Die Mutter der Medizin
Entwicklung der Chemie
Goldene Ära der Naturstoffforschung
Neuer Anlauf in der Naturstoffforschung
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Schatzkammer der Medizin

Heilpflanzen und Naturstoffe wie Pilze oder Mineralien werden seit Jahrtausenden zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen eingesetzt. Ihr Gebrauch ist Ausdruck der tiefen Verbundenheit zwischen Mensch und Natur. Wurden Heilpflanzen zuerst mit magischen und göttlichen Kräften in Verbindung gebracht, erfassten ägyptische, griechische und persische Ärzte sie in einem medizinisch-rationalen System, bis die ersten isolierten Naturstoffe zu Beginn des 19. Jahrhunderts chemisch analysiert und zu Wegbereitern der modernen pharmazeutischen Industrie wurden. Durch die Fähigkeit, Reinsubstanzen aus Pflanzen zu isolieren, rückten Naturstoffe ins Zentrum des pharmazeutisch-wissenschaftlichen Interesses. Dieser Trend hielt ungebrochen an, bis die raschen Fortschritte in der synthetischen Chemie die Erforschung von Millionen künstlich hergestellter Moleküle ermöglichten. Mit der Entwicklung neuester Technologien scheint sich die Türe zu einer neuen Ära der Naturstoffforschung zu öffnen.

Text von Goran Mijuk, Fotos von Jan Räber

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Dieser Artikel wurde ursprünglich im April 2014 publiziert.

Es muss ein hektischer Tag im Labor des Londoner St. Mary’s Hospital gewesen sein – so ganz genau lässt sich das nicht mehr sagen, zu viel ist seit dieser Zeit geschehen –, als sich Alexander Fleming in die Sommerferien aufmachte. Es galt wohl noch Briefe zu schreiben und abzuschicken und die letzten Versuche, die der schottische Bakteriologe durchgeführt hatte, mussten ebenfalls noch dokumentiert und ins Reine geschrieben werden. Irgendjemand hätte das Labor noch gründlich aufräumen sollen, kam es ihm in den Sinn, doch dazu kam es nicht mehr. Fleming schloss hinter sich die Tür, verabschiedete sich von seinen Kollegen, fuhr zum Bahnhof und setzte sich in den Zug, der ihn an die südenglische Küste brachte, wo er sich die nächsten Wochen erholen würde. Eine Petrischale mit einer Bakterienkultur, an die er im Tumult der letzten Stunden nicht mehr gedacht hatte, blieb unbemerkt zurück.

So oder ähnlich könnte eine der grössten Entdeckungen der medizinischen Forschung ihren Anfang genommen haben. Später erinnerte sich Fleming noch ganz genau an den 28. September 1928, als er aus den Ferien zurückkam und etwas verwundert das Durcheinander erblickte, in dem er das Labor zurückgelassen hatte. Er hätte kaum gedacht, so erklärte er Jahre darauf, als er bereits mit dem Nobelpreis für seine Entdeckung des Penicillins ausgezeichnet worden war, dass an diesem Tag die Geschichte der Medizin grundlegend verändert werden würde. «Doch», so meinte der schottische Forscher lakonisch, «genau so kam es.»

Anstatt die vergessene und scheinbar verschmutzte Petrischale mit den Staphylokokken wegzuwerfen, warf er einen genauen Blick darauf und bemerkte, dass sich in der Mitte ein Schimmelpilz gebildet hatte, um den herum die gefährlichen Staphylokokken abgestorben waren. Sein Assistent wies ihn darauf hin, dass es sich hierbei vielleicht genau um jenen Stoff handeln könnte, nach dem sie schon so lange gesucht hatten: einen potenten Bakterienkiller.

Fleming, der während des Ersten Weltkrieges im Royal Army Medical Corps seinen Dienst versah, hatte sich der Bakteriologie verschrieben und suchte hartnäckig nach einem wirkungsvollen antiseptischen Stoff. Er musste miterleben, wie Ärzte hilflos dabeistanden, als Hunderttausende von Soldaten während des Krieges an bakteriellen Wundinfektionen starben. Selbst eine Wunde, die man sich beim Rasieren zufügte, konnte leicht zum Tod führen.

Fleming suchte zunächst nach sogenannten Autovakzinen, wobei er sich die Frage stellte, wie Körperöffnungen wie das Auge sich gegen den Ansturm von Bakterien und anderen Fremdkörpern wehrten. Dabei entdeckte er das Enzym Lysozym, das in zahlreichen menschlichen Körpersekreten wie Tränen vorkommt und Bakterien zerstören kann. Die Entdeckung des Penicillins aus dem Schimmelpilz der Gattung Penicillium, das viel wirkungsmächtiger war als Lysozym, war der wissenschaftliche Durchbruch und sollte die Medizin revolutionieren.

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Speiserübe aus dem Wiener Dioskurides.

Die Mut­ter der Me­di­zin

Die Geschichte der Medizin wäre ohne Heilpflanzen undenkbar. Bereits im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist ihr Gebrauch auf Tontafeln in Mesopotamien dokumentiert. Die ägyptische Papyrusrolle Ebers, die auf 1500 vor Christus datiert wird, verzeichnet über 800 Heilpflanzen und beschreibt ihre Anwendung und selbst ihre Dosierung im Detail. Die fast 20 Meter lange Rolle bespricht die Behandlung von Augenkrankheiten, Tumoren sowie von Verletzungen wie Knochenbrüchen und Verbrennungen und enthält auch Informationen zur Anatomie. Selbst seelische Leiden wie die Melancholie finden Eingang in diesen frühen Medizinatlas, der heute in der Universitätsbibliothek in Leipzig aufbewahrt wird. Auch in China und Indien, wo die Ayurveda-Medizin entwickelt wird, entstehen zur selben Zeit ähnliche Kompendien.

Doch dieses Wissen speist sich noch grösstenteils aus dem magischen Denken der Frühzeit, als die Natur nicht nur geheimnisvoll, sondern auch als angsteinflössend und bedrohlich wahrgenommen wurde. Der griechische Dichter Homer münzt zwar das Wort «pharmakon», das die Wur-zel für unseren Begriff «Pharmazie» bildet, lässt es aber eher als Zaubermittel verstehen, das sowohl Gift als auch Heilmittel sein kann. Dieser Gedanke sollte später im berühmten Ausspruch von Paracelsus einen Widerhall finden, dass «alle Dinge Gift [sind], und nichts ohne Gift [ist]; allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei». Odysseus erhält deshalb im Kampf gegen die Zauberin Kirke, die seine Weggefährten auf der Irrfahrt von Troja nach Ithaka in Schweine verwandelt hatte, von Hermes eine Art «pharmazeutischen» Gegenzauber göttlichen Ursprungs.

Unter dem Einfluss der Philosophie von Platon und Aristoteles entwickelt sich in Griechenland und Rom ein rationaler Zugang zur Medizin, wobei Logik und Systematik weiter vorangetrieben und das magische Denken immer stärker, wenn auch nicht ganz, zurückgedrängt werden. Dabei stellt die «Materia Medica» des griechischen Arztes Dioskurides, der während der Regentschaft von Nero und Claudius lebte und durch seine Tätigkeit als Militärarzt das ganze Römische Reich bereisen konnte, einen medizingeschichtlichen Höhepunkt dar. In seinem Buch listet Dioskurides rund 1000 Arzneimittel auf, darunter auch tierische und mineralische, die für über 4000 Anwendungen in Frage kommen.

Systematisch aufgeteilt nach Verwandtschaftsklassen blieb das Buch für mehr als anderthalb Jahrtausende das medizinische Standardwerk im Westen. Es bildete auch den Grundstock für die Forschungstätigkeit in Bagdad, das nach dem Untergang Roms zum Zentrum des medizinischen Wissens wurde, während Europa im Chaos der Völkerwanderung versank, aus dem der Kontinent erst im Hochmittelalter zu Beginn des 11. Jahrhunderts herausfand. Nur dank der unermüdlichen Übersetzungs- und Transkriptionstätigkeiten aus byzantinischen und persisch-arabischen Büchern in den christlichen Klöstern gelang Europa, nach einem Jahrhunderte währenden kulturellen Abstieg, der durch Krieg, Krankheit und Hungersnöte gekennzeichnet war, der Anschluss an die entwickelte Welt und es konnte die Forschung, beflügelt vom erwachenden Geist der Renaissance, selbsttätig vorantreiben.

Die Erfindung des Buchdrucks, nur wenige Jahrzehnte nachdem die Pest einen Drittel der europäischen Bevölkerung dahingerafft hatte, beschleunigte den wissenschaftlichen Fortschritt. In Europa entbrannte ein nie gekannter Entdeckungseifer, der bis heute nicht abgerissen ist und die ganze Welt erfasst hat, in der Wissen nicht nur Macht, sondern Fortschritt, Wohlstand und Gesundheit bedeutet.

Kräuterbücher, wie die «Historia Stirpium» (Basel, 1542) des deutschen Botanikers Leonhart Fuchs mit seinen detailtreuen Pflanzenabbildungen sowie das Brauchtum erhielten das Wissen um die Heilpflanzen aufrecht. Und Ärzte wie der in Basel lehrende Paracelsus, der sich gegen die Tradition auflehnte und gängige medizinische Lehren in Frage stellte, legten den Grundstein für ein neues medizinisches Denken, das durch Ideen wie «quinta essentia», welche die Wirkung von Heilpflanzen in ihren Inhaltsstoffen postulierte, die begriffliche Grundlage für die moderne Chemie schuf.

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Illustration aus dem berühmten Kräuterbuch von Leonhart Fuchs aus dem Jahre 1543.

Ent­wick­lung der Che­mie

Was mit der Alchemie, auch wenn sie in ihrem Denken dem Magischen verhaftet blieb, ihren Anfang im Mittelalter nahm, setzte sich in der Neuzeit immer stärker durch: Neben dem Versuch, die Welt rational und durch Prinzipien und Theorien zu verstehen, erhalten wissenschaftliche Experimente eine immer grössere Bedeutung. Behauptungen bleiben nicht einfach mehr im Raum stehen, sondern werden im Labor überprüft. Die Wissenschaft als experimentelle Methodik nimmt ihren Lauf, die Autorität der Kirche wird in Frage gestellt und selbst die hochgeschätzten Autoren des Altertums stehen auf dem Prüfstand: Die alten Zöpfe werden jetzt abgeschnitten.

Der grosse französische Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier entdeckt die Oxidation bei seinen Versuchen, die ursprünglich vom alchemistischen Theorem des Phlogistons ausgehen. Denn anders als die Alchemisten ursprünglich angenommen hatten, tritt bei der Verbrennung nicht ein Stoff aus – das Phlogiston –, sondern es tritt Sauerstoff hinzu. Waage und Thermometer hatten gereicht, um das Gedankenkonstrukt, das sich auf scholastische Denker wie Thomas von Aquin stützte, in sich zusammenbrechen zu lassen. Jeder, der dies anzweifelte, konnte das Experiment wiederholen. Tradition musste sich der Überprüfbarkeit im Labor stellen.

Im Verlauf seiner bahnbrechenden Forschung beschreibt Lavoisier die Elemente als unzerlegbare Grundstoffe. Seine Entdeckung untergräbt dabei jahrhundertealtes «Wissen» und beweist, dass Wasser, Luft, Feuer und Erde, nicht wie von den griechischen Philosophen gelehrt, keine unzerlegbaren Elemente sind. So schafft er die Grundlagen der modernen Chemie.

In Deutschland ist es Sigismund Friedrich Hermbstädt, der Lavoisiers Ideen aufnimmt und verbreitet und gleichzeitig, in ideeller Anlehnung an Paracelsus, seine Kollegen auffordert, nach den aktiven Substanzen in den Heilpflanzen zu suchen. Auch wenn in Frankreich die moderne Chemie mit Lavoisier ihren Anfang nimmt, so gelingt es – völlig überraschend – zuerst dem jungen deutschen Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Sertürner, die Wirksubstanz einer Heilpflanze zu gewinnen. Aus dem Schlafmohn, dessen medizinische Wirkung bereits im «Papyrus Ebers» erwähnt wird, isoliert er das kristalline Morphium und löst damit, wie Fleming rund 100 Jahre später, einen Naturstoffboom aus.

Seine epochale Entdeckung, die gleichzeitig auch die Geburtsstunde der Alkaloid-Chemie ist, in der nach wirkungsstarken Sekundärmetaboliten in Pflanzen gesucht wird, führt zu einem Quantensprung in der Medizin. In der Folge werden während des 19. Jahrhunderts Colchicin, das aus der Herbstzeitlosen extrahiert wird, sowie Koffein, Nikotin und Codein, das ebenfalls aus dem Schlafmohn gewonnen wird, als Wirkstoffe herausgelöst.

In Reinsubstanz wird auch Kokain gewonnen, das zunächst im Vin Mariani und dann in John Pemberton’s French Wine Coca, das später als Coca-Cola die Welt erobert, zum Lebenselixier der Fin-de-Siècle-Gesellschaft wird. Grossartige Ergebnisse erzielen auch die französischen Chemiker Joseph Bienaimé Caventou und Pierre-Joseph Pelletier. Neben dem Koffein extrahieren sie Chlorophyll und Strychnin und sind in der Lage, aus der Chinarinde den Wirkstoff Chinin zu lösen und damit ein gut dosierbares Arzneimittel gegen Malaria auf den Markt zu bringen. Ihr wissenschaftlicher Erfolg spornt sie an, das erste pharmazeutische Unternehmen der Welt zu gründen.

Die aus der Myrte und der Weidenrinde gewonnene Salicylsäure wird gegen fiebrige Erkältungen und Kopfschmerzen eingesetzt. Beide Heilpflanzen fanden bereits bei den ägyptischen Ärzten und bei Hippokrates als Arzneimittel Verwendung. Doch durch ihre Nebenwirkungen ist der Wirkstoff im Markt erfolglos. Erst mit der Weiterentwicklung durch den jungen Bayer-Chemiker Felix Hoffmann gelingt der Durchbruch. So entsteht Acetylsalicylsäure, die 1899 als Aspirin® auf den Markt kommt und zum erfolgreichsten Medikament der Geschichte wird.

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Ihre Entdeckungen sind Meilensteine in der Geschichte der Naturstoffforschung und der Medizin als Ganzes: Friedrich Wilhelm Sertürner.

Gol­de­ne Ära der Na­tur­stoff­for­schung

Die Erforschung pflanzlicher Naturstoffe ist schon weit vorgeschritten, als Fleming in den 1920er-Jahren das Penicillin aus einem Schimmelpilz entdeckt. Doch Flemings Publikation bleibt zunächst ohne Echo. Nur der englische Arzt Cecil Paine experimentiert mit dem Pilzextrakt und behandelt als Erster – auch wenn er dafür erst spät Anerkennung findet – erfolgreich Patienten. Erst als sich Forscher wie Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain, die zusammen mit Fleming den Nobelpreis für Medizin für ihre Penicillin-Forschung erhalten haben, daranmachen, die Untersuchungen weiterzuführen, kommt Schwung in die Sache. So erarbeiten sie die Grundlagen für die Isolierung des Wirkstoffs sowie die industrielle Produktion von Penicillin, das im Zweiten Weltkrieg Hunderttausenden von Soldaten das Leben rettet und für Jahrzehnte die Wunderwaffe der Medizin wird.

Die Arbeiten von Florey, Chain und Fleming revolutionierten die Pharmazeutik und spornten die globale Forschergemeinde dazu an, nach immer neuen Naturstoffen zu suchen und ihre Wirkungen zu untersuchen.

Auch die Vorgängergesellschaften von Novartis arbeiten bereits früh intensiv mit Naturstoffen. Unter der Leitung von Arthur Stoll, Forscher an der ETH Zürich, der 1917 die pharmazeutische Abteilung der bis dahin hauptsächlich im Farbstoffgeschäft tätigen Sandoz aufbaute, gelingen grosse Erfolge. Vor allem die Beschäftigung mit dem Mutterkorn, ein Schlauchpilz, der als Parasit auf Roggen und anderen Gräsern lebt und dessen medizinische Wirksamkeit seit dem Mittelalter bekannt ist, führt zu bahnbrechenden Entwicklungen. Bereits 1918 gelingt die Isolierung des Wirkstoffs Ergotamin aus dem Mutterkorn und nur einige Jahre später wird Gynergen® zur Stillung der Nachgeburtsblutung und später bei der Behandlung von Migräne im Markt lanciert. Später würde Albert Hoffmann die Mutterkornforschung weiterentwickeln und sein berühmtes LSD isolieren, das die Welt sprichwörtlich auf den Kopf stellen würde. Stoll stiess auch die Forschung mit dem Fingerhut an, der bereits im alten Ägypten zur Behandlung von Herzschwäche und dadurch bedingter Wassersucht eingesetzt wurde. Die daraus entwickelten Medikamente Digilanid® und Digoxin Sandoz® sind erfolgreiche Mittel zur Behandlung von Herzinsuffizienz.

Während der goldenen Ära der Naturstoffforschung suchen Wissenschaftler weltweit auch intensiv nach Heilpflanzen und Pilzen und testen diese auf ihre pharmazeutische Wirkung. So entdeckt man in der pazifischen Eibe einen Wirkstoff, der später unter dem Namen Taxol® von Bristol-Myers Squibb in der Krebsbehandlung erfolgreich eingesetzt wird. 1969 stösst man bei Sandoz auf einen Pilz mit immunsuppressiver Aktivität. Der Pilz, aus dem später die aktive Substanz Cyclosporin entwickelt wird, die als Sandimmun® die Transplantationsmedizin revolutioniert, entstammt einer Bodenprobe, die Sandoz-Mitarbeiter Hans Peter Frey aus seinen Ferien in Norwegen mit nach Basel gebracht hat. Auch CIBA feiert grosse Erfolge und bringt mit Serpasil® in den 1950er-Jahren ein Beruhigungsmittel auf den Markt, dessen Wirkstoff der Schlangenwurzel entstammt und bereits in der ayurvedischen Medizin eingesetzt wurde. Mit Rimactan® (Rifampicin) wird in enger Zusammenarbeit mit der ETH Zürich zudem ein potentes Antibiotikum entwickelt, das noch heute in der Behandlung der Tuberkulose zum Einsatz kommt. Als sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre die Einschätzung durchsetzt, Infektionskrankheiten könne man nun mit Penicillin und seinen Nachfolgersubstanzen effizient behandeln, wird die Antibiotikaforschung weltweit weitgehend aufgegeben und die Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf andere Krankheitsbereiche. Zudem locken neue technologische Entwick-lungen viele Forscher und Firmen, synthetische Moleküle aus der kombinatorischen Chemie zu untersuchen, die neue Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts eröffnen.

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Ringelblume (Calendula officinalis). Calendulaglykoside haben entzündungshemmende und antibakterielle Eigenschaften, tragen zu einer besseren Wundheilung bei und helfen gegen Hautausschlag.

Neu­er An­lauf in der Na­tur­stoff­for­schung

Der Rückgang der Naturstoffforschung in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ist aber nicht nur mit dem Aufkommen der kombinatorischen und synthetischen Chemie zu erklären, die mit technologischen Neuerungen wie dem High-Throughput Screening ergänzt wurde.

Aufgrund ihrer Komplexität ist die Naturstoffforschung für jeden Wissenschaftler, der sich damit befasst, äusserst anspruchsvoll: Es gehört viel Geschick und Erfahrung dazu, mikrobielle Naturstoffe in Fermentern herzustellen und sie zu extrahieren. Noch heute geraten manche Experten, die eine Struktur entschlüsseln müssen, über ihrer Arbeit ins Schwitzen und die chemische Abwandlung eines Naturstoffs gelingt oftmals erst nach eingehenden Untersuchungen und stellt in vielen Fällen eine grosse wissenschaftliche Leistung dar.

Die Gewinnung von ausreichenden Mengen eines pflanzlichen Naturstoffs etwa aus Bäumen kann auch die Umwelt stark belasten. Sandoz konnte vergleichbar mühelos Roggenfelder kultivieren, um genügend Mutterkorn für die Herstellung von Ergotamin zu erhalten. Die Herstellung von Taxol durch Bristol-Myers Squibb aus der Pazifischen Eibe war hingegen bis zur Herstellung eines halbsynthetischen Verfahrens mit grössten Schwierigkeiten verbunden. Der Wirkstoff konnte anfänglich nämlich nur aus der Rinde hergestellt werden, und auch dort nur in geringen Mengen. Da durch das Abschälen der Rinde die oft über 100-jährigen Bäume verendeten, kam zum Herstellungs- ein Umweltproblem hinzu. Die «New York Times» brachte den Sachverhalt auf den Punkt: «Save a Life, Kill a Tree?» Bereits Alexander von Humboldt wies auf seiner berühmten Südamerika-Reise auf die Gefahren der massenhaften Rodung der Chinarindenbäume hin, die für die Herstellung von Chinin eingesetzt wurden.

Viele Unternehmen zogen sich auch aus dem Bereich zurück, weil aufgrund des natürlichen Vorkommens der Naturstoffe die rechtliche Grundlage im Gegensatz zu selbst synthetisierten Grundstoffen lange Zeit ungelöst blieb. Wem gehören die Naturstoffe? Dem Entdecker oder dem Land, in dem die biologischen Quellen für die Naturstoffe liegen?

Für Novartis war dies nie ein Grund, um aus der Naturstoffforschung auszusteigen. Im Gegenteil: Das 1992 am Klimagipfel in Rio de Janeiro initiierte Biodiversitätsabkommen, das die Erhaltung der biologischen Vielfalt und ihre nachhaltige Nutzung international regelt, schaffte die notwendige rechtliche Klarheit. Novartis war dabei das erste Unternehmen, das den von der Schweiz ratifizierten Vertrag umsetzte, weil es darin die Chance sah, die Naturstoffforschung in Forschungspartnerschaften rechtlich einzubetten und gleichzeitig die Bedeutung einer intakten Umwelt für diese Art der Wirkstoffsuche zu unterstreichen.

Die erfolgreichen auf Naturstoffen basierenden Entwicklungen wie das Krebsmedikament Afinitor®, Exelon®, das gegen Alzheimer zum Einsatz kommt, und das Malariamedikament Coartem® unterstreichen immer wieder aufs Neue die Innovationskraft des Forschungsgebietes bei Novartis. So auch das potenzielle Coartem-Nachfolgeprodukt KAE609, das von Naturstoffen inspiriert synthetisch gewonnen wurde.

«Aus der Überzeugung heraus, dass diese Moleküle des Lebens auch in zukünftigen Forschungsprojekten eine wichtige Rolle spielen, hatten wir die Unterstützung unseres Managements erhalten, die Naturstoffforschung bei Novartis neu auszurichten», sagt Frank Petersen, Leiter der Naturstoffforschungsgruppe. So wurden innovative Technologien in der Naturstoffchemie eingesetzt, um die Isolierung neuartiger Substanzen noch in kleinsten Konzentrationen zu beschleunigen und der Wirkstofffindung zugänglich zu machen.

Auch in Zukunft will Novartis das Forschungsfeld weiter bearbeiten: Nicht nur sind die Naturstoffe für die Forschung äusserst ergiebig und bilden, zusammen mit ihren chemischen Derivaten, rund 30 Prozent der heutigen Pharmazeutika. Durch ihre evolutionäre Entwicklung ist jedem Naturstoff sozusagen die Eigenschaft, Zellvorgänge zu modulieren, mit in die Wiege gelegt. In manchen Fällen sind diese Wirkungsweisen vollkommen überraschend und bergen ein hohes Innovationspotenzial, das von Unternehmen, die sich mit diesen Molekülen wissenschaftlich nicht mehr befassen, nicht mehr genutzt werden kann.

«Die Technologien, Genomsequenzierung und Gensynthese sind die technischen Triebfedern der synthetische Biologie. Sie werden auch die Naturstoffforschung grundsätzlich verändern», erklärt Petersen. Dabei werden «schlafende» Naturstoffgene aufgespürt und synthetisch umgeschrieben, um sie spezifisch zu aktivieren und abzuändern. So werden Substanzen gewonnen, deren Wirkungen bislang in der Forschung nicht untersucht werden konnten. «Wir stehen sozusagen vor einer Tür, die wir soeben als einer der Ersten aufgeschlossen haben. Was wir dahinter finden werden, wissen wir heute noch nicht. Wir wissen nur, dass es ein neues Kapital der Naturstoffforschung sein wird», erklärt Petersen.

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