim Alten lassen oder dafür sorgen, dass diese sehr wertvollen Medikamente auch in Regionen erhältlich sind, die noch nicht davon profitieren?» Hegemann erinnert sich: «Wir wollten Ländern, in denen diese Medikamente noch als sehr innovativ und wertvoll für das Gesundheitssystem gelten, Innovationen anbieten.»

Hegemann ist Arzt und promovierte in Molekularpharmakologie. Während seiner beruflichen Laufbahn konzentrierte er sich unter anderem auf Infektionskrankheiten wie Lepra. Er war sich des grossen medizinischen Bedarfs in Regionen wie Afrika und Asien nur allzu bewusst. Bestimmte Medikamente, für die er in seiner neuen Position zuständig war – etwa Präparate gegen Herzerkrankungen, Diabetes und Krebserkrankungen –, hatten seiner Ansicht nach das Potenzial, sich als Segen für die Gesundheitssysteme in unterversorgten Regionen zu erweisen. 

Die Idee klingt zwar einfach, ihre Umsetzung war es aber keineswegs. Neben organisatorischen Herausforderungen wie beispielsweise aufsichtsrecht-lichen und Preisgestaltungsfragen stellte sich die Unternehmenskultur als eine der grössten Hürden heraus: Hegemanns Idee stand der herkömmlichen Auffassung im Unternehmen entgegen, dass das Geschäftliche klar von den Bemühungen für einen verbesserten Zugang zur Gesundheitsversorgung zu trennen sei. Doch die Zeiten änderten sich – zu seinen Gunsten.

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Lange Zeit sahen Ökonomen wohltätige Ansätze als einzige Möglichkeit, um die Not der Menschen am unteren Ende der Einkommenspyramide zu lindern. Das änderte sich erst durch den Ökonomen C. K. Prahalad. Seine Denkanstösse waren Vorbild für das Programm Arogya Parivar.

Lange Zeit sahen Ökonomen wohltätige Ansätze als einzige Möglichkeit, um die Not der Menschen am unteren Ende der Einkommenspyramide zu lindern. Das änderte sich erst durch den Ökonomen C. K. Prahalad. Seine Denkanstösse waren Vorbild für das Programm Arogya Parivar.

Arogya Parivar.

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Die Gren­zen der Phil­an­thro­pie

Zum Zeitpunkt, als Hegemann darüber nachzudenken begann, das Leistungsspektrum seiner Einheit auszuweiten, wurden Projekte für einen verbesserten Zugang zur medizinischen Versorgung in der Branche vor allem durch Spenden finanziert. Es wurde jedoch immer deutlicher, dass Spenden allein nicht ausreichen, um die immense Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in vielen Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu decken.

Auch bei Novartis war man sich dieses Problems bewusst. Die entsprechenden Aktivitäten des Unternehmens reichen bis in die 1960er-Jahre zurück, als das Vorgängerunternehmen J.R. Geigy ein Ausbildungszentrum für medizinisches Fachpersonal in Tansania eröffnete. In den vergangenen 50 Jahren hat Novartis zahlreiche philanthropische Projekte realisiert, darunter ein Medikamentenspendenprogramm zur Bekämpfung der Lepra, das noch heute läuft. Man begann aber auch damit, neue Wege zu gehen, als man im Unternehmen feststellte, dass bestimmte Zugangsprogramme ausgebaut werden mussten.

2001 startete Novartis zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Malaria-Initiative, um notleidenden Patientinnen und Patienten das neu entwickelte Medikament Coartem® zum Selbstkostenpreis bereitzustellen. Anstatt sich nur auf Spenden zu verlassen, verkaufte das Unternehmen das Medikament zum Herstellungspreis, um die Produktion zu steigern und möglichst viele Patienten zu erreichen. Das Konzept erwies sich als tragfähig.

Bis 2020 hat Novartis notleidenden Patienten rund 900 Millionen Packungen des Medikaments bereitgestellt und so die Vereinten Nationen (UN) in ihren Bemühungen zur Bekämpfung der Malaria unterstützt. 

Durch den Erfolg der Malaria-Initiative sah man sich ermutigt, über andere Finanzierungsformen nachzudenken. Inspiriert durch den renommierten, mittlerweile verstorbenen indischen Wirtschaftswissenschaftler C. K. Prahalad, der bei seinen Forschungen die Möglichkeiten zur Deckung des wirtschaftlichen Bedarfs armer Menschen untersuchte, begann man 2007 damit, ein Sozialunternehmen in Indien zu starten. 

Das Arogya Parivar (Hindi für «gesunde Familie») genannte Projekt zeichnet sich durch sein innovatives Konzept aus: Es stellt der Landbevölkerung in Indien wichtige Medikamente zu erschwinglichen Preisen bereit, leistet gesundheitliche Aufklärung und führt Screening-Kampagnen durch. Das Projektteam setzte sich aber auch zum Ziel, dieses Projekt auf finanziell tragfähige Weise zu betreiben – eine Idee, die zuvor im Gesundheitswesen kaum existierte.

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Ende der 1990er-Jahre forderte die Malaria jedes Jahr fast 1 Million Menschenleben. Die Malaria-Initiative von Novartis sollte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) helfen, diese Geissel der Menschheit auszumerzen.

Stre­ben nach Nach­hal­tig­keit

Das Projekt Arogya Parivar wurde anfangs mit Skepsis betrachtet und musste einige Herausforderungen bewältigen. Dennoch erwies es sich letztlich als erfolgreich. Es wurde sogar vom Shared-Value-Pionier Michael M. Porter gelobt. Der einflussreiche Ökonom bezeichnete das Projekt als Paradebeispiel für Geschäftsmodelle, die «wirtschaftliche Wertschöpfung generieren und dabei gleichzeitig Mehrwert für die Gesellschaft bieten, indem sie sich deren Bedürfnissen und Herausforderungen stellen.»

Arogya Parivar gelang nicht nur ein erfolgreicher Start. Innerhalb weniger Jahre arbeitete das Unternehmen mit Gewinn und diente Kolleginnen und Kollegen von Novartis in Kenia, Vietnam und Indonesien als Inspiration, vergleichbare Projekte durchzuführen – mit ähnlichem Erfolg.

Ein paar Jahre später beschäftigte man sich bei Novartis auch mit der Idee, ein grösseres Programm für nicht übertragbare Erkrankungen zu lancieren. Im Zentrum des Projekts Novartis Access steht die Behandlung chronischer Erkrankungen, die in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen auf dem Vormarsch sind. Im Rahmen des Projekts werden 15 patentgeschützte Medikamente sowie Generika zu einem Preis von 1 US-Dollar pro Behandlung und Monat angeboten, sodass die Patienten Zugang zu Arzneimitteln, etwa gegen Krebserkrankungen oder Diabetes, erhalten.

All diese neuen Programme, die in der Regel auch Aspekte der gesundheitlichen Aufklärung berücksichtigen, haben seither Millionen von Patienten den Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht. Somit unterstützen sie das Ziel der Vereinten Nationen, eine universelle Gesundheitsversorgung zu erreichen. Dabei handelt es sich um eines der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, die auch Novartis uneingeschränkt unterstützt.

Lokale Marken schaffen

Doch selbst als die neuen Programme an Dynamik zulegten und zeigten, dass eine nachhaltige finanzielle Basis für Zugangsprojekte auch ohne Spenden geschaffen werden kann, mutete Hegemanns Idee weiterhin ungewöhnlich an, weil er versuchte, das Problem des mangelnden Zugangs auf unternehmerische Art und Weise zu lösen. 

Dies änderte sich jedoch, als Kolleginnen und Kollegen in Indien, wo die Patienten Medikamente üblicherweise aus eigener Tasche bezahlen müssen, die Idee hatten, ein innovatives Augenmedikament den Anforderung des indischen Markts anzupassen. «Damit wurde die Idee lokaler Marken Realität. Dies stellte bei der Entwicklung einer ganzheitlichen Strategie für eine universelle Gesundheitsversorgung einen grossen Schritt nach vorn dar», erinnert sich Hegemann. 

Durch eine Preissenkung und eine vereinfachte Anwendung des Augenmedikaments konnte das Team die Zahl der Verschreibungen steigern und die Compliance verbessern. Auf diese Weise konnte der Zugang zu einem innovativen Medikament eröffnet und gleichzeitig das Gesundheitssystem darin unterstützt werden, dem Anstieg altersbedingter Augenerkrankungen entgegenzuwirken.

«Dies war ein echter Wendepunkt, denn das Team bewies, dass durch die Anpassung eines innovativen Produkts an die Anforderungen des Marktes geschäftlichen Belangen Rechnung getragen und gleichzeitig eine Stärkung der Gesundheitssysteme erreicht werden kann», so Hegemann.

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Novartis Access zählte zu den ersten weltweiten Programmen, die die zunehmenden Herausforderungen durch nicht übertragbare Krankheiten in Entwicklungsländern bewältigen sollten. Seit 2015 hat Novartis mehr als 3 Millionen Patienten Medikamente gegen chronische Leiden bereitgestellt.

Prin­zi­pi­en im Wan­del

Einige Monate nach dem Projektstart im Jahr 2013 brachte Novartis lokale Marken von innovativen Medikamenten in Ländern wie Bangladesch, Indonesien, Pakistan und Vietnam auf den Markt. So erhielten die Patienten Zugang zu Medikamenten gegen Krebs, Herzleiden, Asthma und weitere Erkrankungen. 

Auf diese Weise konnte der Zugang zu neuen Medikamenten verbessert werden, die in der Vergangenheit für die meisten Patienten unerreichbar waren – entweder aufgrund der zu hohen Kosten oder weil die betreffenden Medikamente in diesen Ländern überhaupt nicht zugelassen waren.

Hegemanns Idee legte im Laufe der Jahre an Dynamik zu. Einen weiteren Schub erhielt sie 2018, als Vas Narasimhan CEO von Novartis wurde. 

Anstatt wie bisher voneinander losgelöste Zugangsprogramme zu verfolgen, entwickelte Narasimhan Leitlinien für den Gesamtkonzern, die als Richtschnur für eine ganzheitliche Herangehensweise dienen sollen. Dies betrifft bereits den Forschungs- und Entwicklungsbereich und reicht hin bis zum Umgang mit Herausforderungen wie der Bezahlbarkeit von Medikamenten und der Stärkung der Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern. 

«Erst mit der Einführung dieser Leitlinien waren wir in der Lage, unsere Bemühungen effizient zu koordinieren», so Hegemann, der als Chief Operating Officer der neuen Unternehmenseinheit Global Health 2018 die Leitung der gesamten Unternehmensaktivitäten für einen verbesserten Zugang zu medizinischer Versorgung übernahm. «Damit hatten wir die Möglichkeit, unsere Anstrengungen in eine klar definierte Richtung weiterzuentwickeln und den Zugang in den Mittelpunkt des Unternehmens zu stellen, statt diesen Aspekt nach dem herkömmlichen Prozess der Medikamentenentwicklung und -vermarktung als nachrangiges Ziel zu betrachten.»

Hegemann räumt ein, dass die Umsetzung alles andere als einfach ist. Dies gilt insbesondere in der Forschung und Entwicklung, da die infrage kommenden Wirkstoffe weiteren Tests unterzogen werden müssen, beispielsweise um ihre Eignung in tropischen Regionen zu prüfen. Novartis hat bei den Bemühungen zur Verbesserung des Zugangs jedoch schon grosse Fortschritte erzielt. 

Das Unternehmen konnte in den vergangenen Jahren nicht nur Dutzende lokaler Marken einführen. Es gelang auch, die Zulassungsverfahren in Entwicklungsländern, die früher Jahre dauerten, auf einige Monate zu verkürzen. 

«Das ist ein Riesenschritt nach vorn», so Hegemann. «Diese Fortschritte sind das Ergebnis eines Wandels in der Unternehmenskultur: Wir differenzieren nicht mehr zwischen betriebswirtschaftlichen Aspekten und Patientenpopulationen. Vielmehr verfolgen wir eine ganzheitliche Strategie, bei der die Realitäten der Gesundheitsfürsorge und die betriebswirtschaftlichen Fakten über die gesamte Einkommenspyramide hinweg berücksichtigt werden. Es bleibt noch viel zu tun, insbesondere um die Gesundheitssysteme zu stärken. Doch mit unserer neuen Strategie sind wir auf dem richtigen Weg.»

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