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Portrait Kaspar Eigenmann, ehemaliger Leiter des Konzernbereichs Gesundheit, Sicherheit und Umwelt von Novartis.

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Frühes Umweltbewusstsein.

Von Schweizerhalle zum Kyoto-Protokoll

Kaspar Eigenmann (84), ehemaliger Leiter des Konzernbereichs Gesundheit, Sicherheit und Umwelt von Novartis, trat 1972 in die damalige Ciba-Geigy ein, baute die erste «Wissenschaftliche Zentralstelle für Sicherheitsfragen» auf, machte die grosse Fusion mit und erlebte mit «Schweizerhalle» den grössten Chemieunfall der Schweiz, der seine Arbeit grundlegend verändern sollte.

Das Interview führte Patrick Tschan — Fotos von Adriano A. Biondo.

Im Jahr 1972 war die Welt noch in einen kommunistischen und einen demokratischen Block geteilt, der Vietnamkrieg tobte, die Watergate-Affäre sollte US-Präsident Nixon zu Fall bringen, der Bericht «Grenzen des Wachstums» des Club of Rome erschien, und Pink Floyd nahmen in den Abbey Road Studios ihr epochales Werk «The Dark Side of the Moon» auf.

Kaspar Eigenmann bewarb sich damals als Doktor der «Physikalischen Chemie» bei Ciba-Geigy und Sandoz in Basel. Ciba-Geigy bot ihm sofort eine Stelle an. Doch «sofort» war Eigenmann ein bisschen zu früh.

Kaspar Eigenmann: Nach der schweren Explosion 1969 im Bau 90 von Ciba wollten die Verantwort­lichen eine «Wissenschaftliche Zentralstelle für Sicherheitsfragen» schaffen. Der Aufbau dieses Labors wäre meine Aufgabe gewesen. Das war das interessanteste Angebot. Ich war begeistert. Aber der Haken war: Ich hatte bereits an einer Universität in den USA eine Stelle zugesichert bekommen. Nach einem naturwissenschaftlich-technischen Studium einen USA-Aufenthalt zu absolvieren, war damals sehr attraktiv. Ciba-Geigy bot mir darauf an, im ersten Jahr für neun Monate meine Ausbildung am Stanford Research Institut zu vertiefen.

Und nach Ihrer Rückkehr beschäftigten Sie sich hauptsächlich mit Explosionen?

Genau genommen hauptsächlich mit der Sicherheit chemischer Reaktionen. Im Nachklang der erwähnten Explosion im Bau 90 hatte sich die Konzernleitung vorgenommen, Sicherheitsfragen mit der gleichen Wissenschaftlichkeit zu erforschen wie die Entwicklung neuer Produkte. Neben «meiner» Wissenschaftlichen Zentralstelle für Sicherheitsfragen (WZS) wurden gleichzeitig die Laboratorien «Elektrostatik» unter der Leitung von Pierre Boschung und später Martin Glor und «Explosionstechnik» unter der Leitung von Wolfgang Bartknecht zum Erforschen der Auslöser und Auswirkungen von Gas- und Staubexplosionen gegründet. Diese entwickelten wie die WZS Massnahmen für die chemische Produktion, mit dem Ziel, solche Ereignisse zu vermeiden oder zu beherrschen.

Die thermische Sicherheit von chemischen Reaktionen war anfänglich Eigenmanns Hauptthema. Die wissenschaftliche Frage war, ob die bei einer chemischen Reaktion entstehende Wärme auch in den grossen Produktionsbehältern abgeführt werden kann, und ob sich eine Zersetzung verhindern lässt.

Haben diese wissenschaftlichen Laboratorien zu einer Verbesserung der Sicherheit geführt?

Für den wirkungsvollen Einsatz der drei neu auf­gebauten Laboratorien war ein weiteres wichtiges Element erforderlich: die Risikoanalyse chemischer Prozesse. Anton Schaerli, damaliger Leiter des Zentralen Sicherheitsdienstes, war ein prägendes Vorbild für mich. Er initiierte die Entwicklung einer systematischen Vorgehensweise, um die Risiken chemischer Prozesse und physikalischer Operationen, wie Trocknen und Mahlen, weitestgehend zu erkennen. Die Methodik der Risikoanalyse wurde im Zusammenspiel erfahrener Produktionschemiker mit den Sicherheitslaboratorien entwickelt und Ende der 1970er-Jahre konzernweit verbindlich vorgeschrieben.

Nach sieben Jahren WZS wurde Eigenmann 1979 in das Farbstoffwerk Toms River in New Jersey, USA, versetzt. Als Produktionschemiker sollte er dort Herausforderungen seiner bisherigen «Kunden» selbst kennenlernen. Vier Jahre später wurde er Nachfolger von Anton Schaerli als konzernweit Verantwortlicher für Sicherheit und Gesundheitsschutz.

Während dieser ersten Phase von Kaspar Eigenmanns Tätigkeit in der Chemie-Sicherheit ereigneten sich weltweit Chemieunglücke, die Schlagzeilen schrieben. In Seveso, Italien, trat 1976 bei einer unkontrollierten Reaktion eine hochgiftige Dioxinwolke aus dem Werk einer Roche-Tochter aus und machte ein dichtbesiedeltes Gebiet von sechs Quadratkilometern unbewohnbar. In Bhopal, Indien, gelangten 1984 aus einer Pestizidfabrik von Union Carbide zwischen 25 und 40 Tonnen Methylisocyanat in die Umwelt. Durch den Kontakt mit dem Gift starben mindestens 3500 Menschen. Und in Schweizerhalle, Schweiz, geriet 1986 eine Lagerhalle von Sandoz in Brand. Mit dem abfliessenden Löschwasser, rund 10 000 bis 15 000 Kubikmeter, gelangten etwa 30 Tonnen Pflanzenschutzmittel in den Rhein, was zu einem grossen Fischsterben führte. Insgesamt wurden infolge der Rauchwolke 1250 Personen mit Atembeschwerden behandelt.

Kaspar Eigenmann: Schweizerhalle hat alles verändert. Während die Betriebe die technischen Sicherheitsstandards bislang weitgehend eigenverantwortlich festgelegt hatten, wurden sie fortan von der Bevölkerung und der Politik diktiert. Dies fand Niederschlag in der damaligen «Störfallverordnung».

Schweizerhalle bewirkte demnach auch Gutes?

Schweizerhalle hat letztlich unglaublich viele posi­tive Entwicklungen angestossen. Die gesamte Sicherheitsphilosophie wurde neu überdacht. Es entstand zum Beispiel der Grundsatz der «doppelten Hülle», dass also alles, was gravierende Folgen haben könnte, doppelt abzusichern sein würde. Ein Resultat davon war der Bau von Rückhaltebecken für unkontrolliert austretende Flüssigkeiten und Gase oder eben Löschwasser. Das waren für alle Chemieunternehmen Millioneninvestitionen.

Aber der Ruf der chemisch-pharmazeutischen Industrie war für lange Zeit beschädigt.

Klar, man gab damals nicht gerne zu, dass man in der «Chemischen» arbeitete. Zumal die Vorwürfe von NGOs wie Greenpeace nur so auf uns einprasselten. Irgendwann setzten wir uns mit ihnen an den Tisch und fanden bei einem hochrangigen Treffen einen Weg, zukünftig kritisch und konstruktiv zusammenzuarbeiten. Dies führte zu diversen gemeinsamen Projekten mit Personen und Organisationen aus der Umweltszene, die mithalfen, den Umweltschutzgedanken in unserer Firmenphilosophie immer fester zu verankern. Dies zeigt sehr gut den tiefgreifenden Wandel durch das «vor» und «nach» Schweizerhalle.

Also änderte sich das Bewusstsein über die Gefahren für die Umwelt nach Schweizerhalle komplett?

Es ist alles ein fortdauernder Prozess. Ganz früher wurden giftige Abfälle bei der Dreirosenbrücke in den Rhein gekippt, ab den 1950er-Jahren hat man sie in Deponien im nahen Elsass vergraben. Man sah darin einen Fortschritt. Doch rasch merkte man, dass dies gefährlich war. So hat man Bonfol mit seiner dicken Lehmschicht als geeignete Deponie angesehen. Man ging davon aus, dass sie sicher sei. Sie wurde mit Sensoren überwacht. Aber auch dies stellte sich später als eine Fehleinschätzung heraus. Heute ist Bonfol saniert. Die gefährlichen Abfälle werden in Sondermüllverbrennungsöfen unschädlich gemacht.

Die Bereiche Umwelttechnologie und -sicherheit wurden Ihnen 1990 zusätzlich unterstellt. Wie hat sich dies auf Ihre Tätigkeit ausgewirkt?

Am meisten verändert hat sich die Kommunikation. Intern stellte sich die Frage, wie bekomme ich als Stabsstelle ohne Befehlsbefugnisse die Verantwortlichen dazu, neue Sicherheitsstandards durchzusetzen? Extern ging es um die Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in unsere Sicherheitsbemühungen. Im ersten Fall galt es alle Beteiligten mit ins Boot zu holen, was wir bei Ciba-Geigy schon seit den 1970er-Jahren lösten mit einer Art Kommission der entsprechenden Verantwortungsträger, die nur einstimmige Beschlüsse zu neuen Bestimmungen fassen durfte.

Zum Thema Öffentlichkeit heisst das Stichwort «Transparenz». Dazu eine kleine Anekdote: Wir veranstalteten nach Schweizerhalle eine Medienkonferenz, bei der wir alle Risikobereiche von Ciba-Geigy in der Region Basel offenlegten. Zum Beispiel: wo hat es Phosgen, wo Chlor, wo dies, wo jenes, und wir warteten am Ende unserer Ausführungen auf gesalzene Fragen der Medienvertreter. Aber es kam keine einzige Frage. Wir waren völlig baff. Schliesslich hakte Alex Krauer nach, ob wirklich keine Frage mehr im Raum stehe. Darauf meldete sich eine Journalistin und meinte, man sei dermassen erschlagen über so viel Offenheit, dass man dies zuerst einmal verdauen müsse.

Im März 1996 fusionierten Ciba-Geigy und Sandoz zu einem der weltweit grössten Chemie- und Pharmakonzerne. Ab diesem Tag änderte sich der Stellenbeschrieb für Kaspar Eigenmann ein weiteres Mal.

Kaspar Eigenmann: Gegen Ende der 1990er-Jahre und einhergehend mit der Globalisierung wurden die Menschenrechtsfragen – Kinderarbeit, Ausbeutung von Frauen, gleicher Standard für alle Zweigniederlassungen usw. - aktuell. Klaus Leisinger entwickelte in der Folge konzernweit verbindliche Richtlinien für die gesellschaftliche Verantwortung der Firma. Als Blaupause dazu diente das in den vergangenen 20 Jahren von uns entwickelte Regelwerk für die Umweltverantwortung.

«Anfang der 2000er-Jahre schritt die Globalisierung in Riesenschritten voran. Was änderte sich da noch für Sie?

Die Energiefrage kam dazu. Dies hatte zur Folge, dass Novartis ihr Selbstverständnis dahingehend änderte, dass sie die Treibhausgas-Emissionen reduzieren wollte, wie wenn sie ein eigenes Land wäre, und auch entsprechend handelte. So kam es dazu, dass die Zielsetzungen des Kyoto-Protokolls (völkerrechtlich verbindliches Abkommen zur Reduzierung der Treibhausgase, 2005) auch für Novartis galt. Wir begannen, den CO2-Ausstoss zu messen, setzten Reduktionsziele. Der damalige CEO Daniel Vasella setzte durch, dass die Zielerreichung im Bereich der Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft sich auch auf die Zusammensetzung der Boni-Entschädigungen auswirkte. Auf Divisionsebene wurde das Erreichen und Nichterreichen der festgelegten Ziele kontrolliert und die bonirelevanten Ziele für das nächste Jahr wurden festgelegt. Das war aus meiner Sicht ein signifikanter Fortschritt für Sicherheit, Umwelt und Menschenrechte!