Fitness für Mensch und Maschine
Dragiermeister und Co.
Der Scanner ersetzt den Stift
Und was bringt die Zukunft?
content-image
Wissenschaft
00

Vom Papierberg zur Datenwolke

Seit mehr als 60 Jahren werden in Stein pharmazeutische Produkte hergestellt. Damit der Standort auch künftig konkurrenzfähig bleibt, werden Anlagen und Prozesse ständig weiterentwickelt. Für die Mitarbeitenden birgt diese Kultur des permanenten Wandels neue Chancen, aber auch Herausforderungen.

Text von Michael Mildner, Fotos von Björn Myhre

scroll-down
Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon
content-image
Enter fullscreen

Herstellung fester Darreichungsformen im Hochschermischer und im Wirbelschichttrockner im WST-222.

arrow-rightFitness für Mensch und Maschine
arrow-rightDragiermeister und Co.
arrow-rightDer Scanner ersetzt den Stift
arrow-rightUnd was bringt die Zukunft?

Publiziert am 24/07/2023

Der Einstieg bei Ciba-Geigy war gleichzeitig ein Abstieg für Monika Stocker, wenn auch nur geografisch. Im Winter 1986/87 hatte sie noch hoch oben in den Flimser Bergen als Serviceangestellte gearbeitet, immer an der frischen Luft und ständig auf den Beinen. Wieder zurück im Flachland sass sie dann acht Stunden am Tag im fensterlosen Untergeschoss des Baus 110 im Werk Stein, wo rund 50 Frauen Ampullen kontrollierten.

«Das mache ich höchstens ein halbes Jahr», sagte sie am Abend nach dem ersten Arbeitstag. «Immer nur sitzen, das halte ich nicht aus.» Auch im Betrieb merkte man schnell, dass Monika Stocker lieber auf den Beinen ist. So kam es, dass sie bereits nach zwei Monaten in die Reinraum-Abfüllung der Kontaktlinsenpflegemittel wechseln konnte, und zwei Jahre später gelang ihr dann auch der Aufstieg in den ersten Stock, wo die Abfüllanlagen für Ampullen stehen. Nach einigen betriebsinternen Kursen und Aufgaben in verschiedensten Bereichen arbeitete Monika Stocker schliesslich bis zu ihrer Pensionierung 2021 im Büro.

War früher alles besser?

Auf ihren reichen Erfahrungsschatz aus diesen mehr als 30 Jahren im Werk Stein angesprochen, gibt sie gerne Auskunft. Ob es früher besser gewesen sei als heute, weniger stressig? «Nein, besser würde ich nicht sagen. Ich habe in meiner Zeit bei den Steriles, wo vor allem Ampullen, Injektionsfläschchen und Fertigspritzen hergestellt werden, spannende, aber auch schwierige Situationen erlebt. Vielleicht war die Kameradschaft früher etwas enger, mit mehr Feiern und Anlässen ausserhalb der Arbeit, aber dafür hat die physische Belastung am Arbeitsplatz abgenommen, es wurde ja viel automatisiert.»

Stark verändert hätten sich die erhöhten Anforderungen an die Dokumentation und die Sicherheit, erzählt Monika Stocker. «Wo früher nur ein paar Seiten zur Protokollierung der Prozesse genügten, stapelten sich später oft Papierberge neben den Anlagen. Und bei der Sicherheit der Mitarbeitenden gab es ebenfalls spürbare Veränderungen.»

Monika Stocker hat Fotos aus den 1980er- und 1990er-Jahren mitgebracht. Da sitzen drei Arbeitskolleginnen in ihrer Schutzbekleidung zusammen und lächeln in die Kamera. «Die Häubchen haben wir damals auch zur Dekoration getragen», ergänzt sie, «für uns war es wie ein modisches Accessoire. Heute kommt niemand mehr auf die Idee, dass die Schutzkleidung etwas mit Mode zu tun haben könnte.»

content-image
Enter fullscreen

Herstellung fester Darreichungsformen im Hochschermischer, im Wirbelschichttrockner und in der Siebmaschine im WST-222.

Fit­ness für Mensch und Ma­schi­ne

Auch Imre Bajusz, Manufacturing Unit Head im Bereich Steriles Packaging, hat seit seiner Ausbildung zum Chemieingenieur vor rund 30 Jahren manche Veränderung erlebt. Er erinnert sich noch gut an seine Praktikumszeit bei Sandoz, als den jungen Mitarbeitenden in der Regel wenig zugetraut wurde. «Nach drei Wochen des Zuschauens im Labor konnte ich die erste selbstständige Arbeit, eine Extraktion, durchführen. Ich nahm das Angebot gerne an. Es war allerdings eine leichte Enttäuschung – ich durfte nur den Kaffee für die Arbeitspause extrahieren.»

In seiner gegenwärtigen Funktion erlebt er die stetig steigenden Anforderungen an Qualität und Sicherheit hautnah. Schutzanzüge in allen Varianten sind beim Gang durch die Werkshallen zu sehen, beim Wechseln zwischen den einzelnen Abteilungen wird natürlich auch die Kleidung gewechselt – ein Fitnesstraining, das die Mitarbeitenden mehrmals täglich absolvieren müssen.

Aber auch die Fitness der technischen Anlagen wird permanent getestet. Seit 2011 werden in Stein die in die Jahre gekommenen Steriles-Anlagen kontinuierlich ersetzt. So nahm zum Beispiel die hochmoderne Isolatorlinie zur Abfüllung von lyophilisierten Vials 2015 ihren Betrieb auf, und 2017 wurde das neue Verpackungsgebäude WST-303H eröffnet. In den letzten Jahren wurde auch immer investiert: Kürzlich hat die erste kommerzielle Produktion auf der neuen Linie 14 zur Abfüllung von Fertigspritzen im Gebäude 303 stattgefunden. Im September 2022 wurde eine neue Verpackungslinie für Autoinjektoren für das Gebäude 303H geliefert.

Neben der Technik sieht Bajusz die Veränderungen vor allem im regulatorischen Bereich. Ein Beispiel ist die Rückverfolgbarkeit jeder Packung vom Herstellungsprozess bis in die Apotheke. «Dadurch können wir jetzt auch die Risiken von Medikamentenfälschungen und Parallelimporten reduzieren. Wir haben moderne Track-and-trace-Systeme für unsere Steriles-Anlagen entwickelt, die jede Verpackung mit einem Kryptocode versehen.»

Grosse Chancen erkennt der Produktionsleiter auch in der fortschreitenden Digitalisierung: «Sie erlaubt den Teams, Prozesse zu vereinfachen, während sie dabei von globalen Operation Centers unterstützt werden. Technologisch geht es klar in Richtung mehr Automatisation und Robotisierung.»

content-image
Enter fullscreen

Pumpe für Streichsuspension.

Dra­gier­meis­ter und Co.

Ruth Leu arbeitet zwar erst seit sieben Jahren im Werk Stein, hat aber in ihrer mehr als 30-jährigen Tätigkeit in der Pharmabranche viele Veränderungen miterlebt. In ihrer Funktion als Manufacturing Unit Head Small Molecules leitet sie die Herstellung und Verpackung fester Arzneiformen.

Aus den Gesprächen mit langjährigen Mitarbeitenden konnte sie viel über vergangene Zeiten in ihrem jetzigen Tätigkeitsbereich erfahren – Zeiten, in denen vieles anders, aber nicht immer besser war. Ein Relikt aus längst vergangenen Tagen ist beispielsweise der sogenannte Schneeballtest. Damit wurde von Hand geprüft, ob das Granulat genügend feucht ist und gut zusammenhält. «Heute messen wir zu diesem Zweck die Kraftaufnahme des Rührflügels beim Schnellmischer; diese Messung ist ein absolut zuverlässiges Kriterium für das Beenden des Granulierschrittes», erklärt Ruth Leu.

Auch bei der Herstellung von Dragées waren bis Ende der 1980er-Jahre vor allem Erfahrung und Gefühl notwendig. «Damals schritt der Dragiermeister an einer schier unendlichen Batterie von rotierenden Kupferkesseln entlang, griff nach kurzer visueller Prüfung in das mitgeführte Talk-Aerosil-Gemisch und warf dann aus dem Handgelenk ein, zwei Handvoll des Puders in bestimmte Kessel hinein, wenn dort die Tabletten zu verkleben drohten. Die finale Zusammensetzung liess sich deshalb nur mit theoretischen Werten angeben. Jetzt werden Tabletten mit dünnen Filmen überzogen, deren Zusammensetzung und Menge genau definiert sind», erzählt sie.

Wo in den Anfangszeiten des Werks mehrere Tablettiermaschinen in einem Raum standen, wurde später für jede Maschine eine eigene Kabine gebaut. Die Mitarbeitenden mussten aber auch dann noch von Kabine zu Kabine mit ihren unterschiedlichen Produkten und entsprechendem Kontaminationsrisiko wechseln. «Im neuen Gebäude WST-222 hat jedes Herstellmodul nun eigene, separate Material- und Personenschleusen, und das Umkleide- bzw. Reinigungsprozedere verunmöglicht die Kontamination eines Produktes mit einem anderen.»

content-image
Enter fullscreen

Probeentnahmestutzen für In-Prozess-Kontrollproben während des Filmüberzugs.

Der Scan­ner er­setzt den Stift

Den grössten Fortschritt sieht Ruth Leu allerdings in der Datenerfassung: «Heute ist der Detaillierungsgrad der Vorgaben und der Dokumentation in der Produktion viel grösser als früher, die Herstelldokumente wurden im Lauf der Zeit immer umfangreicher, aktuell sind es 150 bis 250 Seiten pro Charge. Mit dem Umfang stieg allerdings auch die Fehleranfälligkeit in der Dokumentation, die ursprünglich von Hand mit dem Kugelschreiber ausgefüllt wurde. Wenn dann später eine mangelhafte Datenerfassung oder vergessene Unterschriften festgestellt wurden, war das ein enormes Problem.»

Im WST-222 wird jetzt nicht nur ein elektronisches Dokumentationssystem eingesetzt, sondern der ganze Herstellungsprozess läuft komplett papierlos. Das bedeutet, dass auch alle Produktionsmaschinen mit dem elektronischen Dokumentationssystem verbunden sind. Es werden von den Maschinen keine Protokolle mehr ausgedruckt, sondern die Daten werden elektronisch, in der Cloud, gesammelt. Damit sind sie für Analysen zur Problemlösung viel schneller verfügbar, und es ist eine umfassendere Untersuchung möglich.

Auch die Sicherheit hat sich weiter erhöht, erklärt Ruth Leu: «Mit dem elektronischen System zur Dokumentation der Herstellung können keine Unterschriften mehr fehlen oder Schritte übersprungen werden, da das System es gar nicht zulässt. Die qualitätsrelevanten Daten werden mit vorher definierten Sollwerten abgeglichen.» Das System sorgt ebenfalls dafür, dass jederzeit mit den richtigen Prozessparametern gearbeitet wird, da es überprüft, ob tatsächlich das korrekte Rezept auf der Produktionsmaschine geladen ist.

Schritt für Schritt werden so menschliche Intuition und Erfahrung durch Prozessdaten ersetzt. Trotzdem braucht es weiterhin erfahrene und gut ausgebildete Mitarbeitende, die die Produkte und Anlagen sehr gut kennen, damit sie bei auftretenden Schwierigkeiten richtig reagieren können. Auch eine enge Teamarbeit und ein intensiver Erfahrungsaustausch bleiben weiterhin wichtige Komponenten für einen reibungslosen Herstellungsprozess.

content-image
Enter fullscreen

Filmtabletten werden vor der Endverpackung auf Verpackungslinien in Behälter verpackt.

Und was bringt die Zu­kunft?

«Die vollständige Integration der Produktionsmaschinen und die vollautomatische Datenerfassung sind nur zwei von vielen Innovationen», führt Ruth Leu weiter aus. «Mit zusätzlichen analytischen Methoden verbessern wir unser Prozessverständnis kontinuierlich. Gleichzeitig werden immer mehr Informationen nicht durch Musterzug und spätere Analytik, sondern direkt und unmittelbar im Prozess erfasst.»

Ein konkretes Beispiel ist der Musterzug für die Mischgüte mit anschliessender Analytik im Qualitätskontrolllabor. «Dieses Verfahren ersetzen wir jetzt durch die NIR-Technologie (near-infrared technology), um so die Entwicklung der Mischgüte online während des Prozesses beurteilen zu können.»

Im neuen Gebäude WST-222 werden bereits heute das Gewicht, die Härte und die Dicke online mit der Tablettiermaschine bestimmt. Früher mussten solche Analysen separat und zeitaufwändig im Inprozess-Kontrolllabor durchgeführt werden. Als Weiterentwicklung ist die Bestimmung des Wirkstoffgehaltes der Tabletten online schon angedacht. Als ultimatives Ziel nennt Ruth Leu die Freigabe der Tabletten direkt ab Tablettiermaschine ohne zusätzliche Analytik in der Qualitätskontrolle: «Was heute noch utopisch klingt, kann schon bald Realität werden.»

icon

Home
en
de
zh
jp
Share
Share icon