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Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie Anfang 2020 war ein entscheidender Wendepunkt im Leben von Terris King, da die Krise seine Arbeit als religiöser Führer mit seiner Rolle als Führungskraft im Gesundheitswesen verband und ihm die Möglichkeit gab, Ideen, die er seit Jahrzehnten entwickelt hatte, in die Tat umzusetzen.
Kings Handeln während der Pandemie half nicht nur der afroamerikanischen Gemeinde in der Stadt Baltimore, wo er seit mehr als 30 Jahren predigt. Sein Engagement brachte auch eine deutliche Veränderung für Afroamerikaner und andere Minderheiten anderswo in den gesamten Vereinigten Staaten, die zu Beginn der Pandemie am stärksten vom Virus betroffen waren.
Heute stellt King, der auch Gründer und Geschäftsführer der King Enterprise Group ist, seine Erfahrung für «Engage with Heart» zur Verfügung. Die King Enterprise Group hat sich zum Ziel gesetzt, die Zugangslücke für gefährdete Gemeinschaften im Gesundheitsbereich zu schliessen und Verbindungen mit externen Partnern zu schaffen, während “Engage with Heart”, das von der in New York ansässigen Denkfabrik Global Coalition on Aging geleitet und von Novartis gesponsert wird, auf die Verbesserung der Herzgesundheit in Baltimore abzielt.
«Engage with Heart» könnte auch als Vorbild für andere amerikanische Städte dienen, die mit hohen Todesraten durch Schlaganfälle, Herzinfarkte und andere Herzkrankheiten zu kämpfen haben und nach neuen Wegen suchen, um den Gesundheitsbedürfnissen einer Gesellschaft gerecht zu werden, in der ein erheblicher Teil der Bevölkerung bald 60-jährig und älter sein wird.
Der Schlüssel zur Überwindung der gegenwärtigen Gesundheitskrise für Afroamerikaner, aber möglicherweise auch für andere Gemeinschaften, die um den Zugang zur Gesundheitsversorgung kämpfen, liegt darin, sich die Macht der Kirche als Zentrum des Vertrauens zunutze zu machen, sagte King dem live-Magazin in einem längeren Interview Anfang Januar, bevor wir ihn in Baltimore trafen.
«Keine Institution sticht die Kirche aus», sagte King in Bezug auf die Gesundheitsversorgung von Minderheiten und unterversorgten Gemeinschaften. «Niemand kann so viele Menschen versammeln und hat eine ähnliche Reichweite. Und warum? Weil wir bereits eine Geschichte haben, die mit unseren Gemeindemitgliedern und der Gemeinschaft verbunden ist.
Für King, der seit 2008 Pastor der Liberty Grace Church in Baltimore ist und auf eine fast 30-jährige Karriere im Gesundheitswesen zurückblickt, besteht die Lösung darin, die Strenge der Wissenschaft mit der Vernetzungskapazität der Kirche zu verbinden, die für King nicht nur ein Ort der Religion ist, sondern auch ein Ort, an dem sich die Gemeinschaft zusammenschliesst und Meinungen austauscht – ähnlich wie die Agora im antiken Griechenland.
«Wenn wir die Türen unserer Kirchen in der ganzen Stadt öffnen, spielt es keine Rolle, welche religiösen Überzeugungen Sie haben. Wir versuchen nur, Sie am Leben zu erhalten. Und die Gemeinde weiss das», erklärt King. «Die Kirche war schon immer das Fundament unserer Gemeinschaft. Aussenstehende übersehen und unterschätzen die Arbeit der Kirchen oft nur deshalb, weil sie so wenig über unsere Welt wissen.»
Die Bedeutung der Kirche im Gesundheitswesen, insbesondere für Minderheitengemeinschaften, wird unter Forschern immer deutlicher. In den letzten zehn Jahren haben sie aussagekräftige Daten gesammelt, die die positive Rolle glaubensbasierter Organisationen für die Gesundheitsversorgung ihrer Mitglieder belegen.
Eine Reihe von Artikeln in der März-Ausgabe 2019 des American Journal of Public Health verweist auf eine Fülle wissenschaftlicher Daten über die positive Rolle glaubensbasierter Organisationen und hebt die Black Church für ihre Fähigkeit hervor, «das Engagement in der Gemeinschaft zu erleichtern». Ausserdem wurde festgestellt, dass die Black Church «durch gemeindeweite Förderung das Gesundheitswissen, das Ernährungs- und Bewegungsverhalten und die allgemeine kardiovaskuläre Gesundheit wirksam verbessert hat.»
Ein entscheidender Moment, der die Bedeutung von Glaubensgemeinschaften und der Black Church im Besonderen unterstrich, war die Pandemie, als in den ersten Monaten des Ausbruchs des Coronavirus in der afroamerikanischen Gemeinschaft die höchsten Todesraten des Landes verzeichnet wurden. Damals starben fast 40 von 10 000 Menschen an den Folgen des Coronavirus, doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt.
Der Grund für die hohe Zahl der Todesfälle ging nicht nur darauf zurück, dass die schwarze Gemeinschaft keinen Zugang zu einer stabilen Gesundheitsversorgung hatte, sondern lag auch darin, dass ein grosses Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem und den damit verbundenen politischen Institutionen herrschte, was viele Afroamerikaner dazu veranlasste, die vom medizinischen Establishment vorgeschlagenen Massnahmen zu meiden.
«Das Misstrauen, das Afroamerikaner gegenüber dem Gesundheitssystem in den Vereinigten Staaten von Amerika hegen, ist zu einem grossen Teil gerechtfertigt», erklärt King. «Das liegt daran, dass es eine ganze Reihe von Problemen gibt, denen Afroamerikaner sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart begegnet sind und die eine ungleiche Behandlung belegen.»
King verweist nicht nur auf offene Medizinskandale wie das berüchtigte Tuskegee-Experiment, bei dem über einen Zeitraum von fast 40 Jahren etwa 400 schwarze Männer auf die Auswirkungen einer unbehandelten Syphilis untersucht wurden. Er wies auch auf die jahrzehntelange systematische Ausgrenzung von Afroamerikanern beim Zugang zur Gesundheitsversorgung hin, die bei vielen zu einer tiefen Abneigung gegen medizinische Autoritäten führte.
King ist sich dieser Diskrepanzen nicht nur wegen seiner Arbeit als Pfarrer bewusst, sondern vor allem durch seine frühere Tätigkeit als leitender Angestellter im amerikanischen Gesundheitsministerium. Im Rahmen seiner Arbeit, bei der er auch das Office of Minority Health für die Centers of Medicare & Medicaid Services gründete, lernte er, wie man religiöse Einrichtungen zur Förderung der Gesundheitsversorgung und des Medikamentenzugangs einsetzen kann.
Diese Erkenntnis war während der Pandemie entscheidend, als King zusammen mit anderen Führungspersönlichkeiten darauf hinwirkte, religiöse Organisationen als Informations-, Aufklärungs- und Impfstellen zu positionieren, und so dazu beitrug, die Zahl der Todesfälle unter Afroamerikanern und anderen Minderheiten deutlich zu senken. «Einer der Hauptgründe für diesen Erfolg war, dass führende Persönlichkeiten der Gemeinde unseren Leuten sagten: ‹Lasst euch impfen›», so King. «Und genau das habe ich getan. Ich habe mit Imamen, mit Rabbinern, Bischöfen und Pfarrern zusammengearbeitet.»
Was sich während der globalen Gesundheitskrise als erfolgreich erwiesen hat, könnte nun auch ein Segen für die Herzgesundheit sein. Im Rahmen von «Engage with Heart» arbeitet King mit anderen Kirchen, Gemeindezentren und weiteren Partnern wie dem Black Food Security Network und Johns Hopkins zusammen, einem der führenden Spitäler in den Vereinigten Staaten, um die Herzgesundheit zu verbessern und eine der tödlichsten und teuersten Krankheiten in allen Bevölkerungsgruppen zu bekämpfen.
Ziel ist es nicht nur, die Herzgesundheit schwarzer Gemeinden in Baltimore durch strenge Überwachung, Gesundheitserziehung und Programme für eine gesunde Lebensweise zu stärken, zu denen unter anderem externe Referenten, Ernährungsberater, Köche und afroamerikanische Bauern beitragen. «Engage with Heart» hat auch das Potenzial, erheblich zu wachsen, wenn sich Regulierungsbehörden und Versicherer davon überzeugen lassen, dass das Modell nachhaltig werden und an anderen Orten replizierbar sein kann.
Für King wäre dies ein Beweis dafür, dass Kirchen nicht nur als Zentren des Glaubens fungieren können, sondern auch in der Lage sind, dauerhafte Bindungen über die Religion hinaus zu schaffen.
Pastor King, wie kam es zur Gründung von «Engage with Heart» in Baltimore?
Für die Afroamerikaner erreichte die Gesundheitskrise in den ersten Tagen der Coronavirus-Pandemie ihren Höhepunkt, als die Todesrate in der schwarzen Gemeinschaft unter allen Rassengruppen am höchsten war. Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich führende Persönlichkeiten aus Kirche, Gesellschaft und Politik zusammen und begannen, die Werbetrommel zu rühren, um über das Netz der Kirchen Informationen, Hilfe und Impfstoffe an die Menschen zu bringen. In Baltimore kamen 300 religiöse Führer zusammen, und ich konnte mit meinesgleichen im ganzen Land Kontakt aufnehmen, um ihre regionalen Bemühungen zu unterstützen und sie von der Machbarkeit des Modells zu überzeugen. Unser Erfolg, unser Engagement und unsere Bereitschaft, die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen zu verbessern, ebneten den Weg für unsere Zusammenarbeit mit Novartis und der Global Coalition on Aging zum Start von «Engage with Heart» in Baltimore.
Was erwarten Sie von dem Programm?
Für mich ist es eine grossartige Gelegenheit, einmal mehr zu zeigen, dass die Kirche eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Gesundheitsversorgung spielen kann, insbesondere für Minderheiten und unterversorgte Gemeinschaften. Dabei geht es weniger um den religiösen Einfluss der Kirche als vielmehr um ihre Funktion als Ort des Vertrauens und der Begegnung. Wenn es uns gelingt, die Menschen zu beobachten, aufzuklären und ihnen eine gesunde Lebensweise zu vermitteln, können wir dazu beitragen, ihre Gesundheit insgesamt zu verbessern, das Gesundheitssystem zu entlasten und Kosten für die Gemeinschaft zu sparen.
Wie hat sich das Programm bisher entwickelt?
Wir haben erst vor einigen Monaten begonnen, es ist also noch etwas früh, um ein Fazit zu ziehen. Aber die ersten Zahlen zeigen, dass wir bereits einen messbaren Effekt haben. Das ist besonders wichtig, da wir wollen, dass unser Modell nachhaltig wird und möglicherweise auch in anderen Gemeinden zum Einsatz kommt.
Können Sie mehr über das Modell und seine mögliche Nachhaltigkeit sagen?
Das Programm wird bisher von Dritten wie Novartis gesponsert. Dadurch können wir mit spezialisierten Krankenschwestern von Johns Hopkins zusammenarbeiten und die Arbeit unserer Gesundheitsbotschafter finanzieren, die den Gemeindemitgliedern bei der Überwachung / beim Management ihrer Gesundheit helfen. Wenn wir nachweisen können, dass ihre Arbeit einen messbaren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Effekt hat, hoffen wir, dass sowohl die Versicherer als auch die Regierung unsere Bemühungen finanzieren werden, was sie insgesamt von zusätzlichen Kosten entlasten würde.
Glauben Sie, dass Sie die Kosten für das Gesundheitssystem senken können?
Auf jeden Fall. Wir haben die Unterstützung unseres Senators, des Gouverneurs von Maryland und des Bürgermeisters von Baltimore, die davon überzeugt sind, dass «Engage with Heart» in den Gemeinden etwas bewirken kann, wie wir während der Pandemie gezeigt haben. Diese politische Unterstützung ist wichtig und dürfte ausschlaggebend sein, wenn wir nachweisen können, dass unsere Bemühungen zur Verbesserung der Herzgesundheit in Baltimore beitragen und dem Gesundheitssystem Kosten ersparen. Ein weiterer Faktor ist, dass alle Partner, einschliesslich unserer Sponsoren, bereit sind, die Macht zu teilen.
Können Sie den Ansatz der Machtteilung näher erläutern?
Die Teilung der Macht ist wirklich der Kern dessen, was hier vor sich geht. Wenn eine Organisation von ausserhalb unserer Gemeinschaft käme und uns sagen würde, was wir zu tun haben, und wir unsere Werte aufgeben müssten, um Gelder zu bekommen, würde das wahrscheinlich nicht funktionieren. Als Teil von «Engage with Heart» wachsen wir als Partner zusammen. Wir lernen voneinander und finden gemeinsam Lösungen.
Warum ist es besser, die Macht zu teilen, statt nur finanzielle Unterstützung von einer Expertenorganisation zu erhalten?
Ich bin mir bewusst, dass es nicht einfach ist, Macht zu teilen, schliesslich stand ich als Bundesbeamter auf der anderen Seite. Ich war derjenige, der über ein 4-Milliarden-Dollar-Budget verfügte, der in die Gemeinden ging und versuchte, sie dazu zu bringen, das zu tun, was unsere Präsidenten von ihnen wollten. Aber das hat längst nicht immer funktioniert, vor allem deshalb nicht, weil solche Programme den Faktor Vertrauen überschatten, der für das Funktionieren eines Programms notwendig ist.
Warum ist Vertrauen Ihrer Meinung nach ein so wichtiges Element?
Wenn man seine Partner nicht einbezieht und nicht darauf hinarbeitet, Vertrauen zu schaffen, wird es nicht funktionieren. Denn die Gemeinschaft wird das Programm nicht annehmen. Ausserdem ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Absichten der Verantwortlichen in der Gemeinde und der externen Organisation übereinstimmen, was in traditionellen Einrichtungen nicht immer der Fall ist. Im Rahmen von «Engage with Heart» gehen alle Partner Kompromisse ein, um ein Ziel zu erreichen, und die Hauptsponsoren überlassen der Gemeinde die Führung. Das ist erfrischend und völlig neu, so etwas gab es noch nie. Normalerweise kommt ein paternalistischer Ansatz zum Zug, bei dem ein Retter auf einem weissen Pferd herbeigeritten kommt. Und das ist nicht das, was die afroamerikanische Gemeinschaft braucht, um ihre Gesundheit zu verbessern.
Ist das Teilen der Macht ein Grund dafür, dass sich auch Institutionen wie das Black Church Food Security Network und die Johns Hopkins School of Nursing dem Projekt angeschlossen haben?
Ich glaube fest daran. Durch diese Zusammenarbeit können wir das Fachwissen aller Beteiligten an einen Tisch bringen und auf eine Lösung hinarbeiten, die alle wichtigen Interessengruppen einbezieht. Wie ich bereits sagte, einfach ist es nicht – und jeder ist sich dessen bewusst –, aber ich bin davon überzeugt, dass dies der einzige Weg ist, um die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen zu bewältigen.
«Engage with Heart» hat noch eine weitere Bedeutung für Sie. Es geht nicht nur um Herzgesundheit, sondern auch um die Art und Weise, wie sich die Partner in der Gemeinschaft engagieren. Können Sie auch hierüber sprechen?
Für mich persönlich ist «Engage with Heart» nicht bloss eine gute Gelegenheit, die während der Pandemie begonnene Arbeit fortzusetzen und mein Versprechen an die Gemeinde einzulösen, also zurückzukommen und sie bei den massiven Gesundheitsproblemen zu unterstützen, vor denen sie steht. Es geht auch um die Art und Weise, wie die Pflege durchgeführt wird, nämlich mit Verständnis und Einfühlungsvermögen. «Engage with Heart» setzt denn auch bei der Organisation der Pflege an und wie sie anderen Prioritäten der Gemeinde gerecht wird.