Live. Magazine

Stärkung des Gesundheitssystems
Ein erfolgreiches Vorhaben.

Sozialmedizin umsetzen

Die Wiederbelebung der West Side von Chicago mag eine edle Vision sein. Doch zum Umsetzen von Sozialmedizin braucht es Geschäftssinn und Fingerspitzengefühl.

Text von Goran Mijuk, Fotos von Ashley Gilbertson und Laurids Jensen, Videos von Elia Lyssy und Laurids Jensen, graphisches Design von Regina Dziallas.

Der Besuch der 4100 Fillmore Street gleicht einer Reise in die Zukunft. Die Strasse steht in krassem Kontrast zu den vielen verfallenen Häusern und Strassen im Viertel mit seinen Spirituosenläden, Fast-Food-Ketten und baufälligen Wohnhäusern und wirkt wie erlebbare Sozialmedizin.

Ein Wandgemälde in der West Side von Chicago zeigt ein Schussopfer: Der Junge wurde im Alter von 19 Jahren getötet.
4100 Fillmore Street.

Ein Wandgemälde in der West Side von Chicago zeigt ein Schussopfer: Der Junge wurde im Alter von 19 Jahren getötet.

4100 Fillmore Street ist eine andere Welt: Neue Gehwege, ein blühendes Unternehmen und viele Arbeitskräfte prägen das Viertel. Fillmore Linen Service werden bald weitere Unternehmen folgen.

In der Strasse herrscht rege Geschäftigkeit: Wir werden von Strassenarbeitern begrüsst, die einen neuen Parkplatz asphaltieren und den Asphalt vor einem sanierten, über 100 Jahre alten Fabrikgebäude aus rotem Backstein ausbessern, in dem heute Fillmore Linen Service untergebracht ist, eine Wäscherei auf 45 000 Quadratmetern.

Daneben wird ein Gebäude ähnlicher Grösse für neue Mieter vorbereitet, die hier demnächst ihre Geschäfte eröffnen, unweit des alten Sears Tower, des ehemaligen Geschäftszentrums von Chicago, das David Ansell vom Rush University System for Health zusammen mit lokalen und internationalen Partnern wiederbeleben will.

Ansells sozialmedizinische Vision ist, der verarmten West Side von Chicago dabei zu helfen, das Lebenserwartungsgefälle gegenüber dem Stadtzentrum auszugleichen. Der Unterschied macht heute unglaubliche 16 Jahre aus. Verbessert werden sollen nicht nur die medizinische Versorgung und der Zugang zu ihr, sondern auch die Geschäftsaussichten in der Region.

Erst der Anfang

Es ist eine Herkulesaufgabe, denn der grösste Teil der Chicagoer West Side befindet sich in einer Abwärtsspirale, seit der Einzelhandelsriese Sears in den 1970er-Jahren ins Stadtzentrum zog und Ende der 1980er-Jahre seine Geschäftstätigkeit hier vollständig einstellte, mehr als 20 000 Arbeitsplätze mitnahm und das Gebiet seiner Geschäfts- und Zukunftsaussichten beraubte.

Die Investition in Fillmore Linen Service in der Höhe von 40 Millionen US-Dollar war nur möglich, weil Ansell die Geschäftsleitung und den Vorstand des Rush davon überzeugen konnte, die Wäsche hier statt in Wisconsin oder Indiana waschen zu lassen und so jährlich etwa 700 000 US-Dollar einzusparen.

Mitarbeitende waschen und bereiten die Wäsche für das Rush Hospital vor.

Weil sich auch das Lurie Children’s Hospital beteiligte, konnte Fillmore mehr als 100 Bewohner der West Side einstellen. Sie haben jetzt nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch eine Krankenversicherung, unterstreicht der Branchenveteran und Chief Operating Officer Craig Forgea, der das Unternehmen mit aufgebaut hat.

«Wir sind definitiv eines der wenigen Unternehmen, die in den letzten 30 Jahren in diesem Teil der Stadt oder in North Lawndale ein Geschäft eröffnet haben», sagt Forgea. «Das ist etwas, was die Menschen hier wirklich brauchten. Dadurch haben wir eine grössere Chance, zum gesellschaftlichen Aufschwung beizutragen.»

Craig Forgea, Chief Operating Officer von Fillmore Linen Service, weiss, wie sehr die Bewohner der West Side von Chicago von der Präsenz des Unternehmens profitieren.

Forgea hat noch mehr vor, da weitere Spitäler die Dienste von Fillmore in Anspruch nehmen wollen: «Wir schauen uns einen weiteren Standort in etwa drei Kilometern Entfernung an, um eine zweite Anlage zu errichten. So können wir hier sinnvolle Veränderungen anstossen.»

Aber er ist sich der grossen Herausforderung bewusst und darüber im Klaren, dass sich weitere Unternehmen anschliessen müssen, um etwas zu bewirken. «Vor uns liegt noch ein langer Weg, aber der Anfang ist gemacht, wir sind in der Lage, unser Ziel zu erreichen, und hoffen, dass die Menschen unsere Arbeit sehen und sich entschliessen, in North Lawndale zu investieren, um gemeinsam mit uns nachhaltige Veränderungen herbeizuführen», ergänzt Forgea.

Mit Begeisterung lernen

Ronald Miller ist einer der 100 neuen Mitarbeitenden des Unternehmens, das kürzlich wegen der Wäscherei in die West Side gezogen ist. «Ich habe am 20. Mai bei Fillmore angefangen, bis jetzt war es eine grossartige Erfahrung. Fillmore hat dem Viertel tolle Arbeitsplätze beschert und das Team hier ist fantastisch. Ein sehr positives Umfeld, in dem ich sehr gerne arbeite.»

Ronald Miller hatte jahrelang gehofft, ein Unternehmen eröffne in seinem Viertel eines Tages ein Geschäft.

Er sieht, dass sich etwas ändern kann: «Ich hoffe wirklich, dass noch mehr Unternehmen wie dieses in unser Viertel kommen. Ich bin optimistisch, dass sich weitere Unternehmen hier niederlassen, damit wir unsere Dienstleistungen und die Gemeinschaft als Ganzes weiter verbessern können.»

Fillmore seinerseits hofft, mehr als 250 Arbeitsplätze zu schaffen und 9 Millionen US-Dollar zur lokalen Wirtschaft beizutragen, wobei nicht zuletzt in lokales Personal investiert wird, sagt Ivette Jones, die neue Mitarbeitende schult, damit sie das Ziel der Wäscherei, jedes Jahr bis zu 15 Millionen Kilo Wäsche zu reinigen, mittragen.

«Wir bieten eine mehrwöchige Schulung, damit unsere Mitarbeitenden alle Facetten des Handwerks erlernen und die Wäsche dann richtig waschen und falten», sagt sie. «Viele arbeiten das erste Mal in einer Wäscherei. Aber sie lernen mit Begeisterung.»

Die Mitarbeitenden falten die Wäsche, bevor sie mit der Mangel geglättet wird.

Die Mitarbeitenden falten die Wäsche.

Jede Mitarbeitende bearbeitet täglich mehrere Tonnen Wäsche.

Jede Mitarbeitende bearbeitet täglich mehrere Tonnen Wäsche.

Fillmore Linen Service ist eine der modernsten Wäschereien der Stadt.

Fillmore Linen Service ist eine der modernsten Wäschereien der Stadt.

Paradigmenwechsel

Für Ansell ist der Wäscheservice erst der Anfang seines sozialmedizinischen Projekts. Er sagt, West Side United habe dank der Unternehmensinvestition in den letzten Jahren trotz der Coronapandemie rund zehn ähnliche Engagements dazugewonnen.

Diese Bemühungen haben auch eine tiefere philosophische Komponente, sagt Ansell und verweist auf den Philosophen Thomas Kuhn, der in seinem Werk The Structure of Scientific Revolutions den Begriff des Paradigmenwechsels einführt und untersucht, wie sich Ideen im Laufe der Zeit systematisch verändern.

«Der aktuelle Ansatz ist nicht sinnvoll. Wir müssen umdenken.»

David Ansell, Rush University System for Health

David Ansell, Rush University System for Health

«Wir stehen heute vor dem Problem, dass all das Geld, das in das Gesundheitswesen fliesst, nicht die Kernprobleme angeht», erläutert Ansell. «Der aktuelle Ansatz ist nicht sinnvoll. Wir müssen umdenken.»

Für ihn sind Themen wie Rassismus, wirtschaftliche Not und Kapitalabbau der Kern des Problems. «Diese Probleme lassen sich nicht mit Ärzten und Spitälern allein lösen. Es braucht Lösungen, die darüber hinausgehen, etwa das Bereitstellen grundlegender Dienstleistungen wie des Wäscheservices. Das ist der Wandel, den wir vollziehen müssen», fügt er hinzu.

Lebensmittel für die Gesundheit

Nach dem Wäscheservice will Ansell nun Spitäler davon überzeugen, ihren Lebensmittelbedarf an lokale Lieferanten auszulagern. Um ein Umdenken zu bewirken und einen echten Paradigmenwechsel herbeizuführen, muss allerdings noch mehr getan werden.

«In Chicago haben etwa hundert Unternehmen, darunter auch Spitäler, diese Art der Arbeit eingeführt. Andere haben jedoch aufgrund der damit verbundenen Risiken, die zum Teil auf gesellschaftliche Themen wie Rassismus zurückzuführen sind, nur langsam ähnliche Initiativen ergriffen», sagt er.

Es wurden aber einige Fortschritte erzielt, etwa die Einrichtung lokaler Call-Center. Doch es müssen sich noch mehr Unternehmen engagieren. «Wir müssen den Führungskräften zeigen, dass Initiativen wie die Wäscherei sowohl sozial wirksam als auch wirtschaftlich tragfähig sein können», schliesst er.

Das Fillmore-Team in der Tagschicht anlässlich unseres Besuchs.

Das Fillmore-Team.

Der Unternehmergeist in der 4100 Fillmore Street kann bestimmt dazu beitragen, neue Investitionen anzuziehen. Ein kurzer Spaziergang durch die Strasse mit ihrer lockeren Arbeitsatmosphäre dürfte mithelfen, die Geschäftsleute zu überzeugen.

Lesen Sie die gesamt Story-Serie

Stärkung des Gesundheitssystems

Prolog: Sieben Stationen mit der Blue Line

Eine Reise durch Raum und Zeit.
→  Story lesen

1. Die zwei Türme

Wachsende Türme, schrumpfender Wohlstand.
→  Story lesen

2. Das Potenzial erkennen

Chicago aus Sicht der Wirtschaftsentwicklung.
→  Story lesen

3. Ein beinahe tödlicher Schuss

Der Augenblick der Markus Kelleys Leben verändert.
→  Story lesen

4. Ich bin eine von Ihnen

Empathie als Ausweg aus der Krise.
→  Story lesen

5. Mehr als nur Baseball

Gemeinschaft im besten Sinne.
→  Story anhören

Sie sind hier

6. Sozialmedizin umsetzen

Gesundheitsversorgung beginnt in der Wirtschaft.

Als nächstes lesen

7. Zusammenarbeit

Daten können Leben retten.
→  Story lesen

8. Zurück auf der Bühne

Das Wiederaufleben von Guitar Mike.
→  Story lesen

Epilog: Eine Erfolgsmeldung

E3 ist bereit Chicago zu verändern.
→  Story lesen