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Forscher testen oft Millionen von Verbindungen, bevor sie welche finden, die mit einem Ziel interagieren. Die Entdeckung dieser begehrten molekularen Strukturen, die in Fachkreisen auch als «Hits» bezeichnet werden, ist komplex und ressourcenintensiv. Es ist einer der ersten von vielen Schritten im komplexen pharmazeutischen Forschungs- und Entwicklungsprozess.
Hits sind Ausgangspunkte, die Forscherteams Hinweise darauf geben, wie es weitergehen soll. Es handelt sich beispielsweise um eine grobe Vorstellung von der richtigen Form, die das Wirkstoffmolekül aufweisen muss. Davon ausgehend verfügen Chemiker über Tausende von chemischen Bausteinen, die sie ein- und austauschen können, um die Eigenschaften des Moleküls zu verändern, bis sie schliesslich einen Wirkstoffkandidaten entwickelt haben, den sie in klinischen Studien testen können.
«Es ist ein bisschen wie das Bauen mit Legosteinen», so Pascal Furet, Experte für molekulare Modellierung. «Wir haben einen Satz chemischer Bausteine, mit denen wir die Aktivität des Hits und auch das Verhalten des Wirkstoffmoleküls in einer Zelle oder im Körper verbessern können.»
Mit jeweils fast 30 Jahren Erfahrung sind Joseph Schoepfer und Pascal Furet beide Experten für diese Phase der Arzneimittelforschung. Schoepfer leitet ein Team von Medizinalchemikern, die Hunderte neuer Moleküle – Variationen eines Treffers – synthetisieren, um die chemischen Eigenschaften zu identifizieren, die einem Wirkstoffkandidaten optimale biologische Eigenschaften verleihen. Furet ergänzt Schoepfers medizinalchemische Teamarbeit mit computergestützten Prognosen und Empfehlungen zur Priorisierung der zu synthetisierenden Moleküle.
Diese enge Zusammenarbeit von Medizinalchemie und computergestützten Methoden ist ein Eckpfeiler der sogenannten strukturbasierten Wirkstoffentwicklung, die in den 1980er-Jahren aufkam. Viele Krankheiten lassen sich auf fehlerhafte Proteine zurückführen. Strukturbasierte Strategien nutzen Proteinstrukturen, um Wirkstoffe herzustellen, die exakt in die Bindungstaschen der Proteinwirkstoff-Targets passen.
Die richtigen Eigenschaften
In der Frühphase des Wirkstoffscreenings werden häufig biochemische Assays verwendet, also Tests unter vereinfachten Bedingungen, anhand derer gemessen wird, ob bestimmte Moleküle ein Protein-Target hemmen. Diese Tests sind in den frühen, explorativen Phasen der Arzneimittelforschung vorteilhaft, weil sie auf schnelle und relativ kostengünstige Weise klare Antworten darüber liefern, wie ein Wirkstoffmolekül und ein Protein interagieren, wenn sie in einer isolierten Umgebung zusammenkommen.
Im menschlichen Körper allerdings interagieren Wirkstoffe leider nicht isoliert mit ihren Targets. Sie müssen komplett ausgestattet sein, um in Zellen und lebenden Organismen funktionieren zu können – Umgebungen, die wechselnden Bedingungen unterliegen und in denen tausende anderer Proteine und biologischer Stoffe vorhanden sind. Arzneimittelforscher müssen auch auf das komplexe Gleichgewicht zwischen der Maximierung der gewünschten Aktivität eines Medikaments und der Minimierung jeglicher Toxizität sowie auf Sicherheitsbedenken achten.
Die Anpassung der Hits in Bezug auf diese Herausforderungen ist das Spezialgebiet der Medizinalchemiker.
«Mit einem Molekül, das in biochemischen und zellulären Assays aktiv war, aber noch keine optimalen pharmakologischen Eigenschaften aufwies, waren Jahnke und Marzinzik massgeblich an der Vorbereitung der Grundlagen beteiligt», so Schoepfer. «Zu diesem Zeitpunkt haben wir dann die Optimierung und Entwicklung des Wirkstoffs auf dem Weg zum Medikament übernommen.»
Die richtige Molekülform zu finden, gleicht einer Kunst, denn Chemikern stehen viele Möglichkeiten zur Auswahl. Mathematik, Erfahrung und intensive Laborarbeit sind für diese Arbeit entscheidend.
Die Medizinalchemie ist bereits über hundert Jahre alt. Die Herausforderung der Medizinalchemiker besteht darin, aus Hits Wirkstoffe zu machen. Sie haben Tausende von chemischen Variationen und Bausteinen auf Lager sowie beträchtliches Wissen über die Wirkung, die diese Bausteine auf den menschlichen Körper haben können.
Chemiker schätzen, dass es etwa 10⁶⁰ potenziell wirkstoffähnliche Molekülstrukturen gibt, die sich theoretisch herstellen lassen. Das sind mehr Molekülstrukturen als die Anzahl aller Atome im Sonnensystem. Die Zahl der molekularen Möglichkeiten ist um ein Vielfaches grösser als die Zeit und die Ressourcen der Chemiker für deren Herstellung – ein Dilemma, das durch computergestützte Strategien gelöst werden kann.
Geleitet von der Physik
«Mithilfe der molekularen Modellierung und der Gesetze der Physik vermögen wir zumindest theoretisch zu berechnen, wie gut bestimmte Moleküle mit der Proteinbindung interagieren», erläutert Furet. «So können wir die vorteilhaftesten molekularen Veränderungen voraussagen und priorisieren, welche Moleküle wir als Nächstes synthetisieren und im Labor testen wollen.»
Dazu ist nicht zuletzt eine enge Zusammenarbeit mit den Kollegen aus der Medizinalchemie erforderlich. «Dies ist ein sehr interaktiver Prozess mit Input von beiden Seiten», so Schoepfer. Was das Projekt betrifft, an dem sie gemeinsam arbeiteten, weist Schoepfer auf den regen Austausch hin: «Wir trafen uns regelmässig, um uns die Strukturen anzusehen und zu besprechen, wie wir die Verbindungen weiter verbessern können.»



Ein Computermodell eines Proteins. Der Trick besteht darin, eine Stelle zu finden, an der ein Molekül in die Struktur eingreifen kann, um einen Krankheitsweg zu blockieren.
Joseph Schoepfer: Chemie ist eine Wissenschaft mit Köpfchen und Handarbeit.
Pascal Furet: Die Entwicklung von Arzneimitteln beruht auch auf der Physik.
Auf der computergestützten Seite liefert die Modellierung Erkenntnisse über wesentlich mehr Moleküle, als die Chemiker jemals herstellen könnten. Der Prozess rationalisiert, indem die am wenigsten aussichtsreichen Moleküle ausgeschlossen werden. Gleichzeitig gibt es aber noch viele Moleküle, die die Chemie noch gar nicht synthetisieren kann. Die Chemiker bringen wesentliches Wissen darüber mit, was im Labor tatsächlich machbar ist.
Dennoch ist die reine Modellierungsstrategie wichtig und kann dazu beitragen, ungewöhnliche Chancen zu erkennen, die sonst möglicherweise verpasst würden. Beispielsweise schlug Furet einen ungewöhnlichen chemischen Baustein vor, der sich als eine der Schlüsselmodifikationen herausstellte, die dazu beitrugen, die Wirksamkeit des endgültigen Wirkstoffmoleküls zu erhöhen.
«Ausgehend von der Physik habe ich den Vorschlag gemacht, ein etwas grösseres Atom zu verwenden, damit die Bindungstasche komplett ausgefüllt wird. Aus der Sicht eines Chemikers wird dieser Baustein bei Medikamenten fast nie verwendet», so Furet.
Video 3-D Proteinstruktur: 3D-Struktur eines therapeutischen Zielproteins, das durch Röntgenkristallographie erhalten wurde.
«Die Teammitarbeiter hätten diese Modifikation nicht in Betracht gezogen, wenn meine Berechnungen nicht gezeigt hätten, dass sie sehr nützlich sein könnte. Nachdem sie sie synthetisiert und getestet hatten, stellte sich heraus, dass eine wesentliche Verbesserung des Wirkstoffs herausgeschaut hatte.»
«Manche Wissenschaftler dieses Fachgebiets sind immer noch erstaunt, dass wir diese chemische Stoffgruppe für den endgültigen Wirkstoff eingesetzt haben – und dass sie so gut wirkt», ergänzt Schoepfer.
Das Kombinationsexperiment
«Dieser Prozess ist immer noch eine Art Kunst», so Furet. «Selbst für Leute mit den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen sind die Wechselwirkungen zwischen einer niedermolekularen Verbindung und einem Protein sehr komplex. Wir sind noch nicht so weit, dass wir alle Möglichkeiten genau vorhersagen können. Immerhin hatten wir am Ende einen sehr potenten Wirkstoffkandidaten.»
Fast zwei Jahre haben Schoepfer, Furet und ihre Kolleginnen und Kollegen den von Jahnke und Marzinzik übergebenen Hit optimiert und dabei mehrere hundert Variationen synthetisiert. Am Ende hatten sie einen Wirkstoffkandidaten geschaffen, der einen der Höhepunkte ihrer Karriere bedeutet. Dieser Wirkstoff könnte dazu beitragen, eine der grössten Herausforderungen in der Onkologie zu meistern.
Seit Jahnke und Marzinzik das Projekt begonnen haben, war es eines der Ziele, eine Kombinationstherapie zu entwickeln, die der Entstehung von Resistenzen vorbeugen kann. Diese zählen zu den grössten Einschränkungen bei der erfolgreichen Behandlung von Krebserkrankungen aller Art.
Ihre Idee war, den neuen Wirkstoff mit den Wirkstoffen früherer Generationen zu kombinieren, die über eine andere Bindungstasche wirken. Die Hypothese war, dass diese zweigleisige Strategie die Resistenz wirksam beseitigen könnte. Als sie die Idee schliesslich im Labor testeten, funktionierte sie besser, als man sich das vorgestellt hatte.
«Als die Biologen uns die präklinischen Daten schickten, waren das wirklich die beeindruckendsten wissenschaftlichen Ergebnisse, die ich in meiner ganzen Laufbahn beobachtet hatte», so Schoepfer. «Als die Patienten die Kombination verwendeten, gab es keine Rückfälle mehr – es war ein echter Durchbruch.»
Seitdem wurde der neue Wirkstoff im Rahmen klinischer Studien sowohl als Einzelsubstanz als auch in Kombination weiterentwickelt. Dabei ergaben sich erste Anzeichen dafür, dass es möglich sein könnte, die Arzneimittelresistenz bei einigen Krebserkrankungen zu beseitigen. «Dieser Wirkstoff ist der erste seiner Art, und er hilft Menschen, die keine anderen Optionen mehr haben», fügt Furet hinzu. «Für einen Arzneimittelforscher ist das wirklich der Erfolg, den man eigentlich anstrebt.»