Ein Pilzmodell an der Universität Neuchâtel.
Publiziert am 03/10/2022
Beim Durchqueren des Mikrobiologie-Forschungstrakts der Universität Neuchâtel in Begleitung von Pilar Junier fallen uns als Erstes Pilzmodelle auf. Rund ein Dutzend davon stehen an diesem sonnigen Frühlingsmorgen in den Fensternischen des modernen Gebäudes hoch über dem Neuenburgersee mit Blick auf die Alpen.
Giftige und essbare Arten sind deutlich gekennzeichnet, und uns wird schnell klar, welche Gefahr sich hinter dem scheinbar harmlosen Gemeinen Kartoffelbovist oder dem Roten Fliegenpilz verbirgt.
Zwar wirken die vielfältigen Farben und Formen der Pilze auf dem blanken Beton der Fensternischen recht exotisch, aber sie sind in der Natur allgegenwärtig und somit ein naheliegendes und zentrales Objekt für Junier und ihr 30-köpfiges Labor- und Forscherteam.
In den Labors zeigt uns die Professorin die zahlreichen Petrischalen und Analysegeräte, mit denen die Wechselwirkung zwischen Pilzen und anderen mikrobiellen Systemen in der Umwelt untersucht werden. Die Türen stehen meist offen, und das emsige Treiben der Studierenden und Doktoranden auf den Gängen und in den Labors wirkt wie ein eigener Mikrokosmos innerhalb der Universität, der sich intensiv und sehr konzentriert einer geheimnisvollen Aufgabe widmet.
Dieser Mikrokosmos dreht sich ganz offensichtlich um die 44-jährige Pilar Junier, und ein Blick in eines ihrer 12 Forschungslabors genügt ihr, um den dort Arbeitenden die nötigen Anweisungen in genau der Sprache zu geben, die sie am besten verstehen – in Französisch, Englisch, Deutsch, aber auch in Spanisch, ihrer Muttersprache.
Professorin und mehr
Pilar Junier wurde in Kolumbien geboren, wo sie auch studierte. Das Land liegt am pazifischen Feuerring: sechs der insgesamt zehn Vulkane des Landes gelten als noch aktiv. Einen Teil dieser Energie hat Junier offenbar aus ihrer Heimat mitgebracht, denn anders lässt sich kaum erklären, wie sie ihre vielfältigen Aufgaben unter einen Hut zu bringen vermag.
Als Professorin leitet sie das Mikrobiologielabor an der Uni Neuchâtel, wo sie auch doziert, Mentorin für PhD- und Master-Studenten ist und Biologielaboranten ausbildet. Dazu kommen die Entwicklung neuer Projekte und Ideen sowie die Beschaffung von finanziellen Mitteln für das Weiterbestehen der Labors. Bleibt dann noch Zeit übrig, arbeitet sie daran, den Traum einer eigenen Firma in die Tat umzusetzen.
Mit dem FreeNovation-Projekt der Novartis Stiftung, das 2016 ins Leben gerufen wurde und der Förderung von innovativen Ideen in der Medizin dient, hätte Junier gleich mehrere Punkte auf ihrer To-do-Liste erledigen können. Doch wie kommt eine Umweltmikrobiologin, die sich in ihrer bisherigen Laufbahn noch nie mit Medizin beschäftigt hat, zu einem Förderbeitrag einer Stiftung für biopharmazeutische und medizinische Forschung?
Eine verrückte Idee
Für den Antrag bei FreeNovation musste Junier zur Unterstützung ihrer Idee keine patientenbezogenen Daten vorlegen. Das wäre zu diesem Zeitpunkt auch nicht möglich gewesen, wie sie uns freimütig erzählt. Positiv war auch, dass der Entscheid beim Auswahlprozess von einer Jury getroffen wurde, die ganz bewusst keinen Einblick in den Lebenslauf von Junier erhielt, sondern nur die Qualität der eingereichten Idee zu beurteilen hatte. «Deshalb erlaubten sie einer Umweltmikrobiologin, ein medizinisches Projekt durchzuführen. Ich hatte ja gar keinen Background in Pneumologie oder so. Aber ich hatte einfach diese verrückte Idee, mit Menschen zu arbeiten», erinnert sich Junier.
Die «verrückte Idee» kam Pilar Junier und ihrem Team allerdings nicht im Traum, sondern aufgrund der langjährigen Forschungsarbeit in Umweltmikrobiologie. Junier hatte zusammen mit einem Postdoc-Wissenschaftler und einer Doktorandin, dem 30-jährigen Fabio Palmieri und der um ein Jahr jüngeren Aislinn Estoppey, bereits zahlreiche Projekte mit Bodenproben durchgeführt. Ihr Hauptinteresse galt dabei der Interaktion zwischen Oxalsäure, Pilzen und Bakterien – ein traditioneller Ansatz im Bereich der Umweltmikrobiologie, der beispielsweise auch zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und Speicherung von CO2 in der Erde untersucht wird.
«Die grundsätzliche Frage in unserem FreeNovation-Antrag lautete: Warum betrachten wir die Menschen nicht wie unsere Bodenproben, als etwas, das einfach ein bisschen komplexer ist als nur menschliche Zellen?», erzählt Junier und liefert gleich eine konkrete Aufgabenstellung dazu: «Jedes Jahr sterben rund 1,5 Millionen Menschen an Pilzerkrankungen, und die aktuellen Behandlungsmethoden sind sehr limitiert. Deshalb wollten wir unser während Jahren erworbenes Wissen über Pilze nutzen und untersuchen, ob und wie wir eine therapeutische Alternative zur Beherrschung krankheitserregender Pilze in der Humanmedizin einsetzen können.»
Zwei Seiten einer Substanz
In ihren bisherigen Experimenten hatten Junier und ihr Team herausgefunden, dass Oxalsäure ein entscheidender Umweltfaktor bei der Interaktion zweier grundlegender Elemente des menschlichen Mikrobioms ist: Bakterien und Pilze. In der Umweltmikrobiologie ist die Absonderung von Oxalsäure, beispielsweise bei Pilzen, nicht nur gewöhnlich, sondern für deren Überleben sogar essenziell.
Beim Menschen allerdings können besonders die Salze der Oxalsäure, etwa Kalziumoxalat, gesundheitliche Probleme hervorrufen. Auch in den Lungen von immungeschwächten Patienten, die an Schimmelpilzinfektionen leiden, wurden Kristalle von Kalziumoxalaten gefunden.
Das Einatmen von Pilzsporen alleine ist zwar noch kein Grund zur Sorge, wie Junier erklärt: «Jeder Mensch atmet täglich Tausende von Sporen ein, aber bei Gesunden löst das keine Probleme aus. Bei immungeschwächten Patienten hingegen kann das zur Besiedelung des Lungengewebes mit Sporen und schliesslich zu Pilzbefall führen.»
Auf dieser Basis formulierte Juniers Team seine Hypothese für das FreeNovation-Projekt, die besagt, dass Pilze auch in der menschlichen Lunge Oxalsäure produzieren, um eine optimale Umgebung für ihre weitere Entwicklung zu schaffen.