Ab 1947 produzierte das französische Agrochemieunternehmen Produits Chimiques Ugine Kuhlmann am Fertigungsstandort Hüningen das Pestizid Lindan. Das Unternehmen stellte die Produktion 1974 ein. Danach wurde auf dem Gelände eine Industriekläranlage für benach-barte Chemieunternehmen betrieben. Nach deren Schliessung wurde das Areal saniert.
Text von Linda Bergsten, lllustrationen von Ikonaut, Fotos von Gregory Collavini
Grundriss der Industriekläranlage STEIH.
Publiziert am 01/07/2021
Das Areal, das von Lindan-Rückständen zu säubern war, liegt am Dreiländereck Schweiz / Frankreich /Deutschland auf dem linksrheinischen Gebiet der französischen Gemeinde Hüningen und in unmittelbarer Nachbarschaft des Novartis-Hauptsitzes in Basel.
Der Standort war einst Teil des französischen Agrochemieunternehmens Produits Chimiques Ugine Kuhlmann, kurz Ugine Kuhlmann, die dort Lindan produzierte. Die Novartis-Vorgängerfirma Sandoz AG kaufte das Grundstück 1974 und baute 1978 die Industriekläranlage Société pour le Traitement des Eaux Industrielles de Huningue, kurz STEIH, für die benachbarten Chemie- und Pharmaunternehmen im Industriegebiet von Hüningen-Süd.
Ugine Kuhlmann hatte die Lindan-Produktion 1947 aufgenommen und war eines von zahlreichen Unternehmen, die den Markt mit dem damals populären Pestizid versorgten.
Über Lindan
Lindan ist der Handelsname der chemischen Verbindung Hexachlorcyclohexan (C6H6Cl6 bzw. HCH). Erstmalig synthetisiert wurde sie 1825 von Michael Faraday. 1884 entdeckte man, dass es bei HCH um ein Gemisch verschiedener Isomere geht. Es gibt acht bekannte Isomere, bei denen es sich allesamt um Verbindungen mit derselben Summenformel C6H6CI6 handelt, deren Chlor- und Wasserstoffatome jedoch räumlich unterschiedlich um den Kohlenstoffring angeordnet sind. Erst in den frühen 1940er-Jahren, als man in der chemischen Industrie auf der Suche nach neuen Pestiziden war, konzentrierte sich die Forschung auf HCH und seine insektenvernichtende Wirkung.
Der weltweite Lindan-Verbrauch erreichte in den 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre seinen Höchststand. Lindan war als Breitbandinsektizid für landwirtschaftliche und andere Zwecke weit verbreitet, etwa für die Behandlung von Saatgut und Böden sowie für die Behandlung von Tieren gegen Ektoparasiten. Lindan kam beispielsweise neben polychlorierten Biphenylen (PCB) auch als Holzschutzmittel zum Einsatz. Einer Schätzung von Eva C. Voldner und Yi-Fan Li zufolge belief sich die weltweite Lindan-Produktion von 1948 bis in die frühen 1990er-Jahre auf insgesamt rund 720 000 Tonnen.
1987 stufte die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), eine Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Lindan als «möglicherweise krebserregend beim Menschen» (Gruppe 2B) ein. Erst 2007 verbot die Europäische Union mit der Verordnung (EG) Nr. 850 / 2004 die Verwendung von Lindan als Insektizid. HCH wurde im Jahr 2009 als persistenter organischer Schadstoff in das Stockholmer Übereinkommen, einen internationalen Umweltvertrag, aufgenommen. 2015 stufte die WHO das β-Isomer, das nach chronischer Exposition die höchste Toxizität aufweist, als «krebserregend beim Menschen» (Gruppe 1) ein. Weltweit am höchsten ist die chronische Exposition bei Personen, die in der Landarbeit und der Schädlingsbekämpfung tätig waren. Die Verwendung von Lindan ist mittlerweile in den meisten Ländern verboten oder stark eingeschränkt. In den USA sind jedoch immer noch medizinische Lindan-Präparate erhältlich. Die Verbindung ist dort als Zweitlinientherapie bei Hautparasiten, insbesondere bei Krätze und Läusebefall, zugelassen.
Hergestellt wurde Lindan in der Regel durch Chlorierung von Benzol unter UV-Strahlung mit Hochdruck-Quecksilberlampen. Dabei entstand HCH als α-(70 %), β-(12 %), γ-(10 %) und δ-Isomer (7 %). Nach der Neutralisierung mit einer alkalischen Lösung und der Destillation des verbleibenden Benzols verbleibt ein weisser, kristalliner Rückstand, das Roh-HCH.
Geruchsemissionen
Zu Beginn der 1950er-Jahre stellte man fest, dass Kartoffeln, die mit HCH in Berührung gekommen waren, nicht nur nach Chemikalien rochen, sondern auch so schmeckten. Dies brachte ihnen den Namen «Hexakartoffeln» ein, so etwa in der US-amerikanischen Fachzeitschrift American Potato Journal. Daraufhin wurde das Produktionsverfahren modifiziert.
Anstelle aller Isomere, von denen einige den unangenehmen Geruch verursacht hatten, verwendete man nur noch das γ-Isomer mit seiner Insektizidwirkung. Beim neuen Produktionsverfahren fielen jedoch acht- bis zwölfmal mehr HCH-Isomere als Abfallprodukte an, was zu Schwierigkeiten bei ihrer ordnungsgemässen Entsorgung führte.
Produktionsabfälle
Ab den 1950er-Jahren versuchte man bei Ugine Kuhlmann, einen Teil der bei der Lindan-Produktion anfallenden Abfälle wiederzuverwenden. Die Abfallprodukt-Isomere kamen zum Teil für die Synthese von 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure, einem Herbizid, zur Verwendung sowie für die Herstellung von 2,5-Dichlor-4-Bromphenol-Oxyphosphorsäure, einem Insektizid. In den 1960er-Jahren nahm das Unternehmen auch die Produktion von 1,2,4-Trichlorbenzol (TCB) auf.
Auch das neue Verfahren produzierte jedoch grosse Mengen an Abfall. In den späten 1960er- und den frühen 1970er-Jahren lagerte man bei Ugine Kuhlmann viele Tonnen HCH-Abfälle auf dem Gelände – ungeschützt und offen sichtbar. Die Entsorgung der HCH-Abfälle geschah vor Ort. Aus heutiger Sicht waren die damaligen Massnahmen zur Behandlung und Entsorgung der Abfallprodukte inakzeptabel.
Kurz bevor Ugine Kuhlmann die Produktion 1974 einstellte, war den französischen Behörden bereits bekannt, dass das Unternehmen Material in einer vier Meter tiefen Grube, der «HCH-Grube», mit einer Grundfläche von 2500 Quadratmetern vergraben und diese mit Asphalt zugedeckt hatte. Die Abfälle wurden auch als Zuschlagstoff für Beton verwendet, der im Elsass für den Strassenbau eingesetzt wurde.
Von 1965 bis 1970 waren die Lindan-Abfälle in Deponien gelagert. Diese befanden sich laut der französischen Datenbank kontaminierter Standorte (BASOL) im französischen Departement Haut-Rhin (Oberelsass) in den Gemeinden Sierentz, Wintzenheim und Hüningen sowie im Departement Bas-Rhin (Unterelsass) in der Gemeinde Hochfelden.
Öffentliche Wahrnehmung
Zwischenzeitlich hatte sich in der Öffentlichkeit das Problembewusstsein über die Gefahren von Chlorkohlenwasserstoff-Pestiziden für Mensch und Umwelt geschärft, unter anderem durch die Veröffentlichung des Buches Silent Spring von Rachel Carson 1962 in den USA.
Anfang der 1970er-Jahre erliessen die USA ein Importverbot für Käse aus der Schweiz, weil in einigen Produkten Lindan festgestellt worden war. Daraufhin durchgeführte systematische Messungen von Kuhmilch in der Nordwestschweiz zeigten, dass bei einigen Milcherzeugern entnommene Proben die HCH-Grenzwerte der WHO überschritten. Folglich wurde die Verwendung der betreffenden Milch in der Schweiz im Herbst 1972 verboten.
Im Rahmen systematischer Messungen konnte das Labor des Kantons Basel-Stadt HCH-Isomere in einem Umkreis von 30 Kilometern um die Fabrik von Ugine Kuhlmann feststellen. Im September 1972 berichtete die Basler «National-Zeitung» über den Zusammenhang zwischen der HCH-Kontaminierung und der Produktion in Hüningen. Auch in der französischen Tageszeitung «L’Alsace», Ausgabe St. Louis wurde der Sachverhalt erläutert. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der deutschen Nachbarstadt Weil am Rhein entdeckte man HCH, wie die «National-Zeitung» meldete. Im Jahr 1973 kam es in Deutschland zu einem Verbot der beanstandeten Milch.
Nachdem Ugine Kuhlmann 1974 die Produktion eingestellt hatte, baute Sandoz auf dem Gelände des früheren Produktionsbetriebs eine Industriekläranlage zur Behandlung industrieller Abwässer von Sandoz und einigen benachbarten Chemie- und Pharmaunternehmen, darunter BASF und TFL France. Während des Kläranlagenbaus verlangten die französischen Behörden das Einrichten dreier Grundwasserbeschaffenheits-Messstellen zur Überwachung der Flusseigenschaften und der Verschmutzung des Grundwassers rund um die HCH-Grube, die sich unter einem der Parkplätze der Kläranlage befand.
Die Messungen zeigten, dass das Grundwasser mit HCH-Isomeren kontaminiert war. Dies machte weitere Studien sowie sofortige Eindämmungsmassnahmen erforderlich. 1992 führte das französische Büro für Geologie- und Bergbauforschung (BRGM) eine hydrologische und hydrochemische Studie durch. 1994 und 1995 untersuchte die Beratungsfirma Antea zusätzliche Bereiche. Die Prüfer stellten fest, dass die HCH-Kontamination sich über das ursprüngliche Zielgebiet rund um die HCH-Grube hinaus erstreckte.
Forderungen nach Sanierung
Am 16. Februar 1996 sandte die französische Re-gionaldirektion für Industrie, Forschung und Umwelt (Direction régionale de l’Industrie, de la Recherche et de l’Environnement, DRIRE) einen Bericht an den Präfekten des Departements Haut-Rhin, um auf die Grundwasserkontamination hinzuweisen. Am 20. Juni 1996 erliess dieser eine Verordnung, wonach die Ablagerungen von Lindan-Abfällen am Standort Hüningen wahrscheinlich das Erdreich und den Untergrund schädigten und Ugine Kuhlmann für die Kontamination verantwortlich gemacht wurde. Gemäss dieser Verordnung waren die Sanierungsarbeiten innerhalb von sechs Monaten nach Eingang der Verordnung aufzunehmen.
Am 5. September 1996 reichte Sandoz als Betreiberin der Kläranlage einen Bericht über die Eindämmungsmassnahmen für die HCH-Grube ein. Kurz darauf, am 23. Dezember 1996, erfolgte die Liquidation von Ugine Kuhlmann. Die französischen Behörden ordneten an, der Insolvenzverwalter müsse zusätzliche Eindämmungsarbeiten ausführen lassen. Da diese nicht umgesetzt wurden, beantragte der Präfekt des Departements Haut-Rhin bei der französischen Agentur für Umwelt und Kontrolle des Energieverbrauchs (Agence de l’Environnement et de la Maîtrise de l’Énergie, ADEME) Geldmittel für die Eindämmung des kontaminierten Grundwassers, während Sandoz das Grundwasser auf freiwilliger Basis weiterhin überwachte und behandelte. Im Oktober 2000 beauftragte die ADEME die Beratungsfirma Gester mit der Bewertung der Situation anhand der vorhandenen Daten sowie mit der Entnahme weiterer Grundwasserproben.
Start der ersten Sanierungsmassnahmen
In den Jahren des Betriebs der Industriekläranlage hatte die Asphalt- und Betonschicht über der HCH-Grube Verschleisserscheinungen erfahren, und man stellte fest, dass sich Risse bildeten. Ende 2002 erfolgten Reparaturarbeiten auf dem Parkplatz, um dessen Wasserdichtigkeit und den Regenwasserabfluss zu verbessern und so das Eindringen von Wasser in den Boden zu begrenzen.
Im Rahmen dieser Massnahmen pumpte man Grundwasser ab. Dadurch wurde einerseits dessen Belastung mit schwebendem HCH gesenkt und anderseits verhindert, dass kontaminiertes Wasser in den Rhein fliessen konnte. In der Folge fiel die Konzentration der HCH-α- und -γ-Isomere unter den Grenzwert. Es traten jedoch schwankende Konzentrationen der β- und δ-Isomere von bis zu mehreren Dutzend μg/l auf.
Als Folge der abnehmenden chemischen Produktionsaktivitäten im Raum Basel-Stadt startete Novartis im Jahr 2011 ein Projekt zur Umleitung des unbehandelten Abwassers in die modernisierte Kläranlage ProRheno. Nach dem Abschluss des Umleitungsprojekts wurde die Kläranlage in Hüningen im Dezember 2012 geschlossen. Gleichzeitig dekontaminierte Novartis das Gebiet des früheren Rheinhafens St. Johann und baute es zu einer öffentlichen Uferzone mit einem Radweg um, der die Schweiz und Frankreich miteinander verbindet. Bei den Vorbereitungen für die Schliessung der Industriekläranlage erörterte Novartis die Idee, das Areal sanieren zu lassen, obwohl das Unternehmen für dessen Kontaminationen in keiner Weise verantwortlich war. Es wurden denn auch detaillierte Standortuntersuchungen durchgeführt, um die Kontamination des Bodens und des Grundwassers präziser beurteilen zu können.
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