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Wissenschaft
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Deblockierung des Gesundheitswesens

2017 von einem kleinen Novartis-Team ins Leben gerufen, möchte das branchenübergreifende Konsortium PharmaLedger die Blockchain-Technologie nutzen, um das Gesundheitswesen sicherer und effizienter zu machen. PharmaLedger hat das ambitionierte Ziel, den Sektor zu transformieren und durch den Einsatz intelligenter Tools einige sehr alte und hartnäckige Probleme zu lösen.

Text von Jovana Rakovic und Goran Mijuk, Fotos von Laurids Jensen

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Schritt für Schritt durch die PharmaLedger-App: Dies könnte für Millionen von Patienten auf der ganzen Welt schon bald Realität sein.

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Publiziert am 19/12/2022

Das globale Gesundheitswesen hat in den vergangenen Jahren grosse Fortschritte gemacht: von der Entwicklung wegweisender Gentherapien, die das Potenzial besitzen, Krankheiten zu heilen, über die allgegenwärtige Nutzung von Big-Data-Technologien bis hin zur Beschleunigung der Arzneimittelforschung. Aber viele Elemente entlang des komplexen Wegs vom Labor zum Patienten müssen noch deutlich optimiert werden.

Denken Sie nur an die folgenden Fälle: Tausende Kilometer von zu Hause entfernt, kämpft ein Tourist damit, die Informationen auf der Packungsbeilage zu übersetzen, während sich seine Migräne verschlimmert. In einem anderen Fall wird eine Charge Tabletten wegen Kontamination zurückgerufen, doch nicht alle, die eine Packung des Produkts gekauft haben, können über den Rückruf informiert werden. In einem weiteren Fall legt eine Patientin in einer Online-Apotheke Medikamente in ihren Warenkorb, ohne zu ahnen, dass diese gefälscht sind.

Diese Herausforderungen beschäftigen die Industrie seit Langem. Während für einige dieser Probleme regional, oft in wohlhabenden Ländern der Welt Lösungen entwickelt wurden, fehlte es zumindest bis vor Kurzem immer noch an einem eleganten, kosteneffizienten Universalverfahren, das diese Herausforderungen lösen und insbesondere Entwicklungsländer unterstützen könnte.

Den Grundstein für die Bewältigung vieler dieser Herausforderungen legten Dan Fritz und Marco Cuomo von Novartis 2017: Sie entwickelten einen Plan, der Blockchain-Technologie nutzt – eine Datenbank- und Software-Methode, die verspricht, die gesamte Wertschöpfungskette des Gesundheitswesens von der Distribution bis zur Medikamentengabe abzusichern.

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Ein ver­trau­ens­ba­sier­tes Sys­tem

Die Blockchain-Technologie gibt es seit mehr als zehn Jahren – derzeit wird sie meist mit Kryptowährungen assoziiert. Im Gegensatz zu klassischen Datenbanksystemen, bei denen die Daten in Tabellen wie den populären Excel-Dateien strukturiert sind, werden mit der Blockchain Daten in kleineren Gruppen, in sogenannten Blöcken, angeordnet – daher auch der Name.

Diese Datenblöcke, oft auch als «Ledger» bezeichnet, werden dann zu einer Kette aneinandergereiht. Und das ist der Trick dabei: Die Blöcke, die von ihren Erstellern geteilt werden, können von niemand anderem verändert werden, was sie – zumindest theoretisch – gegen Manipulationen schützt.

Diese technische Fähigkeit, davon waren Cuomo und Fritz überzeugt, macht die Blockchain zu einem idealen Instrument, um Informationen sicher über die komplexe Wertschöpfungskette des Gesundheitswesens zu transportieren und so das Vertrauen der Patienten zu stärken.

«Blockchain ist ein neuer Denkansatz für digitale Technologien im Gesundheitswesen – unser Ziel ist es, Informationen so zu gestalten, dass keine zentrale Stelle dafür zuständig ist», erläutert Cuomo die Stärke des Systems. «Durch den Einsatz eines dezentralen Blockchain-Netzwerks können wir ein System schaffen, bei dem alle Teilnehmenden dieselbe Kontrolle und Verantwortung für die Informationen haben, die sie teilen.»

Nachdem Cuomo und Fritz ihre Idee konzeptualisiert hatten, erkannten sie aber rasch, dass es für nachhaltige Erfolge nicht ausreicht, ein Projekt nur innerhalb von Novartis zu starten: Sie brauchten eine viel umfangreichere, branchenweite Expertengruppe, um ihren Plan in die Tat umsetzen zu können. «Damit so etwas funktioniert, muss man Ressourcen und Risiken bündeln», erläutert Fritz.

Glücklicherweise stiess ihr Aufruf auf Begeisterung, als sie sich an Gwenaelle Nicolas wandten, die als Liaison zwischen Novartis und der Innovative Medicines Initiative (IMI) tätig ist. Die IMI bzw. ihr Nachfolgeprogramm Innovative Health Initiative ist ein europäisches Forschungsprojekt, das öffentliche und private Partner für Spitzenforschung zusammenbringt. Für Nicolas war das Projekt «goldrichtig», um das Potenzial der IMI für die Industrie zu nutzen und die Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit Unternehmen ausserhalb der Pharmabranche zu ergreifen.

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Bran­chen­über­grei­fen­de Zu­sam­men­ar­beit

Nachdem Cuomo und Fritz ihre Idee und ihr ursprünglich als «Blockchain-Enabled Healthcare» bezeichnetes Projekt der IMI vorgestellt hatten, erhielten sie Fördermittel und konnten rund ein Dutzend weitere Partner aus der Industrie überzeugen. «Blockchain war damals das grosse Schlagwort, daher wollte jeder mitmachen», so Cuomo.

Insgesamt 17 öffentliche Partner, darunter Hochschulen, Spitäler, Patientenorganisationen und Technologieanbieter, schlossen sich dem Team an, um das Konsortium «PharmaLedger» zu gründen und das Projekt zu starten. Als die Arbeiten an Dynamik gewannen, waren zu Spitzenzeiten rund 200 Personen in das Projekt involviert, was es dem Team ermöglichte, zügig voranzukommen.

«Drei Elemente sind Voraussetzung für den Erfolg der Blockchain: das Beherrschen der Technologie, das Verständnis des betriebswirtschaftlichen Aspekts und ein ausgeprägtes Verständnis für Recht und Governance», erläutert Fritz die drei Säulen, auf denen das Projekt fusst. «Hinsichtlich der rechtlichen und administrativen Aspekte war die Zusammenarbeit im Rahmen der IMI für eine solche Pionierarbeit von entscheidender Bedeutung.»

Neben weiteren externen Partnern war die Zusammenarbeit mit Novartis Operations, zu der auch die Medikamentenproduktion gehört, für Cuomo und Fritz entscheidend, um spürbare Fortschritte zu er­zielen. «Da wir innerhalb des Zeitrahmens von drei Jahren, den das IMI-Projekt erhalten hatte, greifbare Ergebnisse erzielen wollten, war Novartis Operations für uns der ideale Partner», so Fritz. «Novartis Operations übernahm die Führung bei der Entwicklung einer elektronischen Produktinformationslösung – das war eine der Ideen, die wir zuerst umsetzen wollten.»

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Elek­tro­ni­sche Pa­ckungs­bei­la­ge

In einer zunehmend digitalisierten Welt, in der Millionen von Menschen Bücher und Nachrichten nur noch online lesen, liegt es eigentlich auf der Hand, elektronische Packungsbeilagen zu erstellen. Die Umsetzung dieses Konzepts nahm jedoch angesichts der regulatorischen und rechtlichen Aspekte, die mit einem solchen Schritt einhergingen, einige Zeit in Anspruch.

Dennoch war das technische Setup für das erste Pilotprojekt relativ unkompliziert. PharmaLedger entwickelte eine App, die den auf Medikamentenpackungen bereits vorhandenen Strichcode lesen kann und Patienten den Zugang zu wichtigen Produktinformationen in digitaler Form ermöglicht.

Gegenüber der klassischen Packungsbeilage hat die App von PharmaLedger den Vorteil, dass die Produktinformation den Patienten in der neuesten Version zur Verfügung gestellt werden kann. Darüber hinaus konnten Patienten, die ebenfalls mit PharmaLedger zusammenarbeiteten und ihr Feedback bereitstellten, aus verschiedenen Sprachen wählen und schnell zum gewünschten Abschnitt navigieren.

«Patientenvertreter teilten uns ihre Erwartungen an die App mit», so Hirkirit Virdee, ein Klinikexperte, der ebenfalls dem Team angehört. «Die Aufnahme einer Suchfunktion zum Beispiel war eine direkte Folge unserer Gespräche mit Patienten.»

Derzeit laufen Pilotprojekte in zwei Ländern; die ersten elektronischen Packungsbeilagen sollen im kommenden Jahr online gehen. In der Testphase erhalten die Patienten die Packungsbeilage sowohl elektronisch als auch klassisch auf Papier.

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Di­gi­ta­li­sier­te Zu­kunft

Während das Projekt PharmaLedger als Teil der IMI voraussichtlich bis Ende 2022 abgeschlossen sein wird, setzt das Team seine Arbeit fort. Die Mitarbeitenden haben bereits einen gemeinnützigen Verein mit Sitz in der Schweiz gegründet, der künftig die Governance nach Projektabschluss und den Betrieb beaufsichtigen wird.

«In der Pharmabranche geht es nicht so schnell, man braucht Ausdauer und Disziplin», so Fritz, der Novartis mittlerweile verlassen hat, um weiter für die PharmaLedger Association zu arbeiten. «Aber man braucht auch Leidenschaft. Unsere Mitarbeitenden sind nicht nur wegen ihrer Karriere hier. Sie sind überzeugt von ihrer Arbeit, die sie für das Gesundheitswesen als Ganzes leisten», unterstreicht Fritz seine Motivation, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.

Die Mitarbeitenden von PharmaLedger sind sich der Tatsache bewusst, dass Blockchain kein Allheilmittel ist, das alle Herausforderungen der Branche lösen wird. Doch die Technologie kann sich als nützlich erweisen, um einige sehr alte Probleme anzugehen. Alles in allem strebt das Team immer noch eine Revolution an, auch weil sich die Natur des Internets verändert.

«Wir nähern uns dem Zeitalter eines dezentralen World Wide Web», so Virdee und verweist damit auf einen Trend, der zeigt, dass das Internet künftig nicht mehr von einigen wenigen grossen Akteuren, sondern von einer Vielzahl von Dienstleistern beherrscht werden könnte. «Die Blockchain-Technologie ermöglicht es Patienten, die Kontrolle über ihre eigenen Daten zu behalten.»

Im Rahmen dieses Prozesses plant das Team, das Angebot um weitere digitale Serviceleistungen zu erweitern, die auf die Sicherung der Lieferkette, die Stärkung bereits bestehender Massnahmen gegen Medikamentenfälschungen und die Verbesserung der Rekrutierung für klinische Studien abzielen.

Wird PharmaLedger den eigenen Erwartungen gerecht, werden die Gesundheitsbranche und vor allem die Patienten davon profitieren. Situationen, wie sie zu Beginn des Artikels beschrieben wurden, gehörten dann der Vergangenheit an.

Wer eine Packung Tabletten kauft und scannt, könnte künftig sofort einen Hinweis dazu erhalten, ob es sich um eine Fälschung oder ein Originalpräparat handelt. Produktrückrufe könnten an alle Patienten verschickt werden, die ein bestimmtes Produkt gekauft haben, ohne dass sie über die Massenmedien informiert werden müssen. Ebenso wären die Packungsbeilagen in jeder beliebigen Sprache zu lesen, unabhängig davon, wo die Patienten ihre Arzneimittel gekauft haben.

Diese Zukunft liegt möglicherweise noch in weiter Ferne. Doch der erste Schritt ist getan, und PharmaLedger macht weiter, getreu dem Team-Motto: «Wenn du schnell gehen willst, geh allein. Wenn ihr weit kommen wollt, geht gemeinsam.»

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