Liebesbeziehung mit der Wissenschaft
Der umgekehrte Weg
Wer ist Erta?
Lynn Hershman und Thomas Huber
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Wenn Kunst auf Wissenschaft trifft

Der Proteinforscher Thomas Huber wagte den Sprung ins Ungewisse, als er mit der amerikanischen Künstlerin Lynn Hershman eine Zusammenarbeit einging. Das unkonventionelle Zusammentreffen führte zu einem unerwarteten Ergebnis.

von Goran Mijuk

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Lionello Ruggeri, Agostino Cirillo, Kathrin Müller und Ting Zhou zusammen mit Thomas Huber von der Proteinentwicklungsabteilung in Basel.

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Publiziert am 20/01/2021

Die Mitarbeitenden der Proteinentwicklung in Basel schmunzeln noch heute, wenn sie an den Moment zurückdenken, als ihr Teamleiter Thomas Huber ankündigte, mit der US-amerikanischen Medienkünstlerin Lynn Hershman zusammenarbeiten zu wollen.

«Wir waren wirklich sehr überrascht, mit einer Künstlerin zusammenzuarbeiten. Das war für uns etwas ganz Neues», so Agostino Cirillo, der zusammen mit Kathrin Müller und Lionello Ruggeri in der Protein­entwicklungsabteilung von Thomas Huber arbeitet.

Zu den täglichen Aufgaben des Teams zählt in erster Linie das Erstellen und Testen neuer therapeutischer Antikörper für die Behandlung von Krebs und anderen komplexen Erkrankungen. Von der Art der Zusammenarbeit mit Lynn Hershman hatten sie keine Vorstellung. «Wir wussten nichts über die Struktur des Projekts und unsere Aufgaben. Aber wir waren alle gespannt darauf.»

Auch Thomas Huber war zunächst sehr erstaunt, als Lynn Hershman Ende 2017 auf ihn zukam. Obwohl sich der 42-jährige Bioingenieur für Kunst interessiert und als Student in verschiedenen Museen ehrenamtlich tätig gewesen war, stellte der direkte Eintritt in die Welt der Künste eine ganz neue Erfahrung für ihn dar.

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When art meets science
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Als eine der angesehensten Medienkünstlerinnen unserer Zeit arbeitet Lynn Hershman seit den 1970er-Jahren am Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft. In ihrer Hand hält sie das Röhrchen mit dem Antikörper, der ihren Namen trägt.

Lie­bes­be­zie­hung mit der Wis­sen­schaft

Für Lynn Hershman war die Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft schon immer eine ganz natürliche Sache. Die 77-jährige Performance- und Medien­künstlerin hatte sich bereits in ihrem frühen Schaffen naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse bedient.

«Künstler möchten in ihrem Tun auf der Höhe der Zeit sein», sagt Hershman über Kunst im Allgemeinen. «Daher wollte ich nicht mehr nur malen und zeichnen, was ich eigentlich gelernt hatte. Stattdessen begann ich, mich in den 1970er-Jahren mit interaktiven Technologien und Toninstallationen zu beschäftigen, was ein absolutes Novum war.»

Später experimentierte sie mit Computertechnologie. In den 1990er-Jahren war sie eine der ersten Kunstschaffenden, die sich mit künstlicher Intelligenz befassten als sie das Agent Ruby’s Dream Portal kreierte. Auf dieser Website konnten Nutzer Fragen an einen Messaging-Bot stellen.

Nach mehr als 16 Jahren Entwicklung wurde in den Nullerjahren ihre Online-Figur DiNA geboren. Diese basierte auf künstlicher Intelligenz und war mit einem Sprachgenerator und weiteren technologischen Neuheiten ausgestattet, wodurch DiNA mit dem Publikum echte Gespräche über politische und sonstige Themen führen konnte.

Hershmans Interesse an den Naturwissenschaften zieht sich durch ihren gesamten Lebensweg. Die Künstlerin, die aus einer Wissenschaftlerfamilie stammt und in der Schule Biologie als Hauptfach belegt hatte, arbeitete mit berühmten Wissenschaftlern zusammen und produzierte Filme mit Nobelpreisträgern wie Elizabeth Blackburn, der Entdeckerin der Telomerase.

Für ihre Ausstellung 2018 im Haus der elektronischen Künste in Basel wollte Hershman mit einem weiteren Wissenschaftler zusammenarbeiten, um ein Kunstobjekt zu entwickeln, das sich mit Technologie und Identität auseinandersetzt, Themen, mit denen sich die Künstlerin seit Jahren beschäftigt.

Die Idee, mit Novartis zusammenzuarbeiten, stammte von ihrer Tochter. «Als ich erfuhr, dass ein Projekt in Basel ansteht, sagte ich, dass ich etwas mit einem pharmazeutischen Unternehmen machen will. Aber ich wusste nicht genau, was. Als ich meine Tochter um Rat fragte, die Leiterin der Krebsforschung an der Columbia University ist, sagte sie: «Ah, es geht um Antikörper.» Dann erwähnte sie, dass Novartis in diesem Bereich modernste Forschung betreibe. So begann alles.»

Eine kuriose Idee

Hershman und Huber sprachen bei einer Tasse Kaffee über eine mögliche Zusammenarbeit und kamen schliesslich auf die Idee, einen Antikörper herzustellen, der sozusagen den Namen der Künstlerin trägt.

Huber schlug vor, den flexiblen Teil eines Antikörpers, die sogenannte Bindungsregion, neu zu gestalten. Dieser relativ kleine Teil des Y-förmigen Proteins ist für die Verbindung und Neutralisierung eines krankheitstragenden Moleküls verantwortlich.

Er wollte diese Region mit einer bestimmten Sequenz von Aminosäuren kodieren, die standardmäs­sig mit Buchstaben des Alphabets abgekürzt werden – wie beispielsweise L für Leucin und H für Histidin. Dies würde es ihm erlauben, einen Antikörper mit einer Aminosäuresequenz herzustellen, welche die Buchstabenfolge L Y N N   H E R S H M A N aufweist. Nun war es die Künstlerin, die völlig verblüfft war – sie nahm Hubers Vorschlag begeistert an.

Wow, Antikörper!

Huber, der 2007 zu Novartis stiess, nachdem er an der Universität Zürich in Biochemie promoviert hatte, war schon immer fasziniert von Antikörpern, die auf natürlichem Weg als Reaktion auf ein Antigen im Blut produziert werden.

«Als ich das erste Mal von Antikörpern hörte, war ich wirklich erstaunt», erzählt er. «Wie kann unser Körper Krankheitserreger bekämpfen, die ihm noch nie zuvor begegnet sind?»

«In unserem Körper entwickelt sich alles immer weiter», fährt Huber fort. «Ständig wird eine grosse Anzahl verschiedener Antikörper erzeugt. Die wenigen nützlichen Antikörper werden dann für die Veredelung und Produktion ausgewählt. Die anderen werden ausgemustert, da sie uns schaden könnten. Dieser Prozess, bei dem der richtige Antikörper zielgerichtet gegen fremde Eindringlinge hergestellt wird, hat mich sehr fasziniert.»

Antikörper werden seit dem 18. Jahrhundert in der Medizin ein­gesetzt. Doch erst mit dem Aufstieg der Gentechnik in den 1970er-Jahren und dem zunehmenden Wissen über die komplexe Struktur von Proteinen hat dieser Bereich richtig Fahrt aufgenommen.

Mitte der 1980er-Jahre wurden die ersten Biopharmazeutika entwickelt. Diese funktionieren wie natürliche Antikörper. Dank ihres Aufbaus können diese therapeutischen Proteine jedoch auch Krankheiten wie Krebs oder Entzündungen bekämpfen.

Novartis begann vor mehr als 30 Jahren mit der Antikörperforschung. Seitdem hat das Unternehmen mehrere hochmolekulare Medikamente entwickelt. Dazu zählen das entzündungshemmende Mittel Ilaris®, Cosentyx® zur Behandlung von Psoriasis und Xolair® zur Asthmabehandlung.

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Lynn Hershman: The art of artificial intelligence
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Designing an antibody called Lynn
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Der Antikörper von Lynn Hershman hat keinen medizinischen Nutzen. Doch seine Existenz hat Wissenschaft und Kunst einander näher gebracht und...

Der um­ge­kehr­te Weg

Am Anfang jeder Antikörperentwicklung stehen die Wissenschaftler zunächst vor der Aufgabe, ein neues Zielmolekül festzulegen und dann einen therapeutischen Antikörper mit einer Aminosäuresequenz zu bauen, der eine Interaktion mit einem Krankheitsauslöser ermöglicht – ein Prozess, der Jahre dauern kann.

Beim Lynn-Hershman-Antikörper ging das Team von Huber aber den umgekehrten Weg. Zuerst wurde der Antikörper mit der vordefinierten Aminosäuresequenz hergestellt und dann dessen Bindungseigenschaften gegen ein Set von 7000 möglichen Antigen-Zielmolekülen getestet.

Die Chancen, dass sich der Lynn-Hershman-Antikörper als Molekül von therapeutischem Wert erweist, waren von Anfang an gering. Für Huber war jedoch die Zusammenarbeit mit Hershman aus ganz anderen Gründen interessant. Huber verfolgte mit der Zusammenarbeit ein weiteres Ziel. Er wollte lernen!

«Ein Künstler hat eine ganz andere Sichtweise auf den Sachverhalt. Er kann die Naturwissenschaft anders ausdrücken als wir, weil wir oft durch die Komplexität der Materie eingeschränkt sind. Das macht es Aussenstehenden nicht leicht, Zugang zu unserer Arbeit zu finden», so Huber.

«Unsere Arbeit zu erklären, ist uns ein grosses Bedürfnis, und wir machen das auch wirklich sehr gerne. Als Lynn Hershman Interesse daran bekundete, uns bei der Arbeit zu begleiten und mehr über die Wirkungsweise von Antikörpern zu erfahren, war ich sehr froh, ihr anhand ihres eigenen Antikörpers unsere Arbeit nahebringen zu können. Sie wiederum konnte diese Erkenntnisse aufgreifen und auf eine Weise präsentieren, wie sie mir nie in den Sinn gekommen wäre.»

Sichtbares Erleben

Hershman ist dank ihrer Fähigkeit, komplexe Ideen und wissenschaftliche Erkenntnisse in Kunstobjekte umzusetzen, zu einer der angesehensten Medienkünstlerinnen unserer Zeit geworden. Durch ihre Arbeiten, die zunächst wenig Resonanz in der breiten Öffentlichkeit fanden, erlangte die Künstlerin im Lauf der Jahre immer mehr internationales Renommee. Es überrascht daher nicht, dass ihre Ausstellung im Haus der elektronischen Künste in Basel auf grosses Interesse stiess und die Menschen in Scharen in die Ausstellung strömten, um mehr über die gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien zu erfahren.

«Kunst spiegelt seit jeher die Welt wider», so Sabine Himmelsbach, Leiterin des Hauses der elektronischen Künste. «Lynn Hershman ist eine aussergewöhnliche Künstlerin, da sie auf so vielen Gebieten Pionierarbeit geleistet hat, darunter Videoinstallationen, künstliche Intelligenz und jetzt auch Biotechnologie.»

Vor einigen Jahren hatte sie bereits eine Installation namens Infinity Engine geschaffen, für die sie zusammen mit Biohacker Josiah Zayner die grossformatige Nachbildung eines Genforschungslabors anfertigen liess.

Bei ihrer Zusammenarbeit mit Huber verfolgte sie das Ziel, eine Probe des Antikörpers sichtbar zu machen, die in einem Reinraum zusammen mit Hershmans DNA gezeigt werden sollte, welche die Künstlerin als Speichermedium für die gesamte Ausstellung verwendete.

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Transforming science into an art object
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...zur Entwicklung von Erta geführt, einem Stoff, der in Kunst und Wissenschaft Furore machen könnte.

Wer ist Erta?

Die Herstellung des Antikörpers erwies sich als schwierig und drohte zu scheitern. Laut Huber war es eine grosse Erleichterung, als das Team endlich in der Lage war, die pulverförmige Probe mit dem Lynn-Hershman-Protein zu präsentieren. Dabei fragten sich alle Beteiligten, ob der Lynn-Hersh­man-Antikörper irgendeine therapeutische Wirkung haben würde.

Am letzten Testtag waren alle von den Ergebnissen überrascht: Zwar band sich der Lynn-Hershman-Antikörper an viele Antigene und war somit für den therapeutischen Einsatz ungeeignet. Doch das Team produzierte auch einen Antikörper für die Negativkontrolle, der mit keinem der 7000 Antigene interagierte, gegen die er getestet wurde. Dieser Antikörper, der in Anlehnung an das Alter Ego von Lynn Hershman, die fiktive Kunstfigur Roberta Breitmore, die Bezeichnung Erta erhielt, erwies sich als Seltenheit.

«Der Lynn-Hershman-Antikörper hat ein sehr vielfältiges Muster und bindet sich offenbar an viele Proteine, wenn auch mit schwacher Affinität», erklärte Huber, als er Hershman die Ergebnisse mitteilte. Bei Erta sah die Sache jedoch anders aus. «Denselben Test machten wir auch mit Erta, der sich jedoch an nichts band. Erta erweist sich für uns daher als ideale Negativkontrolle.»

Negativkontrollantikörper sind entscheidend für die Feststellung, ob ein therapeutischer Antikörper richtig funktioniert. Mit diesem Test wollen die Wissenschaftler sicherstellen, dass der flexible Teil des Proteins und nicht das sogenannte Proteingerüst die Wirkung vermittelt. Ein solch unempfindliches Protein zu finden, ist wie ein Lottogewinn!

«Wir sollten wirklich mit dem Erta-Antikörper arbeiten, denn er ist offenbar eine fantastische Negativkontrolle», sagte Huber zu Hershman. «Wir werden vielleicht einen Zulassungsantrag für dessen Nutzung stellen. Mal schauen, was dann passiert.»

Offenheit und Neugier

Auch für Lynn Hershman war die Zusammenarbeit mit Huber ein Erfolg, denn sie war ein weiterer Beweis dafür, wie viel die Neugierde und Offenheit eines Künstlers bzw. Wissenschaftlers bewirken kann.

«Es ist eine Frage der Neugier, wie Sie Ihr Leben gestalten», so Hershman. «Wenn man sein Leben in völliger Sicherheit verbringen möchte, schränkt man seine Wahlmöglichkeiten ein. Wenn man jedoch keine Grenzen kennt und einfach seine Ideen so weit wie möglich vorantreibt, dann findet man dafür einen Weg. Das funktioniert in der Regel tatsächlich, wie man an der Zusammenarbeit mit Thomas Huber sehen kann.»

Hershman ist der Auffassung, dass die meisten guten Wissenschaftler so ticken und für Kunst empfänglich sind. «Die besten Wissenschaftler sind offen für die Kunst, die wirklich allerbesten. Ich kann gar nicht genug darauf hinweisen.»

Huber und seine Mitarbeitenden gehören sicherlich zu dieser Gruppe. Ihre Bereitschaft, abenteuerliche Wege zu gehen, sichert ihnen nicht nur einen Platz in der Kunstgeschichte. Mit Erta haben sie nun auch einen Negativkontrollantikörper entdeckt, der die Medikamentenentwicklung bei Novartis in Zukunft beschleunigen könnte.

Wenige Monate nachdem sie Hershman den Antikörper präsentiert hatten, nutzten einige NIBR-Kollegen Erta erstmals als Kontrollantikörper für ein laufendes Forschungsprojekt.

Eine pulverförmige Probe von Erta ist mittlerweile auch in Deutschland als eines der 100 Meisterwerke der Medienkunst zu sehen. Als Produkt aus Kunst und Wissenschaft dürfte Erta künftig sicher noch mehr Menschen überraschen.

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A surprising result
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