Was lernen wir daraus?
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Wissenschaft
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Mut zu transformativen Therapien

Bei der Entwicklung von Arzneimitteln geht es vor allem darum, auf kluge Weise Risiken einzugehen und auf die Zukunft zu setzen.

Text von Jovana Rakovic und Goran Mijuk, lllustration von Lehel Kovács, Fotos von Laurids Jensen

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Thomas Holbro: Gross denken!

Publiziert am 20/09/2023

Thomas Holbro durchlebte 2017 eine besonders schwierige Zeit seiner Karriere. Eine wichtige Studie im Bereich der akuten Herzinsuffizienz, die er im Rahmen seiner Tätigkeit in der Abteilung Global Drug Development (GDD) von Novartis betreute, hatte gerade neutrale Ergebnisse geliefert. Er wurde damit beauftragt, die Daten hinsichtlich der wichtigsten Erkenntnisse zu sichten.

Es hätte auch ganz anders kommen können. Das Ergebnis der Studie war mit Spannung erwartet worden und hätte Novartis neue Impulse gegeben, ihre Führungsposition im Bereich der Kardiologie auszubauen. Zwar belegten Daten aus früheren klinischen Studien die Wirksamkeit des Wirkstoffs. Die Tests in der Spätphase der Entwicklung konnten die ersten Ergebnisse jedoch nicht bestätigen.

Misserfolge in der Spätphase sind immer sehr enttäuschend und ziehen bei den beteiligten Teams erhebliche Verunsicherung nach sich, möglicherweise mit persönlichen oder sogar grösseren organisatorischen Konsequenzen. Diesmal war es anders. Auf höchster Führungsebene war man sich bewusst, dass Fehlschläge zur Arzneimittelforschung gehören. »Unsere Führung hat deutlich gemacht, dass wir das Programm in einem kleineren Rahmen weiterführen sollten. Man teilte uns im Vorfeld auch mit, dass wir bleiben und später ein neues Programm übernehmen sollten», erklärte Holbro bereits 2018 gegenüber live.

Das nahm den Druck von Holbro und seinen Kolleginnen und Kollegen und motivierte sie auch, wachsam zu bleiben und möglichst viele Informationen zu sammeln, die bei den nächsten Studien von Nutzen sein könnten. Dies, so hoffte man seitens der Führungsriege, würde ihnen auch zusätzliche Motivation verleihen.

Genauso kam es auch – wenn nicht sogar noch besser. Holbro wechselte in die Leitung eines anderen Programms, das sich nun als potenzieller Gamechanger bei mehreren Krankheitsindikationen erweist.

In grossen Dimensionen denken

»Als Wissenschaftler habe ich mich immer von Fakten leiten lassen, und die aus der fehlgeschlagenen kardiovaskulären Studie gewonnenen Erkenntnisse halfen mir auch bei den darauffolgenden klinischen Tests, die ich leitete. Darüber hinaus hat mich das Vertrauen der Unternehmensleitung motiviert, weiterzumachen.»

Der Motivationsschub kam zur rechten Zeit, denn anspruchsvoller hätte das folgende Programm kaum sein können. Kollegen der Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR) hatten einen neuen Wirkstoff für den Einsatz bei einer Reihe von Erkrankungen entwickelt, bei denen das Komplement­system, ein Teil des menschlichen Immunsystems, gestört ist.

Abgesehen von den komplexen biologischen Zusammenhängen des Komplementsystems und der schwierigen Entscheidung darüber, welche der vielen möglichen Indikationen zuerst verfolgt werden sollte, stand das Team vor der zusätzlichen Herausforderung, Studien in seltenen Krankheitsbereichen aufzusetzen, die aus medizinischer und betriebswirtschaftlicher Sicht stets anspruchsvoll sind. Das Team war jedoch von den zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem enormen Patientenbedarf überzeugt.

Um Zeit zu gewinnen und Bedenken hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen auszuräumen, taten sich die Kollegen von NIBR und das Entwicklungsteam von Holbro frühzeitig zusammen, um eine Phase-II-Studie zu erstellen, die als Proof-of-Concept-Test diente und gleichzeitig Schlüsselfragen für die weitere Entwicklung beantwortete.

Das funktionsübergreifende Team unternahm dann noch einen weiteren ungewöhnlichen Schritt. Anstatt die Substanz nacheinander in verschiedenen Krankheitsbereichen zu testen, starteten sie mehrere Studien parallel. »Die Gründe dafür waren relativ einfach. Erstens war es aus wissenschaftlicher und strategischer Sicht sinnvoll, zweitens war es aus Patientensicht valide und drittens war es auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht überzeugend, da wir durch den Aufbau ‹einer Pipeline in einer Pille› notwendige Synergien schaffen konnten», so Holbro.

Ausserdem dachten sie in grossen Dimensionen, wenn es um Studien im fortgeschrittenen Stadium ging. »Wir haben eine direkte Vergleichsstudie mit dem wirksamsten Medikament auf dem Markt entwickelt und beschlossen, unseren Wirkstoffkandidaten auf Überlegenheit zu testen», erläutert Holbro. »Die Studie würde nur dann zu einem positiven Ergebnis führen, wenn wir bessere Ergebnisse lieferten als das derzeitige Standardmedikament.»

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Marion Dahlke: Fürsorge für Patienten.

Was ler­nen wir dar­aus?

»Unser Ziel war, so schnell wie möglich transformative Medikamente für möglichst viele Patienten zu entwickeln», so Holbro. Dies war zwar ein riskantes Unterfangen, doch die solide Grundlagenforschung für den Wirkstoff und die strategische Entscheidung, einen massgeschneiderten Entwicklungsplan zu verfolgen, waren für das Team entscheidend, um Fortschritte erzielen zu können. Eine weitere Schlüsselrolle spielte die nahtlose Zusammenarbeit im Team.

Holbro hat in dieser Zeit einiges dazugelernt, etwa möglichst frühzeitig zusammenzuarbeiten, und verweist damit auf die Zusammenarbeit zwischen NIBR und GDD beim Aufbau der Studien. »Ausserdem sollten aus meiner Sicht mehrere Indikationen frühzeitig und parallel untersucht werden, solange diese in betriebswirtschaftlicher Hinsicht kompatibel sind. Und es braucht Entwicklungsarbeit für transformative Therapien, die mit dem betreffenden Wirkstoff erzielt werden können.»

Dies bedeutet im Wesentlichen, klinisch aussagekräftige Studien im Kontext bestehender Therapien zu konzipieren. »Wir müssen auf intelligente Weise Risiken eingehen. Natürlich kann man sich für eine viel umfangreichere Studie entscheiden, weichere Endpunkte setzen oder zeigen, dass sie mit bereits Vorhandenem vergleichbar ist. Dann wird die Studie einfach länger dauern. Doch wenn man nachweisen will, dass der eigene Wirkstoff besser und überlegen ist, dann sollte man von einem Behandlungseffekt ausgehen, der tatsächlich zeigt, dass die eigene Therapie den Patienten zusätzlichen Nutzen bringt.»

Im Nachhinein sieht das vielleicht ganz einfach aus. Doch Holbro ist überzeugt, dass das Unternehmen diese Leistung auch in Zukunft wiederholen kann.

Teamgeist

Dafür ist Teamgeist entscheidend. Für Holbro steht die Zusammenarbeit ganz im Mittelpunkt. «Ich glaube, dass Menschen grundsätzlich gerne zusammenarbeiten, einander zuhören, voneinander lernen und sich gegenseitig für ein gemeinsames Ziel oder einen gemeinsamen Zweck unterstützen. Zumindest ist dies meine naive Sicht auf die Menschen», erläutert er.

Nach einigen Teamwechselzyklen, bei denen das Programm erweitert und weiterentwickelt wurde, ist Holbros Sicht der Dinge auch pragmatisch. Der stetige Mitarbeiterzuwachs sorgt dafür, dass die Dinge ständig in Bewegung sind. Während es anfangs die Kerngruppe war, die am Projekt beteiligt war und die Einarbeitung neuer Teammitglieder effizient gestaltete, sind es nun das kollektive Wissen und der Teamgeist, die über eine kritische Masse hinausgewachsen sind und den Erfolg ausmachen.

«Wenn ein neuer Mitarbeiter ins Team kommt, fordere ich ihn jeweils auf, ein Dokument auszuwählen, das für seine Arbeit höchste Relevanz besitzt. Ich weiss nicht einmal, wie viele Dokumente wir haben, und aufgrund des Umfangs und der Geschwindigkeit des Programms veralten die Dokumente auch sehr schnell. Dann rate ich den Neuankömmlingen, sich den Rest der Woche mit den Kollegen zu unterhalten. So lernen sie das Team kennen, bauen Vertrauen auf und erfahren, was gerade aktuell und ‹heiss› ist – das steht in keinem Dokument», sagt Holbro.

Diese kollaborative Einstellung und die Leichtigkeit des Einarbeitens erklären wahrscheinlich auch, warum Holbro wenig Schwierigkeiten hatte, Teamkollegen zu finden, die sich seinem Aufruf anschlossen, als er das neue Projekt in Angriff nahm.

Eine von ihnen war Marion Dahlke, die vor etwa 15 Jahren als Ärztin zu Novartis stiess und zunächst bei NIBR einstieg, bevor sie in die Arzneimittelentwicklung wechselte, wo sie im Herz-Kreislauf-Bereich tätig war. «Thomas kam auf mich zu und fragte mich, ob ich wieder mit ihm zusammenarbeiten wolle, dieses Mal an etwas anderem», erzählt Dahlke. «Er sagte mir, es sei ein aufregendes neues Programm. Es handle sich um seltene Krankheiten. Das Team sei grossartig. Und ich habe ihm geglaubt.»

Dahlke, die zuvor mit Holbro an der Studie über akute Herzerkrankungen gearbeitet hatte, wechselte das Team und schloss sich ihm an. «Es sind immer die Menschen, die den Unterschied ausmachen», sagt sie. «Wenn das Team engagiert ist und eine Wir-können-es-Haltung an den Tag legt, ist vieles möglich. Aber es kommt auf ein paar Einzelne an, die den Wandel herbeiführen – Menschen, die andere mitnehmen und sagen: ‹Lasst es uns versuchen. Wir können nicht sicher sein, ob es funktioniert, aber wir werden es nie erfahren, wenn wir es nicht versuchen.›»

Die Patientinnen und Patienten im Blick

Ihre Motivation war es schon immer, Patienten in Not zu helfen, insbesondere jenen, die an schweren Krankheiten mit begrenzten Behandlungsmöglichkeiten leiden. «Im Grunde meines Herzens bin ich immer noch Ärztin», sagt sie denn auch.

Was sie am meisten an diesem Projekt reizte, war die Tatsache, dass die Studien auf seltene und schwere Krankheiten ausgerichtet waren. Auch die Tatsache, dass innovative Endpunkte und die Bewertung von Patientenberichten in der Studie berücksichtigt wurden, hat sie an diesem Projekt gereizt.

«Zusammenarbeit ist von Anfang an wichtig, denn in frühen Studien können viele Dinge passieren, die für die spätere Entwicklung von Bedeutung sind. Eine frühzeitige Kommunikation in Bezug auf Sicherheit und Dosisfindung ist entscheidend», betont Dahlke.

Dahlkes Motivation ist nicht zuletzt persönlicher Natur, da sie selbst eine medizinische Behandlung durchlaufen hat, die sie vor ähnliche Herausforderungen stellte wie die Teilnehmer der von ihr durchgeführten Studien. «Ich weiss sehr wohl, welchen Unterschied selbst eine scheinbar kleine Veränderung im Leben eines Menschen machen kann. Und bei solchen Behandlungen, die eine Veränderung bewirken können, müssen wir auch vorausschauend denken. Bei seltenen Krankheiten ist der Zugang nach der Studie sehr wichtig», betont Dahlke.

Im Gegensatz zu häufigen Krankheiten, für die es in der Regel viele Behandlungsmöglichkeiten gibt, sind die Wahlmöglichkeiten für Patienten mit seltenen Krankheiten bekanntermassen begrenzt. «Eine weitere wichtige Aufgabe war es, eine Lösung zu finden, damit die Patienten auch nach Abschluss der Hauptstudie Zugang zum Medikament haben», ergänzt Dahlke.

Aus diesem Grund hat sie auch an einem sogenannten Rollover Extension Program mitgewirkt, das es Patienten unter bestimmten Bedingungen ermöglicht, nach dem Ende einer Hauptstudie die Behandlung gegebenenfalls fortzuführen.

Die Herausforderungen bei der Zusammenführung von Fachwissen, das sich über Indikationen, Funktionen und Regionen erstreckt, sind vielfältig, aber dieses Programm gibt einen Einblick, wie mutige Ansätze zur Zusammenarbeit neue Standards setzen und die Arzneimittelentwicklung beschleunigen können, schliesst Dahlke.

Sie ist ebenso wie Thomas Holbro davon überzeugt, dass eine mutige Denkweise und das Ziel, transformative Therapien zu entwickeln, dem Team geholfen haben, die Extrameile zu gehen – eine Leistung, die ihrer Meinung nach künftig zur Norm werden sollte.

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