Auf europäischer Ebene agieren
Drei Millionen und noch mehr
Richtige Denkweise
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Wissenschaft
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Im Lauf der vergangenen fünf Jahre wurde aus einem beiläufigen Gespräch zweier Novartis-Wissenschaftler eines der grössten europäischen Forschungsprojekte, die das Gebiet der Pathologie verändern und der Medizin ein tieferes Verständnis der Zellmechanismen vermitteln sollen. Wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Kultivierung einer mutigen Denkweise waren für diesen Erfolg ausschlaggebend.

Text von K.E.D. Coan und Goran Mijuk, Fotos von Björn Myhre

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Probenvorbereitung in der Pathologieabteilung...

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Publiziert am 07/10/2022

Als Novartis 2016 den Start-up-Inkubator Genesis Labs ins Leben rief, war das Ziel des Projekts, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Platz, Zeit und Geld auszustatten, um zielstrebig eine Idee verfolgen zu können, die möglicherweise den Weg für medizinische Neuerungen ebnet.

Die Genesis Labs sollen einerseits talentierten Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, Ideen ausserhalb ihrer eigentlichen Fachgebiete weiterzuentwickeln, und andererseits die Forschungsdynamik in Randbereichen beschleunigen, die nicht zu den Kernbereichen von Novartis zählen. Den Genesis Labs gelang es in den vergangenen Jahren, immer mehr Forscher für sich zu gewinnen.

Das Programm wurde vom Novartis-Wissenschaftler Ian Hunt mitinitiiert, der Genesis Labs bis heute leitet. An dem Programm nehmen jetzt auch Ingenieure und Techniker teil, die ausserhalb des Labors arbeiten und neue Wege erproben möchten, unter anderem in Bereichen wie der medizinischen Produktion, der Verpackung oder der Qualitätssicherung.

Sie alle wollen etwas bewirken, so wie Pierre Moulin, ein ehemaliger Pathologe bei den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR), und Tobias Sing, ein Datenwissenschaftler bei NIBR, der 2017 davon träumte, das ungenutzte Potenzial der riesigen Menge an Pathologiedaten des Unternehmens zu erschliessen.

Fünf Jahre später ist aus ihrer Idee ein europäisches Vorzeige-Forschungsprojekt geworden, das eine rege Zusammenarbeit auf dem ganzen Kontinent ausgelöst hat. Ihr Erfolg hat auch gezeigt, dass die Freiheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, kühne Ideen zu verfolgen, Grosses bewirken kann.

Digitales Denken

Seit der Erfindung des Mikroskops stand in der Pathologie die sorgfältige Untersuchung von papierdünnen Schnitten biologischen Gewebes an zentraler Stelle, die in Objektträgern aus Glas eingeschlossen sind. Dieser Prozess ist der Schlüssel zum Verständnis des Aussehens gesunder Zellen und zur Identifizierung von Krankheitsanzeichen, beispielsweise bei klinischen Biopsien.

Pathologen erlernen jahrelang, diese Bilder zu entschlüsseln. In ihrer gesamten beruflichen Laufbahn analysieren sie jedes einzelne Bild sorgfältig. Dann werden all diese Bilder und Ergebnisse grösstenteils aufbewahrt – ein immenser, ständig wachsender ungenutzter Schatz.

Allein Novartis sammelt jedes Jahr über 300000 präklinische pathologische Präparate. Diese wurden jedoch in der Regel ausschliesslich im Rahmen isolierter Entwicklungsprogramme eingesetzt, und es gab keine unternehmensweiten Bemühungen, alles unter einem Dach zu vereinen.

Doch wie wäre es, wenn diese in einem zentralen, gemeinsamen Archiv im gesamten Unternehmen vereint werden könnten? Und noch ehrgeiziger: Wie wäre es, wenn sich dies mit künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning kombinieren liesse, also mit Technologien, die das Potenzial haben, immense Informationsmengen zu erschliessen, die der menschliche Verstand nicht umfassend analysieren kann?

Das dachten sich auch Moulin und Sing, als sie 2017 ihre Idee erörterten. Obwohl keine typische Aktivität von Moulin und Sing, passte ihre Idee perfekt zu Genesis Labs. Die Initiative unterstützte ihr Projekt und ermöglichte es den beiden, ein Wissenschaftlerteam zusammenzustellen, das Labor-, Analyse- und KI-Kenntnisse mitbrachte.

Das Team um Moulin und Sing nutzte die Sammlung pathologischer Präparate von Novartis, um in Rekordzeit KI-Trainingsmodelle zur raschen Identifizierung verschiedener Gewebetypen zu entwickeln. Die Ergebnisse waren so überzeugend, dass das Projekt auch nach Ablauf der 18-monatigen Förderung durch Genesis weitergeführt wurde.

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...auf dem Novartis Campus.

Auf eu­ro­päi­scher Ebe­ne agie­ren

Die Mitarbeitenden des Teams und insbesondere Moulin wussten, dass für das gesamte Gebiet der Pathologie noch viel mehr möglich wäre, wenn sie ähnliche Ansätze auf noch grössere Datensätze anwenden könnten. Daher stellte Moulin seine Ideen der Innovative Medicines Initiative (IMI) vor. Dabei handelt es sich um eines der Vorzeigeprojekte der Gesundheitsforschung von Horizon 2020, der weltweit grössten Einrichtung für öffentlich-private Partnerschaften im Bereich Life Sciences.

Das Projekt von Moulin wurde von der IMI und dem Europäischen Verband der Pharmazeutischen Industrie und ihren Einzelverbänden unterstützt. Dies förderte den Start von Bigpicture, einem Programm zur Bildung des grössten digitalen Archivs für Pathologiepräparate in Europa – drei Millionen Bilder – und ermöglichte es, die Tools für die Integration von KI und Machine Learning in diesem Bereich zu schaffen.

45 Partner aus 15 europäischen Ländern haben sich dem Projekt Bigpicture angeschlossen, das im Februar 2021 offiziell lanciert wurde. Zu den teilnehmenden Partnern zählen KI-Experten, Biobanken, Universitäten, Krankenhäuser und Unternehmen jedweder Grössenordnung. Das Projekt wurde mit fast 70 Millionen Euro gefördert – etwa zur Hälfte von der Europäischen Kommission und zur Hälfte von den zehn beteiligten Pharmaunternehmen, darunter Novartis.

Nach ihrer Fertigstellung wird die daraus resultierende Bigpicture-Plattform eine gemeinsam nutzbare globale Ressource von noch nie da gewe­senem Umfang darstellen. Sie wird auch Schulungsmaterialien und Tools für KI-Entwickler, Pharmaforscher und Pathologen für die nächsten Jahre enthalten.

Die Bausteine zusammensetzen

Im Jahr 2021 trat Julie Boisclair, Director of Digital and Computational Pathology bei Novartis, die Nachfolge von Pierre Moulin an, der das Unternehmen verliess. Sie ist jetzt eines der vier Mitglieder des Bigpicture-Führungsteams, das die Koordination und ihre Organisation überwacht. Neben dem Team von Boisclair gibt es fünf weitere Bigpicture-Arbeitsgruppen, die jeweils für einen der Bausteine des Programms zuständig sind.

«Uns war klar, dass wir Grosses erreichen können, wenn wir eng mit den führenden Experten und den führenden Universitäten kooperieren und die enormen Ressourcen gemeinsam nutzen, die im Hochschulbereich, in öffentlichen Einrichtungen sowie in kleinen und grossen Unternehmen vorhanden sind», so Julie Boisclair. «Viele haben mir gesagt, dass dies eines der ehrgeizigsten IMI-Projekte sei, die es je gab. Wir sind der Ansicht, dass dieses Projekt die Pathologie revolutionieren wird.»

Ein wesentlicher erster Schritt war die Schaffung der Infrastruktur und der Datenbank für die sichere Übertragung und das Hosting der digitalen Bilder der Präparate. Das Team rechnet mit einem Speicherkapazitätsbedarf von 4,5 Petabyte, also etwa 4,5 Millionen Gigabyte. Ein Grossteil dieses Rahmens wurde bereits im ersten Jahr des Projekts in Vorbereitung auf den Erhalt der Präparate eingerichtet.

Die Entwicklung von Tools zum Hochladen, Betrachten, Befunden, Analysieren sowie für das Mining und das Herunterladen der Präparatbilder sind weitere nötige Vorbereitungsschritte. Holger Höfling, Associate Director Data Science und eines der Kernmitglieder der ursprünglichen Arbeitsgruppe von Moulin, gehört dem Führungsteam an, das für diese Arbeit verantwortlich ist. Als Ausgangspunkt diente eine Open-Source-Anzeigesoftware, die jedoch in vielerlei Hinsicht an die Bedürfnisse des Projekts angepasst werden muss.

«Die endgültige Web-Schnittstelle wird eine sehr dynamische Plattform sein», so Höfling. «Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Bilder bequem vergrössern und verkleinern lassen und dass sich die Kommentare und Befunde einblenden lassen und korrekt angezeigt werden. Natürlich muss die Plattform auch in der Lage sein, die drei Millionen Präparatbilder relativ schnell und einfach bereitzustellen, damit die Nutzer genau das auswählen und verwenden können, was sie benötigen.»

Am wichtigsten ist wohl, dass die Software den Nutzern auch die Möglichkeit bietet, Machine-Learning-Algorithmen auszuführen, um Ergebnisse wie die Identifizierung von Läsionen oder Anzeichen von Toxizität anzuzeigen.

«Eine Idee ist, dass Algorithmen alle Bereiche hervorheben könnten, die von normalem Gewebe abweichen, oder dass KI die Befundung der Bilder erleichtern könnte, indem sie präzise prognostiziert, welche Teile eines Bilds der Benutzer zu beschreiben beabsichtigt», so Höfling weiter.

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Klassische Proben aus der Pathologie, bevor sie in dünne Scheiben geschnitten und digitalisiert werden.

Drei Mil­lio­nen und noch mehr

Die Sammlung der drei Millionen digitalen Präparatbilder soll Ende 2022 beginnen. Zwei Millionen davon werden präklinische Präparate sein, die von den Partner-Pharmaunternehmen bereitgestellt werden (präklinische Studien sind entscheidend für die Bestimmung der Toxizität von Wirkstoffkandidaten). Auf der klinischen Seite werden die teilnehmenden Universitätskliniken die übrige Million an Präparaten beisteuern – die bisher grösste Sammlung klinischer Präparate. Die Präparate werden ausserdem ein breites Spektrum von Krankheiten sowie ein nahezu vollständiges Spektrum aller Krebserkrankungen abdecken.

Zu gewährleisten, dass das Archiv sicher und ethisch einwandfrei ist und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) entspricht, hat für Bigpicture ebenfalls hohe Priorität. Spezielle Teams sind dafür zuständig, die notwendigen Vorsichtsmassnahmen zu treffen und den rechtlichen Rahmen festzulegen. Die Plattform wird strengste Massnahmen zum Schutz der Anonymität der Patientinnen und Patienten sowie aller geschützten Daten beinhalten.

«Die Cybersicherheit ist für unsere Bemühungen von entscheidender Bedeutung, damit wir sicherstellen können, dass nur befugte Personen mit zulässigen Absichten Zugang zu den Bildern haben», so Boisclair. «Eine der grössten Hürden wird es sein, den Gesundheitsbehörden und Pharmaunternehmen zu versichern, dass die Bilder sorgfältig geschützt werden und dass weder geistiges Eigentum noch personenbezogene Daten enthalten sind.»

Der letzte Teil des Projekts besteht darin, sicherzustellen, dass die neue Plattform zu einer dauerhaften, nachhaltigen Ressource für die Zukunft wird. Mit Bigpicture soll eine gemeinschaftliche Plattform geschaffen werden, die in den kommenden Jahrzehnten weiterwächst und Trainingsdaten für KI-Pathologie-Tools liefert. Zu diesem Zweck wird das Team die Anforderungen aller potenziellen Teilnehmer und Nutzer umfassend analysieren und auf dieser Grundlage ein Geschäftsmodell für das weitere Wachstum und den Betrieb von Bigpicture entwickeln.

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Das Pathologieteam von NIBR (von links nach rechts): Aline Piequet, Geraldine Greiner, Esther Erard, Julie Boisclair, Holger Höfling und Magali Jivkov..

Rich­ti­ge Denk­wei­se

«Bigpicture ist eigentlich das Erbe von Pathology 2.0», so Höfling. «Das Projekt entstand aus der Idee, dass wir viel mehr Daten benötigen, um aussagekräftige, nützliche Algorithmen zu entwickeln, und dass niemand – weder Novartis noch Hochschulen oder KI-Start-ups – Zugang zu genügend Daten hatte, um Modelle zu erstellen, die den Einsatz von KI in der Pathologie verändern und beschleunigen könnten.»

Seit der Gründung der Genesis Labs hat die Initiative 500 Vorschläge angestossen, von denen fünfzehn Finanzmittel erhielten. Dies ist das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit von über 5000 Mitarbeitenden. Zusätzlich zu Bigpicture haben diese Projekte zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Patenten geführt; fast die Hälfte der Projekte wurde zu laufenden Projekten innerhalb des Unternehmens.

«Es ist höchst erfreulich, wie die Genesis-Labs-Initiative aufkeimende Ideen wie Pathology 2.0 aufgreift und weiterentwickelt, nicht nur für Novartis, sondern auch für den Bereich der Biomedizin im Allgemeinen», so Ian Hunt. «Als wir Genesis Labs ins Leben riefen, wollten wir unbedingt die funktionsübergreifende Zusammenarbeit unterstützen. Dies bei Pathology 2.0 zu beobachten, einem der ersten Projekte von Genesis Labs, war wunderbar. Es war erstaunlich, was dieses Team erreicht hat, nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch, wie es interne und externe Netzwerke genutzt hat, um seine Idee zu skalieren – mit wahrhaft unternehmerischer Denkweise.»

Das ultimative Ziel, Patienten zu helfen, steht auch im Mittelpunkt von Bigpicture und vielen anderen Projekten von Genesis Labs. Es kann noch Jahre dauern, bis diese Innovationen die klinische Praxis erreichen. Doch die Teammitglieder sind zuversichtlich, mit ihrem Einsatz den Grundstein dafür zu legen, dass Patienten schneller präzisere Diagnosen erhalten und damit neue Instrumente und Ressourcen für die Arzneimittelforschung zur Verfügung stehen.

«Aus unserer Sicht besitzt Bigpicture grosses Potenzial, die wissenschaftliche Forschung zu fördern, toxikologische Untersuchungen und Diagnosen zu verbessern und die Entwicklung von Arzneimitteln zu beschleunigen, denn derzeit sind die pathologischen Befunde ein Schritt, der diesen Prozess hemmt», so Boisclair. «Es wird einige Zeit dauern, bis die Tools validiert und von den Behörden zugelassen werden, doch letztlich könnte dieses Projekt echte Vorteile bieten, wenn es darum geht, den Patienten Medikamente schneller zugänglich zu machen.»

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