Dies gilt auch für das Kryo-EM, bei dem Novartis mit dem FMI kooperiert, das ebenfalls enge Verbindungen zur universitären Forschung unterhält. Darüber hinaus eröffnet die Technologie neue Möglichkeiten für die Protein- und Arzneimittelforschung, die herkömmliche Bildgebungsverfahren nicht bieten können. «Das Kryo-EM ist ein aufsteigender Stern unter den strukturbiologischen Methoden, denn es öffnet die Türen zu vielen grösseren Zielmolekülen und Proteinkomplexen, die sich nicht kristallisieren lassen und daher unerreichbar waren», so Wiesmann.
Da beim Kryo-EM ein Elektronenstrahl verwendet wird, um Bilder biologischer Moleküle zu erzeugen, die in einer dünnen Eisschicht eingefroren sind, gibt es praktisch keine Grössenbegrenzung nach oben. Die Technologie hat sich langsam entwickelt, erlebte aber 2013 eine Revolution, als Hardware-Verbesserungen es ermöglichten, dass die mit dem Kryo-EM erreichte Auflösung mit derjenigen der Kristallographie konkurrieren konnte. Seitdem hat sich die Zahl der durch Kryo-EM erzeugten Strukturen alle zwei Jahre verdoppelt. 2020, nicht einmal zehn Jahre nach diesem revolutionären Auflösungserfolg, wurden mehr als 20 Prozent der neuen Proteinstrukturen mithilfe von Kryo-EM bestimmt.
«Prognosen weisen darauf hin, dass das Kryo-EM in vier Jahren die dominierende Methode in der Strukturbiologie sein wird», gibt Wiesmann zu verstehen. «Es ist erstaunlich, wie schnell diese Methode die Strukturbiologie verändert hat und wie tiefgreifend sie sich bereits auf unsere Anstrengungen in der Medikamentenentwicklung auswirkt.»
Abgesehen von hochmolekularen Proteinen besteht ein weiterer Vorteil des Kryo-EM darin, dass die Forscherinnen und Forscher nun Proteingruppen gemeinsam betrachten können, was in der Vergangenheit nahezu unmöglich war. Proteine agieren häufig in Koordination mit anderen Proteinen. Mit dem Kryo-EM gelangen einige der ersten Aufnahmen davon, wie diese Proteine miteinander interagieren.
Das Team hat bereits Strukturen bisher unzugänglicher Zielmoleküle für Wirkstoffe gegen Krebs- und Immunkrankheiten erfasst. Bei einem seiner Zielmoleküle, dem Proteasom, handelt es sich um eine Gruppe von Proteinen, welche die Zelle von anderen, unerwünschten Proteinen befreit. Das Proteasom ist auch ein potenzielles Zielmolekül für einen Wirkstoff gegen verschiedene parasitäre Krankheiten wie Leishmaniose. Diese entstellende und potenziell tödliche Krankheit fordert jährlich bis zu 30 000 Todesopfer. Mithilfe des Kryo-EM konnte das Team bereits einen neuen Wirkstoff identifizieren und sichtbar machen, der den Parasiten durch Bindung an das Proteasom tötet.
Wiesmann, Jacob und ihre Kolleginnen und Kollegen bleiben bei diesen Errungenschaften allerdings nicht stehen und halten weiter Ausschau nach neuen Grenzen. Neben den jüngsten Fortschritten gibt es noch weitere Methoden, die Wiesmanns und Jacobs Herz höherschlagen lassen – Methoden, mit denen sie Proteine in Aktion sehen können. «Bei der Entwicklung von Medikamenten spielen alle diese Techniken zusammen und liefern einander ergänzende Informationen», erklärt Jacob. «Ein weiterer echter Durchbruch für uns werden Methoden sein, mit denen man tatsächlich sehen kann, was mit einem Protein in der Zelle passiert. Diese Werkzeuge dürften bereits in naher Zukunft für uns nutzbar sein.»
Angesichts der Entschlossenheit von Novartis, Innovationen weiter voranzutreiben, sind neue Erkenntnisse zu erwarten, sobald die Forscherinnen und Forscher ein klareres Bild von den kleinsten Strukturen der Natur erhalten.
