Die Uhren zurückstellen
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Ein wenig wie Kochen
Umfangreiche Screenings
Notwendige Risiken
Transplantate aus iPS
Zuckungen in der Petrischale
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Menschen
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Erfahrung und Gefühl

Als Matthias Müller von der Entdeckung von induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) erfuhr, war ihm sofort klar, dass er das auch machen wollte. Heute, knapp zehn Jahre später, hat der Biochemiker entscheidend dazu beigetragen, die Methode weiterzuentwickeln und innerhalb von NIBR zu etablieren. Bereits nutzen zahlreiche Forschungsgruppen das grosse Potenzial der iPS, um Krankheitsmechanismen zu studieren und Substanzen zu testen.

Text von Annette Ryser

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Dieser Artikel wurde ursprünglich im August 2015 publiziert.
Publiziert am 30/06/2020

Ein Wunder der Natur: Eine winzige, befruchtete Eizelle trägt das Potenzial in sich, aus sich heraus einen ganzen Menschen zu bilden – eine Fähigkeit, die Wissenschaftler als Totipotenz bezeichnen. Schon nach drei Zellteilungen haben sich die Tochterzellen jedoch so weit differenziert, dass sie diese Fähigkeit verloren haben.

Doch diese embryonalen Stammzellen können immer noch sehr viel, nämlich zu jedem beliebigen Zelltyp im menschlichen Körper heranreifen. Deshalb nennt man sie auch pluripotent. Erst die fertigen Muskel-, Nerven- oder Blutzellen sind so spezifisch ihren Aufgaben angepasst, dass sie diese Fähigkeit verloren haben.

Die Entwicklung unserer Zellen ist also eine Einbahnstrasse – zumindest im lebenden Organismus. Für Zellen im Labor wurde dieses Prinzip jedoch ausser Kraft gesetzt. Dieser Durchbruch, der zahlreichen Therapien Tür und Tor öffnete, ist hauptsächlich zwei Forschern zu verdanken: den beiden Nobelpreisträgern John B. Gurdon und Shinya Yamanaka.

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Die Uh­ren zu­rück­stel­len

Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren gelang es dem englischen Entwicklungsbiologen Sir John B. Gurdon an der Oxford University, den Frosch Xenopus zu klonen.

Dazu transplantierte er den Zellkern aus einer erwachsenen Darmzelle in ein Froschei. Dieses entwickelte sich in der Folge zu einem Embryo, der genetisch mit dem Spender des Zellkerns identisch war. Gurdon konnte damit zeigen, dass es möglich ist, noch einmal von vorne zu beginnen und die Uhren quasi auf null zu stellen.

40 Jahre später fand der japanische Mediziner Shinya Yamanaka her-aus, dass es nicht nötig ist, einen Klon herzustellen, sondern dass sich fast jede adulte Zelle in eine Stammzelle zurückverwandeln lässt. Diese künstlich reprogrammierten Zellen nannte der Forscher «induzierte pluripoten-te Stammzellen» (iPS).

Die Ergebnisse von Gurdon und Yamanaka stellten das Wissen über die Entwicklung von Zellen komplett auf den Kopf. Für ihre grundlegenden Erkenntnisse erhielten beide 2012 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie.

«Als Yamanaka 2006 seine Ergebnisse publizierte, war das Echo in Wissenschaft und Medien riesig», erinnert sich Matthias Müller, iPS-Spezialist im Department Developmental and Molecular Pathways (DMP) der Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR). «Uns war sofort klar, welch faszinierende Entdeckung das war», so der Biochemiker. Aufmerksam auf die Methode wurde er durch die E-Mail eines Kollegen: «Zusammen mit meinem Laboranten studierten wir danach den Artikel in der Zeitschrift ‹Cell›. Und wir haben beide sofort zueinander gesagt: Das machen wir auch.»

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Mo­ra­lisch über­le­gen

2006 war Müller bereits Lab Head bei NIBR und auf die Herstellung von transgenen Mäusen spezialisiert. Die Herstellung von iPS musste sich jedoch wie die meisten neuen Technologien zuerst etablieren. Als NIBR Basel vor vier Jahren auf den Zug aufsprang, war Matthias Müller der Mann der Stunde und wurde mit der Aufgabe betraut. Seither hat der Wissenschaftler die Methode wesentlich weiterentwickelt. Inzwischen gehört sie innerhalb von NIBR zum Standard.

«An iPS interessant ist für Forscher vor allem, dass sie die umstrittenen embryonalen Stammzellen meist überflüssig machen», erklärt Müller.

Um die Zellentwicklung zu studieren, hatten Forscher bisher auf Stammzellen aus menschlichen Embryonen zurückgreifen müssen, die bei In-vitro-Fertilisationen übrig geblieben waren. Dies wurde aus ethischen Gründen immer wieder infrage gestellt. Auch ist die Forschung streng reguliert.

In den vergangenen Jahren haben sich iPS daher gegenüber den embryonalen Stammzellen längst etabliert. Den Forschern von NIBR dienen sie heute vor allem dazu, Zellkulturen zu züchten, die genetisch von einzelnen Patienten abstammen und deren krankmachende Gene in sich tragen.

«Aus den iPS lassen sich dann theoretisch alle möglichen Zelltypen herstellen, viele Krankheitsaspekte nachstellen und diese auf zellulärer Ebene untersuchen», erläutert Müller. An den so veränderten Zellen lassen sich daraufhin Substanzen testen, die für die Entwicklung eines Wirkstoffs in Frage kommen.

Künftig soll es zudem möglich sein, iPS für die Gen- und Zelltherapie zu verwenden. So ist es denkbar, aus Patientenzellen via iPS genetisch korrigierte Transplantate zu generieren, die beim Patienten keine Abstossung auslösen sollten.

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Ein we­nig wie Ko­chen

«Interessanterweise ist die Methode zur Herstellung von iPS seit den Studien von Yamanaka praktisch die gleiche geblieben», erklärt Matthias Müller. Die japanischen Forscher hatten damals vier Transkriptionsfaktoren identifiziert, die – exprimiert in jeder beliebigen Zelle – diese in eine Stammzelle zurückverwandeln können. Das Prozedere wurde in den darauffolgenden Jahren zwar weiter perfektioniert, jedoch nicht grundsätzlich verändert.

«Schwierig ist das eigentlich nicht – und wird von Forschungsunternehmen daher auch schon teilweise ausgelagert», so Müller. Muss es schnell gehen oder sind es ungewöhnliche Zellen, die reprogrammiert werden müssen, stellt er sie mit seinem Team aber noch selber her.

Die eigentliche Herausforderung sei jedoch die nachfolgende Differenzierung der iPS zum gewünschten Zelltyp. Müller: «Das ist ein wenig wie Kochen: Für den Erfolg braucht es eine gewisse Erfahrung, Talent und Gefühl.»

Manchmal dauert es Monate bis zum gewünschten Zelltyp. Monate, in denen die Zellen in Brutkästen gelagert und regelmässig auf ihre Qualität geprüft werden. Täglich müssen die Forscher das Nährmedium wechseln und bestimmte Substanzen zugeben, die einem strengen Protokoll folgen. «Dazu kommen noch Varianzen, die auf die genetischen Unterschiede im Patientenmaterial oder in der Reprogrammierung zurückzuführen sind», ergänzt Müller. Dank seinem Engagement konnten die Methoden in den rund vier Jahren, seit sich Müller und sein Team um die iPS kümmern, jedoch stetig verbessert und innerhalb von NIBR verankert werden. Besonders im Departement DMP arbeitete er schon mit vielen Forschungsgruppen eng zusammen, die inzwischen lieber auf Zellkulturen aus iPS statt auf klassische Zelllinien oder Primärzellen zurückgreifen. «Durch die offene Laborstruktur im Chipperfield-Gebäude werden diese Interaktionen noch begünstigt. Die Wege sind bei uns kurz.»

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Um­fang­rei­che Scree­nings

Beispielsweise arbeitete Müller 2014 mit Forschern der Disease Area Musculoskeletal (MSD) und DMP zusammen, um aus einer Hautzelle eines Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) Motoneuronen herzustellen. Ein Teil der ALS-Patienten haben einen Gendefekt, der dazu führt, dass sich in den Motoneuronen Aggregate aus RNA bilden. Da diese möglicherweise bei der Entstehung der Krankheit eine Rolle spielen, suchen die Forscher einen Wirkstoff, um die Aggregate aufzulösen. Dank diesen Zellen konnten bereits mehrere Substanzen darauf getestet werden, ob sie diese Eigenschaft aufweisen.

Man fand einige vielversprechende Kandidaten, die derzeit weiter untersucht werden. «Bisher liegt unser Rekord beim Screening-Umfang bei fast 100 000 Substanzen», sagt Müller stolz. Solche Mengen sind nur möglich, wenn die Zellen eine hervorragende Qualität aufweisen und die Interaktion mit den Screening-Spezialisten vom Center for Proteomic Chemistry (CPC) reibungslos läuft.

Der Erfolg gibt Müller recht. Die iPS-Technologie ist heute von grosser Bedeutung für NIBR und kommt etwa auch bei der Weiterentwicklung der CRISPR-Technologie zum Einsatz. Die Neuroscience-Gruppe wurde im Jahr 2013 mit der iPS-Methode als einer der Schlüsseltechnologien ganz neu aufgestellt.

Dennoch waren iPS lange Zeit umstritten. «Wir hatten einige Herausforderungen zu meistern», sagt Müller rückblickend. Die Methode ist noch immer recht teuer, was hauptsächlich daran liegt, dass die Differenzierungsphase viel Zeit und Aufwand benötigt. Zudem gibt es Unterschiede bei den Zelltypen: Einfacher herzustellen sind Neuronen und Herzmuskelzellen, da man sehr viel über deren Entwicklung weiss. «Bei anderen Zellen, wie etwa Leberzellen, müssen wir manchmal improvisieren und die Methode in kleinen Schritten weiterentwickeln», so Müller.

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Not­wen­di­ge Ri­si­ken

Probleme können auch auftreten, weil die differenzierten Zellen zu jung sind. Denn nach drei Monaten in der Petrischale entspricht der Entwicklungsstand einer menschlichen Zelle noch immer jenem im Fötus. «Bei einigen Zelltypen ist dies ein Problem. So reagieren zum Beispiel die Leberzellen eines Fötus in vielen Dingen anders als die eines Erwachsenen», erklärt Müller.

Gerade für das Testen von toxischen Medikamentenwirkungen sei das relevant. Innerhalb der Leber-Initiative von NIBR will das Team um Müller daher Methoden erforschen, um den Alterungsprozess künstlich zu beschleunigen.

Überhaupt zeigt sich die Gruppe innovativ in der Weiterentwicklung der Methode. Matthias Müller: «Manchmal sind die bestehenden Protokolle zu kompliziert und zu schwierig in der Anwendung. Wir sind stets auf der Suche nach Vereinfachungen und Abkürzungen.»

Letztlich gebe es aber noch immer viele Unsicherheiten und damit auch ein gewisses Risiko, dass die finalen Zelltypen den Anforderungen nicht genügen. «Dieses Risiko muss man eingehen, da führt kein Weg dran vorbei. Man muss bereit sein, Zeit zu investieren und mit einer gewissen Unsicherheit zu leben – dann eröffnet sich einem das riesige Potenzial von iPS.»

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Matthias Müller in seinem Labor auf dem Novartis Campus in Basel, wo er induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) bis zum gewünschten Zelltyp differenziert. Die Zellen werden dabei mit Nährlösung versorgt, in Brutkästen gelagert und regelmässig auf ihre Qualität und Eigenschaften überprüft.

Trans­plan­ta­te aus iPS

Anders als in der pharmazeutischen Forschung ist die Verwendung von iPS für Stammzelltransplantate dagegen noch Zukunftsmusik. Doch die Hoffnungen sind gross. Der erste klinische Versuch mit einem solchen Transplantat startete erst im letzten Herbst am RIKEN-Institut im japanischen Kobe. Eine an der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) erkrankte Patientin erhielt dabei ein Stück retinales Pigmentepithel transplantiert, das aus ihren Hautzellen hergestellt worden war. Auch Novartis engagiert sich diesbezüglich im ophthalmologischen Bereich, weil hier zurzeit die Erfolgsaussichten am grössten sind.

«In anderen Bereichen sind wir heute einfach noch nicht so weit», findet Matthias Müller. Das grösste Problem sei die Sicherheit. Insbesondere die Methode zur Herstellung von iPS birgt ein gewisses Risiko, dass diese Zellen früher oder später Krebs entwickeln.

«Im Mutterleib unterliegt die Embryonalentwicklung einer strengen Selektion», so Müller. Diese Prozesse führen dazu, dass das entstehende Leben mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit lebensfähig ist. Diese Selektionsprozesse lassen sich im Labor bisher kaum imitieren. «Doch um solche Zellen therapeutisch einzusetzen, muss ihr Genom absolut sauber sein. Wir können keinem Patienten Zellen oder Organe transplantieren, von denen wir nicht sicher sind, dass sie kein Risiko darstellen.»

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Myotuben (grün), in Kokultur mit iPS-abgeleiteten Neuronen gezüchtet (rot).

Zu­ckun­gen in der Pe­tri­scha­le

Gerade weil noch so viel Potenzial besteht, die Entwicklung rasant vorwärts geht und viel Hoffnung auf dieser neuen Technologie ruht, ist die Arbeit für Müller noch immer eine Herausforderung – und ein Traumjob. «Es gibt keine Routine, es ist immer wieder spannend. Und es ist faszinierend, zu verfolgen, wie sich unsere Zellen entwickeln.»

In Zukunft will er mit seinem Team die bestehenden Verfahren verfei-nern sowie komplexere Systeme entwickeln, die aus verschiedenen Zelltypen in drei Dimensionen bestehen. «Wir konnten bereits Mischkulturen von Motoneuronen und Muskelzellen herstellen: Wenn die Zelltypen interagieren, sehen wir in der Petrischale die Kontraktionen – wie sonst im lebenden Skelettmuskel. Das ist toll anzusehen.»

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