Live. Magazine

Travels in Medicine
Interview mit Jörg Reinhardt
Wir müssen weitermachen
Text von Goran Mijuk, Fotos von Laurids Jensen, Alex Urosevic und Adriano A. Biondo.
Als Jörg Reinhardt 2013 nach dreijähriger Tätigkeit als CEO von Bayer Healthcare zu Novartis zurückkehrte, um hier den Vorsitz des Verwaltungsrats zu übernehmen, war das Unternehmen ein globales Schwergewicht im Bereich der Life Sciences, das in verschiedenen Bereichen der Gesundheitsindustrie tätig war, von Impfstoffen über Tiermedizin und Generika bis hin zur Augenheilkunde.
Das Konglomerat war nicht nur schwierig zu leiten, es war auch mit vielen internen und externen Barrieren konfrontiert, von isolierten Arbeitskulturen über schwerfällige bürokratische Prozesse bis hin zu internen Kämpfen um Ressourcen. Schon kurz nach seiner Ernennung korrigierte Reinhardt die Unternehmensstrategie und begann, wissenschaftsbasierte Innovationen voranzutreiben, mit dem Augenmerk auf schnell wachsende Märkte.
In den darauffolgenden zwölf Jahren hat Novartis ihre Struktur radikal verändert. Das Unternehmen trennte sich von Bereichen, die nicht zum Kerngeschäft gehörten, überarbeitete seinen Produktionspark, intensivierte seine Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten und weitete sein Geschäft in den Bereichen Gen-, Radioliganden- und RNA-Therapie auf neue Technologien aus. In der Folge stiegen die Umsätze, der Reingewinn, die Dividendenausschüttungen und der Aktienkurs.
Neben der operativen Transformation des Unternehmens galt es auch, auf einen Kulturwandel hinzuarbeiten, um Silos aufzubrechen, starre Hierarchiestrukturen abzubauen sowie die interne und externe Zusammenarbeit zu beschleunigen – all dies mit dem Ziel, das im heutigen wettbewerbsintensiven Markt erforderliche Innovationsniveau zu beschleunigen.
Gleichzeitig strebte Reinhardt eine Neugestaltung der Beziehungen des Unternehmens zur Gesellschaft an. Während seiner langen Laufbahn bei Novartis und dem Vorgängerunternehmen Sandoz, zu dem er 1982 gestossen war, erlebte er hautnah, wie das Unternehmen oft in Konflikt mit der Öffentlichkeit stand und immer wieder in den Mittelpunkt massiver Medienkritik geriet.
Um diese Beziehungen zu verbessern, arbeitete Novartis daran, den Weg für einen intensiveren Austausch zwischen dem Unternehmen und seinen diversen Aktionären und Stakeholdern zu ebnen. Novartis war bereit, neue Wege zu beschreiten, um die Berührungspunkte mit der Gesellschaft zu erweitern, da das Unternehmen in der Schweiz häufig als distanziert und arrogant wahrgenommen wurde.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Eröffnung des Campus, der von den Einheimischen oft als «verbotene Stadt» bezeichnet wurde, sowie der Bau des Pavillons, der es der Öffentlichkeit ermöglichte, mehr über die Pharmaindustrie zu erfahren und mit dem Unternehmen offen über wichtige Themen wie Datenschutz, Medikamentenpreise und die Beteiligung von Patienten an klinischen Studien zu diskutieren.
Jörg Reinhardt spricht während der Bauzeit mit einem der Architekten.

Als Novartis den Pavillon eröffnete, bezeichnete Reinhardt den Umzug als soziales Experiment und Ausdruck der kontinuierlichen kulturellen Entwicklung des Unternehmens hin zu mehr Offenheit, der auch ein Spiegelbild des sich wandelnden sozioökonomischen Gefüges der Gesellschaft sei. «Unternehmen – gerade in komplexen Branchen wie der unsrigen – müssen besser erklären, was sie tun. Wir leben in Zeiten erhöhter Transparenz und verstärkter öffentlicher Aufmerksamkeit und sollten daher das Interesse an unserer Branche begrüssen und den Dialog mit der Öffentlichkeit intensivieren», so Reinhardt.
Dieser Dialog sollte nicht nur über digitale Kanäle stattfinden, sondern auch an Orten, an denen «sinnvolle und seriöse Gespräche möglich sind. Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend wichtiger, Räume zu schaffen, in denen unterschiedliche Ansichten ruhig, rational und in einer einladenden und herzlichen Atmosphäre ausgetauscht werden können», so Reinhardt weiter. Das war der im Pavillon zum Ausdruck gebrachte Gedanke.
Die Buchhandlung im Pavillon bietet eine große Auswahl an wissenschaftsbezogenen Büchern.

Dr. Reinhardt, war das Experiment mit dem Novartis Pavillon erfolgreich?
Von Anfang an wollten wir mit dem Pavillon-Projekt einen Raum schaffen, der uns die Möglichkeit bietet, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten, die Komplexität unserer Branche zu erklären, und der die Menschen dazu einlädt, über offene Fragen rund um Gesundheitsfürsorge und medizinische Innovationen zu sprechen. Wir waren sicher, dass dies auf Interesse stossen würde. Aber ehrlich gesagt, hätten wir nie gedacht, dass der Pavillon in den ersten beiden Jahren seines Bestehens so viele Menschen anziehen würde. Wir haben offenbar einen Nerv getroffen, denn bisher haben über 150 000 Menschen den Pavillon besucht. Insofern war das Experiment durchaus erfolgreich.
Was fällt Ihnen besonders auf?
Natürlich ist der Pavillon ein attraktives Bauwerk, das sich durch seine kreisrunde Form und sein innovatives Multimedia-Dach auszeichnet. Für viele Besucherinnen und Besucher lohnt es sich allein deshalb, nach Basel zu kommen. Was mich aber am meisten fasziniert, ist die Ausstellung mit ihrem Ansatz, den langen Weg von der Erkrankung bis hin zum Medikament zu beschreiben. Wir haben versucht, diesen komplexen Prozess so nah wie möglich zu beleuchten. Es gibt viel zu lernen, auch für unsere eigenen Mitarbeitenden, denn die Komplexität unserer Branche erfordert viele unterschiedliche Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Bereichen. Es ist für niemanden einfach, den vollständigen Überblick zu behalten. Es gibt immer etwas Neues, sei es in der Forschung, im klinischen Bereich oder im Umgang mit Patientinnen und Patienten.
Wie sieht es mit öffentlichen Vorträgen aus?
Ich wurde bisher zu mehreren Veranstaltungen eingeladen, einige öffentlich, andere privat. Was ich wirklich schätze, ist, dass sich die Umgebung für eine offene Diskussion anbietet. Wenn Sie den Pavillon betreten, stehen Sie auf neutralem Boden. Obwohl das Gebäude unsere kulturellen Werte wie Klarheit, Qualität und Sorgfalt verkörpert, handelt es sich nicht um eine Produktumgebung von Novartis. Sie lernen unser Unternehmen kennen, aber nicht nur das. Es ist ein Ort, der unserer Branche und der Gesundheitsfürsorge im Allgemeinen gewidmet ist. Auch unsere Vorträge greifen gesellschaftlich relevante Themen auf. Dafür steht das Novartis Pavillon Advisory Board.
Welche Bedeutung hat das Advisory Board?
Um nicht zu kurzsichtig und egozentrisch zu werden, haben wir beschlossen, ein Advisory Board aus internen und externen Expertinnen und Experten ins Leben zu rufen. Die internen Expertinnen und Experten werden gebraucht, um die Perspektive der Branche im Blick zu behalten und die Arbeit unseres Unternehmens so gewissenhaft wie möglich zu reflektieren. Externe Beraterinnen und Berater bringen unterschiedliche Sichtweisen ein, von Forschung, Kommunikation und Politik über Philosophie bis hin zur Ausstellungsleitung. All das ist notwendig, um die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansichten widerzuspiegeln.
Wie hat das dazu beigetragen, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten?
Es hilft uns, selbstreflektierter, kritischer und mutiger zu sein. Martin Dätwyler hat als eines der Mitglieder des Advisory Boards vorgeschlagen, dass Novartis am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest präsent ist. An so etwas hätten wir nie zuvor gedacht. Wir waren dort mit einem kurzen Spot vertreten, der dazu beitrug, den Pavillon bei einem Publikum bekannt zu machen, das wir nicht als Kernzielgruppe betrachteten. Das Team musste eine neue Sprache entwickeln und sich überlegen, wie man diese Gruppe erreicht. Der Aufwand hat sich gelohnt. Er eröffnete eine neue Sicht darauf, wie sich ein neues Publikum ansprechen lässt. Expertinnen und Experten aus der Messebranche haben uns auch offener dafür gemacht, uns mit anderen Messeveranstaltern auszutauschen und in konkreten Projekten mit ihnen zusammenzuarbeiten, um eine grössere Nähe zum Publikum zu gewinnen.
Können Sie etwas über das Publikum sagen?
Eines der Hauptziele war es, ein vielfältiges Publikum anzusprechen, das sich für Medizin, Gesundheitsfürsorge und Industrie im Allgemeinen interessiert. Eine Möglichkeit, dies zu steuern, besteht darin, im Pavillon eine breite Palette von Themen zur Diskussion zu stellen. Ein weiteres Ziel bestand darin, Verbindungen zu Museen und anderen Ausstellungsräumen herzustellen. Einer der ersten und grössten Erfolge war unsere Teilnahme an der Industry Night in Basel. Wir waren als eines der ersten Unternehmen an diesem städtischen Event präsent, wo die Menschen mehr über die vielfältigen hier tätigen Branchen und Unternehmen erfahren konnten. An einem Abend besuchten über 2000 Menschen den Pavillon, was sicherlich dazu beigetragen hat, das Gebäude bekannt zu machen und vielen Leuten ein neues Gesicht von uns zu zeigen.
Hat der Pavillon zu einer Veränderung der Wahrnehmung des Unternehmens geführt?
Als globales Unternehmen im Bereich der Gesundheitsfürsorge, das in über 100 Ländern tätig ist und jedes Jahr Millionen von Patientinnen und Patienten erreicht, haben wir den Pavillon nicht geschaffen, um eine solche Änderung herbeizuführen. Das war nicht das primäre Ziel. Der Pavillon ist Ausdruck unserer kulturellen Entwicklung hin zu mehr Offenheit und Dialog. Die Eröffnung des Campus ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Wenn möglich, müssen wir ähnliche Schritte auch an anderen Standorten tun. So gesehen hat der Pavillon durchaus das Potenzial, diesen Wandel auszulösen. Aber wir müssen weiterarbeiten, bescheiden bleiben und weiterhin mit der Öffentlichkeit in Kontakt bleiben.
Können Sie uns etwas über die Eröffnung des Campus sagen? Lange Zeit galt der Campus als «verbotene Stadt». Hat sich diese Sichtweise geändert?
Ja. Der Campus wurde zu lange als geschlossene Anlage innerhalb der Stadt wahrgenommen. Zwar konnten Gruppen seit jeher Führungen über den Standort buchen, aber das Gelände war nicht öffentlich zugänglich. Eine Zeit lang sorgten Bauarbeiten dafür, dass der Ort sehr betriebsam und mitunter sogar gefährlich war. Ausserdem hatten wir noch umfangreiche Produktionsanlagen auf dem Campus. Heute bilden Büro- und Laborarbeit den Grossteil der Aktivitäten, so dass es für die Gäste einfacher ist, sich zu bewegen. Wir bieten nach wie vor Führungen an und arbeiten mit dem Basler Tourismusbüro zusammen, haben aber auch eine Audio-Tour eingerichtet, um Mitarbeitenden und Gästen die Geschichte und Relevanz des Campus näherzubringen. All das hat dazu beigetragen, die Wahrnehmung zu verändern. Jetzt können sich die Menschen selbst ein Bild machen.
Sie treten per März 2025 aus dem Verwaltungsrat aus. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie in den letzten 12 Jahren als Verwaltungsratspräsident von Novartis erreicht haben?
Als ausgebildeter Pharmazeut, der lange in der Produktentwicklung tätig war, habe ich die Erfahrung gemacht, dass Lösungen nicht über Nacht entstehen. Man muss flexibel sein, offen für Veränderungen und bereit, allen Beteiligten zuzuhören. Es ist zwar sinnvoll, ein Gesamtziel zu verfolgen, aber man muss es anpassen können, wenn sich die Zeiten und Umstände ändern. Was unser operatives Geschäft betrifft, so haben wir uns von vielen Geschäftsbereichen getrennt, in denen wir entweder nicht mehr führend waren oder die unserer Ansicht nach nicht die erwarteten Wachstumsraten erfüllten. Andererseits setzen wir heute auf neue Technologien wie die Gen- und Radioligandentherapie, die vor zehn Jahren noch nicht reif waren für die breite Anwendung. Insgesamt sehe ich uns in den Märkten, in denen wir aktiv sein wollen, gut aufgestellt, und wir werden nach meinem Dafürhalten auch in Zukunft gute Wachstumsraten verzeichnen.
Wie würden Sie die Leistung im Hinblick auf den von Ihnen angestrebten Kulturwandel beschreiben?
Als Novartis 1996 gegründet wurde, war das Unternehmen ein Konglomerat, das viele Geschäftszweige wie Landwirtschaft und Ernährung umfasste. 2013 hatten wir noch fünf Divisionen und zwei Geschäftseinheiten. Unsere Unternehmenskultur hatte mehr als zwanzig Grundwerte. Das war einfach zu komplex. Zudem waren einige unserer Unternehmen relativ klein, und es fehlte uns die Innovationskraft, um am Markt etwas bewegen zu können. Es war an der Zeit, sich von den kleineren Einheiten zu trennen und uns dort auf Innovation zu konzentrieren, wo wir am stärksten waren. Wir mussten uns auch auf die Kernwerte konzentrieren, an die jeder glaubt. Werte wie Zusammenarbeit und Innovation mussten also stärker gefördert werden als andere. Dies trug auch dazu bei, den Fokus insgesamt zu schärfen und eine gemeinsame Sprache unter den Mitarbeitenden zu schaffen.
Sie haben auch ein Risikokomitee eingerichtet und den Austausch mit Aktionären und NGOs intensiviert.
In Bezug auf die Arbeitskultur war mir vollkommen bewusst, dass es noch lange dauern würde, bis wir nachhaltige Ergebnisse sehen können. Entscheidend aber war der Fokus auf Ethik, denn wir brauchten einen professionellen Rahmen, um die Folgen unseres Handelns in einer zunehmend regulierten Branche zu verstehen. Das gilt auch für unsere Bemühungen im Bereich Umwelt. Bis in die 1960er-Jahre war es üblich, Industrieabfälle im Rhein zu entsorgen. Heute wäre das schlicht undenkbar. Wir folgen den strengsten Vorschriften mit dem Bestreben, diese noch zu übertreffen. Was unsere Marktpraktiken anbelangt, müssen wir gewissenhaft sein und das Bewusstsein dafür schärfen, was möglich ist und was nicht. Zudem war es ein logischer Schritt, unseren Austausch mit Aktionären, NGOs und der Öffentlichkeit zu intensivieren, um die Möglichkeit zu haben, unsere Position zu erläutern und zu erfahren, wo wir unsere Standpunkte überarbeiten müssen. Das ist ein organischer Prozess. Ich habe den Eindruck, dass der Pavillon uns einen Vorteil verschafft, weil wir uns dort ganz unmittelbar mit der Gesellschaft auseinandersetzen und mit den Menschen darüber sprechen können, was ihnen gefällt und was nicht.
Werden Sie Novartis und den Pavillon vermissen, wenn Sie das Unternehmen 2025 verlassen?
Nach über 40 Jahren Firmenzugehörigkeit wird der Abschied nicht leichtfallen. Ich werde dem Unternehmen sicher weiterhin verbunden bleiben und vielleicht den Pavillon ab und zu besuchen. Leadership bedeutet aber auch, irgendwann loszulassen, damit andere die Zügel übernehmen und neue Ideen einbringen können. Nichts ist perfekt, und die Dinge können sich immer ändern. Das war schon immer mein persönliches Mantra. Wir müssen weitermachen, uns auf das Wesentliche konzentrieren und versuchen, besser zu werden. Das wird auch weiterhin gelten.